JULIAN NIDA-RÜMELIN
„Recht auf Auswanderung, kein Recht auf Einwanderung“
Von Marcel Leubecher | welt.de
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin warnt vor zu starker Konzentration unserer Solidaritätsressourcen auf Migranten. Mit einer Summe in Höhe der Flüchtlingsaufnahmekosten könne man etwa den Hunger weltweit ausrotten.
DIE WELT: Herr Professor Nida-Rümelin, Sie sprechen sich aus kosmopolitischen und humanitären Gründen gegen offene Grenzen aus, wie kommen Sie dazu?
Julian Nida-Rümelin: Kosmopoliten halten Grenzen streng genommen für illegitim, weil sie es ablehnen, dass der Geburtsort die Lebenschancen einer Person bestimmt. Sie sagen, wenn jemand sein Leben an einem anderen Ort verbringen möchte, ist es sein gutes Recht, dorthin zu ziehen. Nun sind die meisten Anhänger des Kosmopolitismus nicht so dogmatisch, dass sie die Grenzenlosigkeit von heute auf morgen für realisierbar halten, sie setzen sich aber für möglichst wenig Grenzziehung und Abweisung ein.
Die Gegenposition dazu nehmen in der politischen Philosophie die Kommunitaristen ein, für sie ist der Zusammenhalt durch die Zugehörigkeit der Menschen zu politisch oder kulturell verfassten Gemeinschaften derart zentral, dass das Recht auf globale Freizügigkeit hintanstehen muss. Das aus philosophischer Sicht Besondere meiner Position ist, dass ich gegen offene Grenzen aus einer kosmopolitischen Perspektive argumentiere.
DIE WELT: Welche kosmopolitischen Gründe sprechen für diese Begrenzung der Freiheit?
Nida-Rümelin: Es gibt ein kosmopolitisches Interesse an staatlicher Gestaltung unserer Lebensbedingungen. Wir alle, und mit „wir“ meine ich die Weltgesellschaft, haben ein Interesse, dass Regierungen von ihren jeweiligen Bürgerschaften kontrolliert werden und in der Lage sind, staatliche Solidarstrukturen zu etablieren.
Sozialstaatlichkeit setzt voraus, dass sich die Bürgerschaft auf Regeln verständigt, nach denen Sozialrechte zugewiesen werden, nach denen Steuermittel erhoben und eingesetzt werden, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Das alles setzt die Existenz einer abgegrenzten Bürgerschaft voraus, die die politischen Geschicke ihres Landes gestaltet.
DIE WELT: Dies ist aber auch mit starker Migration möglich.
Nida-Rümelin: Ja, viele Länder profitieren von starker Zuwanderung, aus meiner Sicht könnte die Welt sogar mehr transkontinentale Migration als heute vertragen. Ich lehne aber eine Welt der offenen Grenzen ab, wie sie von Marktradikalen und vielen Linken gefordert wird, weil die allgemeine Auflösung der politischen Verantwortung in einem globalen Markt, nicht nur der Güter und Dienstleistungen, sondern auch der Arbeitskräfte, mit der politischen Gestaltung nicht vereinbar ist.
Außer man entscheidet sich für eine Weltstaatskonstruktion. Diese ist aber nicht nur völlig unrealistisch, sondern auch gefährlich. Ich stimme Immanuel Kant zu, der 1795 in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ davor gewarnt hat, dass ein solcher Weltstaat despotisch werden könnte.
DIE WELT: Kant fordert darin aber ein Weltgastrecht …
Nida-Rümelin: Mit der völkerrechtlichen Verbindlichkeit der Genfer Flüchtlingskonvention haben wir eine Konkretisierung dieses Welthospitalitätsrechts. Kant spricht aber nicht von einem Recht auf Einbürgerung in einem anderen Land, sondern von der Pflicht, den aufnahmebegehrenden Menschen als Gast aufzunehmen, also zeitlich befristet. Oder modern gesprochen: ohne Integrationsperspektive. Mein Recht, jeden zu heiraten, den ich heiraten möchte, schließt nicht die Pflicht jedes Menschen ein, mich zu heiraten. Diese Asymmetrie gilt auch in der Staatenwelt: Ich habe ein Recht auf Auswanderung, ich habe aber kein Recht auf Einwanderung.
DIE WELT: Zementieren wir damit globale Ungleichheit?
Nida-Rümelin: Nein, die Steuerung der Wanderungsbewegungen ist entscheidend. Die planlose Migrationspolitik der Europäer führt dazu, dass Regionen in Ostafrika, aber auch in Europa, etwa in Montenegro, durch die Abwanderung vieler junger Menschen veröden.
Es kann nicht sein, dass wir hier durch schlechte Bezahlung oder vernachlässigte Ausbildung in vielen sozialen Berufen ein Nachwuchsproblem schaffen und dann in Osteuropa, Südamerika oder Afrika Krankenschwestern und Pflegekräfte abschöpfen, die allerdings in ihrer Heimat dringend benötigt werden. In dem diskutierten neuen Einwanderungsgesetz im Interesse der deutschen Wirtschaft sollte zugleich eine Kompensation der Herkunftsstaaten für die Ausbildungskosten festgelegt werden.
DIE WELT: Wie kompensieren wir einen armen Staat für einen nach Deutschland ausgewanderten Ingenieur?
Nida-Rümelin: Dazu hat die Politikwissenschaftlerin Gillian Brock schlaue Vorschläge erarbeitet: An einer Kompensation sollten sich alle beteiligen, die von dem Transfer profitieren. Zuerst profitiert natürlich die migrierende Person. Weil sich deren Realeinkommen meist vervielfacht, kann man guten Gewissens einen Teil dieser Verbesserung abschöpfen und in das Ausbildungssystem des Herkunftslandes zurückfließen lassen. Zweitens profitiert der neue Arbeitgeber. Er bekommt dadurch eine Arbeitskraft, die er sonst nicht oder zu höheren Kosten hätte. Und drittens profitiert der Staat, der damit ein Ausbildungs- und Demografie-Defizit behebt.
DIE WELT: Tragen wir durch Aufnahme aus den Armutsregionen aber nicht auch zur Milderung der Weltarmut bei?
Nida-Rümelin: Inzwischen ist durch viele Untersuchungen belegt, dass unter den Transkontinentalmigranten, also jenen, die aus armen in reiche Weltregionen auswandern, meist nicht die Ärmsten ihrer Staaten sind. Die zehntausend Dollar für die Reise nach Europa können die Ärmsten nicht aufbringen. Laut UN sind 720 Millionen Menschen weltweit chronisch unterernährt, zuletzt mit steigender Tendenz, 1,2 Milliarden Menschen leben von weniger als einem US-Dollar Kaufkraft, über zwei Milliarden von weniger als zwei US-Dollar Kaufkraft am Tag, diese kommen aber nicht nach Europa oder in die USA, sondern meist Menschen aus der unteren Mittelschicht. Die sympathische Idee, dass wir mit der Einwanderung die globale Armut bekämpfen, entspricht nicht der Realität.
DIE WELT: Aber die meisten über das Asylsystem einreisenden Migranten sind, verglichen mit uns Deutschen, arm dran – und können die Segnungen unseres Staates gut gebrauchen.
Nida-Rümelin: Da haben Sie völlig recht und verweisen auf ein echtes ethisches Dilemma, vor dem wir stehen. Das Prinzip der Gleichbehandlung verlangt von uns zum einen, dass wir unsere Anstrengungen auf jene richten, die unsere Hilfe am nötigsten haben. Das sind im Weltmaßstab die eine oder zwei Milliarden ärmsten Menschen, also diejenigen, die von ein oder zwei US-Dollar Kaufkraft leben. Angesichts begrenzter Ressourcen müssen wir vor allem diesen absolut Armen helfen und nicht jenen, die im Vergleich zu Mitteleuropäern arm sind.
Andererseits haben wir ein Gleichbehandlungsgebot gegenüber allen Menschen, die in unserem Land leben. Deswegen haben europäische Verfassungsgerichte entschieden, dass die Leistungen für Asylbewerber nicht unter den Sozialhilfeanspruch für Einheimische gesenkt werden dürfen, weil dies mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
Beide Gleichbehandlungsgebote sind völlig vernünftig, geraten aber in Konflikt miteinander. Weil wir die Leute, die hier herkommen, wesentlich besser behandeln als jene, die es am nötigsten hätten. Unsere Willkommenskultur ist großartig, sie nutzt aber nur jenen, die wir zu Gesicht bekommen, und nicht den in den Lagern gebliebenen Frauen, Alten und Kranken.
DIE WELT: Sollten wir nachhaltiger mit unseren Solidaritätsressourcen umgehen?
Nida-Rümelin: Eindeutig, ja, allerdings bin ich kein Konsequentialist, begründe also meine Position nicht utilitaristisch, sondern deontologisch, weswegen ich auf das ethische und rechtliche Verrechnungsverbot hinweise: Ich darf den Schwerkranken in der Klinik nicht sterben lassen, auch wenn sein Tod fünf Menschen, die auf Spenderorgane warten, das Leben retten würde. Trotzdem müssen wir eine verantwortliche Politik betreiben, wenn wir eine Verbesserung der Situation der Ärmsten dieser Welt herbeiführen wollen.
Es wäre einigermaßen bizarr, unsere Solidaritätsressourcen in erster Linie auf jene zu konzentrieren, die transnational migrieren. Weltweit leben 720 Millionen chronisch Unterernährte, die UN schätzten 2008, dass 30 Milliarden jährlich ausreichen, um den Hunger auf der Welt auszurotten. Wir bekommen keine genauen Angaben zu den tatsächlichen Aufnahme- und Integrationskosten.
Einen Hinweis gab aber die Europäische Kommission mit ihrem Vorschlag, dass die EU-Staaten, die nicht zur Aufnahme der beschlossenen Anzahl von Flüchtlingen bereit sind, sich an den Integrationskosten mit 250.000 Euro für jeden nicht aufgenommenen Flüchtling beteiligen. Dies liegt in der Höhe der Schätzungen ökonomischer Experten. Bei einer Million Zugewanderten sind das 250 Milliarden, mit 350 Milliarden könnte nach wissenschaftlichen Schätzungen sogar die extreme Armut – das bedeutet eine Kaufkraft von unter einem US-Dollar am Tag – weltweit abgeschafft werden.
DIE WELT: Warum stehen sich die Befürworter und Gegner starker Zuwanderung derart unversöhnlich gegenüber?
Nida-Rümelin: Weil Sie einander nicht zuhören, aber auch weil sie unterschiedliche Erfahrungen machen. Die obere Mittelschicht profitiert von starker Zuwanderung, sie nimmt gerne billige haushaltsnahe Dienstleistungen in Anspruch – jemanden, der kocht, bügelt oder den Garten in Ordnung hält. Die Menschen in den besseren Stadtvierteln erleben aber selten, was es bedeutet, wenn sich die Wohnbevölkerung in den weniger begünstigten Vierteln deutlich verändert. Manche sind so schizophren, dass sie ihre Kinder aus den öffentlichen Schulen nehmen, weil sie sagen, da spricht ja kaum noch jemand ordentlich Deutsch, gleichzeitig aber offene Grenzen befürworten.
Diejenigen, die von den sozialen, kulturellen und teilweise ökonomischen Folgen starker Zuwanderung am stärksten betroffen sind, gehören in der Regel den unteren Einkommensgruppen an, solche mit und ohne Migrationshintergrund. Das ist ein objektiver Konflikt von Interessenlagen, da sollte man nicht voreilig Rassismus vermuten, so wichtig die Kritik an Islamophobie und Ausländerhass ist.
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ich habe hier in diesem beitrag zum ersten mal intelligente argumente gelesen für eine begrenzte einwanderung und für nur bedingt "offene grenzen". ich hoffe, dass herr nida-rümelin öfter in talkshows und bei anhörungen durch die bundestagsparteien vertreten ist, um seine ansichten auch dezidiert vortragen zu können ...