AUTOREN-FILM: DEUTSCHLAND IM HERBST - 1978
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„Es war eine Tragödie“
40 Jahre nach der Ermordung Hanns Martin Schleyers darf es kein Staatsgeheimnis Stammheim geben. Die Akten müssen auf den Tisch. Das ist der Staat, der das Leben Schleyers nicht retten konnte, den Angehörigen schuldig.
Eine Dokumentation.
Eine Rede von WELT-Herausgeber und RAF-Kenner Stefan Aust, die er am 18. Oktober im Schloss Bellevue im Beisein vieler Angehöriger der Opfer terroristischer Gewalt hielt.
Liebe Familie Schleyer,
sehr geehrter Herr Bundespräsident,
meine Damen und Herren!
Der Deutsche Herbst 1977, er jährt sich zum 40. Mal, und mit ihm jähren sich Todestage, Todestage von Menschen, die von Terroristen der RAF gezielt oder ungezielt ermordet worden sind. Einer von ihnen war Hanns Martin Schleyer, und bevor er gezielt und in kurzer Distanz erschossen wurde, hatte er 44 Tage in Geiselhaft gelitten, hatte um sein Leben gekämpft und wusste wohl doch, dass er am Ende diesen Kampf verlieren würde.
Die Bundesregierung war nicht bereit, sein Leben gegen die Freiheit von Terroristen einzutauschen, die wegen Mordes verurteilt worden waren und von denen man weitere Mordtaten erwarten konnte, wenn man der Erpressung nachgegeben hätte.
Es war, so sagte es mir einmal Helmut Schmidt, wie in einer griechischen Tragödie – wie man sich auch entschied, man machte sich schuldig.
Am Anfang stand der Aufbruch
Sie, Herr Schleyer, haben damals für das Leben Ihres Vaters gekämpft und konnten es dennoch nicht retten.
Der Deutsche Herbst 1977 ist aber nicht nur das Ende eines Jahres der Gewalt, er ist auch das Ende eines Jahrzehnts, das grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft markierte, positive und zugleich auch grauenerregende Brüche, globale und auf ganz besondere Weise auch sehr deutsche Brüche.
Am Anfang stand der Aufbruch. „Unter den Talaren, Muff von 1000 Jahren“ hieß einer der Sprüche der Studentenbewegung, die den Abschied von angestammten Traditionen der deutschen Universitäten propagierte. Es sollte moderner zugehen, demokratischer, offener. Man wollte sich nicht mehr von althergebrachten Autoritäten gängeln lassen und schon gar nicht von jenen, die für die Schrecken des Dritten Reiches und ihres Vernichtungskrieges verantwortlich gewesen waren.
Die Befreiung der Dritten Welt von Kolonialismus und Imperialismus stand auf dem Plan. Und der Kampf gegen den Krieg, den die Amerikaner in Vietnam führten. Da begann man sich schon – in allerbester Absicht – mit Diktatoren zu solidarisieren. „Ho – Ho – Ho Chi Minh“ klang es dann über den Kurfürstendamm.
Und die Amerikaner, die in West-Berlin die Freiheit gegen den Kommunismus verteidigten, mutierten über Nacht zum Lieblingsfeind der revoltierenden Studenten. Aus Eiern auf das Amerikahaus wurden Farbflaschen, dann Steine, dann Molotowcocktails und schließlich selbst gebastelte Bomben. Und kräftig eskaliert wurde von beiden Seiten.
Als der Schah von Persien zum Staatsbesuch anrollte, wurde friedlich demonstriert, dann schlugen persische Geheimdienstschläger zu, dann fiel ein Schuss aus der Pistole eines West-Berliner Polizisten, der, was damals noch keiner wusste, im Nebenberuf für die Stasi arbeitete.
Der 2. Juni 1967 war der Beginn eines Jahrzehntes der Gewalt. Und die wurde zunehmend zum Programm. Verantwortlich dafür waren nicht nur jene, die in den Untergrund abtauchten.
Der West-Berliner Studentenführer Rudi Dutschke saß auf einem Schreibtisch vor einem Plakat mit der Aufschrift „Es brennt, es brennt, ein Kaufhaus brennt …“ und erklärte vor laufender Fernsehkamera: „Wir müssen gegen das System mit aller Gewalt vorgehen …“
Kurze Zeit später brannten in Frankfurt zwei Kaufhäuser, und der Pfarrer Ensslin, Vater der Brandstifterin Gudrun Ensslin, sprach in einem Interview zur Tat von einer „ganz heiligen Selbstverwirklichung“ seiner Tochter, „im Sinne des heiligen Menschentums“.
Sie wollten die Fackel der abflauenden Studentenbewegung weitertragen, buchstäblich. Und allzu viele beteiligten sich, entweder selbst im Untergrund oder als Helfer und Sympathisanten. Das machte die RAF anfangs bei vielen geradezu chic. Wenn die berühmte linke Journalistin Ulrike Meinhof, die man von ihren Kolumnen und ihren Fernsehauftritten kannte, dabei war, dann hatte der Untergrundkampf geradezu einen Heiligenschein.
Wohnungen und Pässe wurden zur Verfügung gestellt; da führten ein paar unerschrockene Genossen den Krieg, den viele gern selbst geführt hätten, aber zum Glück nicht mutig genug waren, um selbst zum Attentäter zu werden und das eigene Leben zu riskieren.
Als die ersten Bomben explodierten und amerikanische Soldaten in Frankfurt und Heidelberg in Stücke rissen, sahen manche das als Teil des Vietnamkriegs – und ein durchaus renommierter Anwalt verglich das später im Prozess mit einer möglichen Bombe auf das Reichssicherheitshauptamt, von dem aus die Vernichtung der Juden organisiert worden sei.
Es ging einiges durcheinander in den Köpfen damals – und hatte doch, wie in jedem Wahnsystem, seine eigene Logik. „Welche Niedrigkeit begingest du nicht, um die Niedrigkeit auszutilgen …“ zitierte Ulrike Meinhof den Dichter Bertolt Brecht. Und fügte gleich noch ein paar Verse aus dem Stück „Die Maßnahme“ hinzu, die geradezu programmatisch waren, für das, was sie sich zum Ziel gesetzt hatten:
„Furchtbar ist es zu töten.
Aber nicht andere nur,
auch uns töten wir,
Wenn es Not tut.
Da doch nur mit Gewalt
Diese tötende Welt zu verändern ist,
Wie jeder Lebende weiß …“
Nicht nur der Mord gehörte zum Programm der heiligen Selbstverwirklichung, auch der Selbstmord gehörte dazu.
Nur zwei Jahre dauerte der Untergrundkampf der ersten RAF-Generation, es gab Tote und Verletzte bei Bombenanschlägen, Polizisten wurden erschossen, denn „natürlich kann geschossen werden, der Typ in Uniform ist ein Schwein“, wie es Ulrike Meinhof in einem Text für den „Spiegel“ formuliert hatte. Und es starben auch unter Polizeikugeln bei Festnahmeversuchen Gruppenmitglieder wie die junge Friseurin Petra Schelm.
Stammheim – ein Denkmal aus Stahl und Beton
Dann schien der Spuk vorbei. Der harte Kern der Gruppe wurde verhaftet und saß hinter Gittern. In Isolationshaft, woraus schnell „Isolationsfolter“ wurde. Jetzt waren aus den Tätern Opfer geworden. Und die abgestorbene Welle der Sympathie in Teilen der linken Öffentlichkeit kehrte langsam zurück.
Der Staat baute ihnen ein eigenes Gefängnis und ein eigenes Gerichtsgebäude: Stammheim – ein Denkmal aus Stahl und Beton. Damit wurden die RAF-Gründer erst richtig bedeutend. In dem vergeblichen Versuch, einen politischen Prozess zu verhindern, machte das Oberlandesgericht Stuttgart aus dem Verfahren einen Schauprozess, in dem Angeklagte, Verteidiger, Staatsanwälte und Richter alle Aspekte des Terrorismus durchdeklinierten. Und alles wurde auf Tonband aufgenommen und auf gut 15.000 Seiten wortwörtlich abgeschrieben.
Nur von drei Prozessen im Nachkriegsdeutschland gibt es solche Wortprotokolle: Nürnberg, Auschwitz, Stammheim.
Durch Stammheim hatte die RAF plötzlich eine Hauptstadt. Und eine zweite Generation, deren Ziel nun die Befreiung der Gefangenen wurde. Die RAF war nun ihr eigenes Thema geworden. Die Stammheimer – wie Heilige einer politischen Sekte. In Hungerstreiks wurde „der Körper zur Waffe gemacht“, wurde entschieden, wer „fressen durfte“ und wer nicht. „Du bestimmst, wann du stirbst“, schrieb Gudrun Ensslin an Holger Meins, und der fügte sich und starb, bei 1,83 Meter Körpergröße noch 39 Kilo schwer.
Ulrike Meinhof bekam offenbar Zweifel, sprach im Prozess über die Unmöglichkeit des Aussteigens, schrieb an den Rand eines Zellenzirkulars „Selbstmord ist der letzte Akt der Rebellion“, riss ein weiß-blau gestreiftes Anstaltshandtuch in Streifen, knotete diese aneinander und erhängte sich damit am Fenstergitter ihrer Zelle.
Und dann das Jahr 1977. Der Prozess ging zu Ende. Es ging um „lebenslänglich“. Der Druck nahm zu, das hatten auch die Sicherheitsbehörden gemerkt – und schon länger darüber nachgedacht, die Gespräche der Gefangenen abzuhören. 1977 flog die erste Maßnahme auf, und es wurde zugegeben, in zwei Phasen, bezogen auf den Paragrafen 34 („rechtfertigender Notstand“) Gespräche zwischen Angeklagten und ihren Verteidigern heimlich abgehört zu haben.
Was man verschwieg: Mithilfe des BND waren Mikrofone auch in zwei Besprechungszimmern neben dem Prozessgebäude, in dem die Gefangenen in Prozesspausen untergebracht waren, installiert worden. Wenn das damals herausgekommen wäre, hätte es das Ende des Prozesses bedeutet.
Grund für die Abhörmaßnahme – schriftlich festgehalten und nachzulesen im Staatsarchiv Ludwigsburg: Ihre Benutzung dürfe nur erfolgen, „wenn eine Geiselnahme erfolgt ist und konkrete Gefahr für das Leben von Menschen besteht“. Das war im Frühjahr 1977, ein halbes Jahr vor der Entführung Hanns Martin Schleyers.
Grauenvolle Fehler bei der Fahndung
Auch die Wohnzellen der Gefangenen selbst im 7. Stock des Hochsicherheitstraktes sollten verwanzt werden, Unterlagen darüber gibt es. Ob das erfolgt ist oder ob man sich lieber in die heimlich gebaute Kommunikationsanlage der Gefangenen einschaltete, ist bislang ungeklärt. Indizien und sogar Zeugenaussagen hoher Beamter dazu gibt es.
Der Chef der Staatsschutzabteilung des LKA Baden-Württemberg sagte mir schon vor Jahren auf die Frage, ob die Gefangenen während der Schleyer-Entführung abgehört wurden: „Es wäre doch idiotisch, wenn man solche Einrichtungen nicht nutzen würde, um das Leben Schleyers zu retten. Alles, was machbar war, wurde gemacht.“
Doch die betreffenden Behörden in Baden-Württemberg und Berlin halten immer noch Akten zu diesem Thema geheim. Kein Wunder, dass weiter Verschwörungstheorien über die angebliche Ermordung der Stammheimer kursieren – wie etwa am vergangenen Sonntag ausgerechnet im „Tatort“ der ARD.
Nach 40 Jahren muss Schluss sein mit der gefährlichen Heimlichtuerei. Ein Staatsgeheimnis Stammheim darf es nicht geben. Zumindest das ist der Staat, der das Leben Hanns Martin Schleyers nicht retten konnte, den Angehörigen schuldig.
Wir alle wissen, welche grauenvollen Fehler bei der Fahndung 1977 gemacht worden sind. Der schlimmste war die sogenannte Fahndungspanne in Erftstadt-Lieblar, wo der Entführte mehrere Tage im Hochhaus Am Renngraben festgehalten wurde – und die Polizei vor Ort wusste das. Ihr Hinweis ging in der überbordenden Fahndungsbürokratie irgendwie unter.
Aber anstatt sich einmal ans Telefon zu hängen, um bei der Vorgesetzten Dienststelle zu fragen, was aus dem Hinweis geworden war, fuhr der örtliche Beamte mit seiner Frau am Hochhaus vorbei, zeigte nach oben und sagte: „Da oben sitzt Schleyer.“
Es war eine Tragödie, damals vor 40 Jahren, und schuld waren natürlich diejenigen, die die RAF gegründet hatten, die sie unterstützt hatten, die Entführer, die Mörder, die Gruppenmitglieder, die halfen, die Sympathisanten.
Vertuschen ist die Grundlage des nächsten Versagens
Aber diejenigen, die bei der Fahndung versagten, sollten nicht den Deckel über ihre Versäumnisse schlagen, sondern offen dazu stehen. Nur wenn klar wird, was schiefgegangen ist bei dem Versuch, einen Menschen aus der Geiselhaft zu befreien, kann daraus gelernt werden. Vertuschen ist die Grundlage des nächsten Versagens.
Der Spruch des Geheimdienstkoordinators aus dem Kanzleramt zum Schreddern der NSU-Akten, ausgesprochen vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages, darf niemals zur Maxime behördlichen Handelns werden: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die Regierungshandeln unterminieren.“
Vielleicht hat der ehemalige Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz sogar recht. Aber anders, als er meint. Es ist nicht das Bekanntwerden von Staatsgeheimnissen, das Regierungshandeln unterminiert. Es sind die Staatsgeheimnisse selbst, die das Vertrauen in die Demokratie und in ihre Institutionen unterminieren.
DIE WELT - Ausgabe vom 20. Oktober 2017
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ich war 1977 30 jahre alt - und habe diesen "deutschen herbst" ganz bewusst erlebt und erinnere mich, als sei das alles gestern gewesen ...
ich habe mir ein jahr später auch den autoren-film "deutschland im herbst" (oben) angeschaut, der diese damalige tragödie - auch in ihren in mancher hinsicht heute so empfundenen verkorksten "peinlichkeiten" in einigen szenen - atmosphärisch ganz gut einfängt ...
heute nun - 40 jahre später - lese ich diese wichtige "auf-arbeitung" von "zeit"-herausgeber stefan aust - eine notwendige dokumentation mit vielen fakten aber auch fragen ... - und dadurch hält sich die notwendige ausgewogenheit - benennt das unfassbare auf der einen seite wie auf der anderen ...
alles - was gedacht und getan wurde damals, war irgendwie verstrickt - verstrickt in und mit "schuld" und dem letzten fünkchen moral, wenn man nicht gänzlich skrupellos veranlagt war... : die unversöhnlichen konsequenzen auf allen seiten erzeugten - wenigstens bei mir - in den einzelnen handlungsschritten jeweils auch "verständnis": die phase, wo man schadlos aus der sich hochschaukelnden nach oben eskalierenden spirale herausgekommen wäre, war vertan - der konflikt war letztlich "unentscheidbar" - und es ging den unmittelbar beteiligten um angeblich unumwerfbare "prinzipien" - und bei allem herumgehampel auch um "macht" ... - um einfaches macho-verhalten: "wer hat den längsten" ...
wie wäre dieser herbst wohl ausgegangen, wenn im bundeskanzleramt kein schnarrender reserveoffizier und "macher" gesessen hätte - sondern schon damals eine frau - und wenn weniger baader das sagen bei der raf gehabt hätte, sondern viel mehr die pfarrerstochter gudrun ensslin ... - wenn damals all diese akteure aus ihren vermeintlichen "rollen" hätten schlüpfen können ... - aber: hätte-hätte - fahrradkette ...
32 jahre nach kriegsende war es immer noch da - dieses deutsche chronische sodbrennen, ausgelöst durch all die verdrängte und heruntergeschluckte nazi-schuld von papa, mama, opa und oma, onkel und tante -
und jetzt - weitere 40 jahre später immer noch ein jüngst wieder zunehmender leiser schluckauf ab und zu ... - der sich bei ausbleibender darmentleerung wieder zu einer brennenden sod entwickeln kann - ja: hier draußen - hier im innern des landes - da leben sie immer noch - und da leben sie wieder - nach urväters sitte - mit dem "christlichen abendland" auf du und du ... -S!