Nordsee war Mordsee
Von Berthold Seewald | welt.de
Feuer und Wasser sind sehr gute Diener; aber sehr schlechte Herren“, eröffnete der Chronist C. M. Hafner in seinen „Denkwürdigkeiten aus der ostfriesischen Geschichte“ das Kapitel über die „Weihnachtsfluth von 1717“: „Alle andere Landplagen, ansteckende Krankheiten an Menschen und Vieh, Plünderungen und Verwüstungen feindlicher Heere, und innerliche Unruhen haben in einer Reihe von Jahren zusammengenommen das Elend nicht hervorgebracht, welches diese schreckliche Auch’ in einer Nacht über unser Vaterland hingegossen hat.“
Es war nicht die Vorfreude auf das Weihnachtsfest, die die Menschen an der Nordseeküste von den Niederlanden bis hinauf nach Nordfriesland unaufmerksam werden ließ. Alle Anzeichen standen auf Entwarnung. Bis in die Mittagsstunden des 24. Dezember hatte ein starker Wind aus Südwesten geblasen, der gegen Abend nachließ. Das hatte zur Folge, dass das Abendhochwasser nur wenig erhöht war, was nichts Schlimmes befürchten ließ.
Dann aber drehte sich plötzlich der Wind, und ein Orkan kam von Nordwesten auf. Erst sorgte er dafür, dass das Wasser der Abendtide nicht ablaufen konnte, dann drückte der Sturm es noch vor dem Morgenhochwasser gegen die Deiche. Der anschwellenden Welle konnten die Deiche nicht lange standhalten. Gegen fünf Uhr wurde Hamburg überflutet. An manchen Stellen stand die Marsch bis an den Rand der Geest unter Wasser.
„Die mehresten Häuser waren in den Gegenden, in welchen die Deiche niedergeworfen worden, eingerissen oder vertrieben, und die noch standen, wankten bey jedem Wellenschlag“, schreibt Hafner. „So weit das Auge reichte, sahe man, gleich dem Schiffbruch, Dächer der Hauser, Balken, Bretter, Sparren, Schränke, Kisten, Betten, Menschen, Kühe, Pferde, Ochsen, Schweine, Hunde, Hasen, Korn und Haufen ungedroschener Fruchte ... umher treiben. Auf einigen dieser Haufen sahe man Bewegung und Leben; es waren Menschen, welche auf Heu- oder Kornschobern, auf Balken und Brettern ihre Errettung gesucht hatten. Dort erblickte man nackende Menschen, welche die Fluth in ihren Betten überrascht hatte; ganze Familien, Männer, Weiber, Väter, Mütter, Kinder, Säuglinge und Erwachsene trieben daher, festgeklammert an Balken und Dächern.“
Wie tief sich die Weihnachtsflut von 1717 in die Erinnerung der Küstenbewohner eingeprägt hat, zeigt derzeit eine Wanderausstellung, die von Dangast bis Wilhelmshaven Station macht. Wie ein Tsunami wälzte sich das Meer über das Land. Allein in der Herrschaft Jever wurden 1700 Tote gezählt, in Ostfriesland waren es mehr als 2700. Dazu 2300 Pferde, 1800 Schweine und fast 10.000 Rinder. Die Überlebenden traf der Winter mit eisigen Temperaturen.
Aus kaiserlicher Perspektive lag Norddeutschland damals am fernen Rand des Heiligen Römischen Reiches. Weite Teile der Küste gehörten zu Schweden und Dänemark, die in den Großen Nordischen Krieg (1700–1721) verstrickt waren und deren regionale Verwaltungen Wichtigeres zu tun hatten, als sich mit der Pflege der Infrastruktur auseinanderzusetzen. Stattdessen hatten Kämpfe, Einquartierungen von Soldaten und hohe Abgaben die Wirtschaft ruiniert und damit die Möglichkeiten, umgehend mit dem Wiederaufbau zu beginnen.
Als das Meer sich schließlich nach einigen Tagen zurückgezogen hatte, bot sich ein schlimmes Szenario. „Hier erblickte man erstarrte Mütter mit ihren Säuglingen in den Armen, Eheleute mit Stricken an einander gebunden. Dort an den Bäumen scheusliche Leichen hangend und auf den Aeckern von Hunden und Raubvögeln Angefressene liegend, welche zusammengesucht und in großen Löchern verscharrt wurden ... Die Uebergebliebenen hatten zwar ihr Leben, aber auch weiter nichts als ihr Leben gerettet. Ihre Ehegatten, ihre Eltern, ihre Söhne, Töchter, Bräute, Brüder, Schwestern, Freunde und Bekannte waren dahin ... dahin ihr Vermögen, baares Geld, Vieh, Vorrath von Torf und allerley Lebensmitteln – sie standen trostlos da als Schiffbrüchige.“
Die Vorräte an Saatgut waren vernichtet worden. Auch hatte das Wasser Wiesen und Äcker versalzen, sodass das gerettete Vieh nicht mehr ernährt werden konnte. Hinzu kamen die enormen Aufwendungen für den Deichbau, die den Bewohnern auferlegt wurden. Gegen das Verbot der Behörden setzte eine Landflucht ein, die das Land weiter entvölkerte. Die langfristige Folge war das Entstehen eines Großbauerntums. Die Zurückgebliebenen konnten sich für wenig Geld die aufgelassenen Ländereien aneignen.
„300 Jahre Weihnachtsflut“
Weltnaturerbeportal Dangast, bis 14. Januar
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Von Berthold Seewald | welt.de
Die Jahrhundertflut von 1717 gilt als größte Naturkatastrophe der mitteleuropäischen Neuzeit. Sie steckt den Küstenbewohnern in der DNA
Feuer und Wasser sind sehr gute Diener; aber sehr schlechte Herren“, eröffnete der Chronist C. M. Hafner in seinen „Denkwürdigkeiten aus der ostfriesischen Geschichte“ das Kapitel über die „Weihnachtsfluth von 1717“: „Alle andere Landplagen, ansteckende Krankheiten an Menschen und Vieh, Plünderungen und Verwüstungen feindlicher Heere, und innerliche Unruhen haben in einer Reihe von Jahren zusammengenommen das Elend nicht hervorgebracht, welches diese schreckliche Auch’ in einer Nacht über unser Vaterland hingegossen hat.“
Es war nicht die Vorfreude auf das Weihnachtsfest, die die Menschen an der Nordseeküste von den Niederlanden bis hinauf nach Nordfriesland unaufmerksam werden ließ. Alle Anzeichen standen auf Entwarnung. Bis in die Mittagsstunden des 24. Dezember hatte ein starker Wind aus Südwesten geblasen, der gegen Abend nachließ. Das hatte zur Folge, dass das Abendhochwasser nur wenig erhöht war, was nichts Schlimmes befürchten ließ.
Dann aber drehte sich plötzlich der Wind, und ein Orkan kam von Nordwesten auf. Erst sorgte er dafür, dass das Wasser der Abendtide nicht ablaufen konnte, dann drückte der Sturm es noch vor dem Morgenhochwasser gegen die Deiche. Der anschwellenden Welle konnten die Deiche nicht lange standhalten. Gegen fünf Uhr wurde Hamburg überflutet. An manchen Stellen stand die Marsch bis an den Rand der Geest unter Wasser.
„Die mehresten Häuser waren in den Gegenden, in welchen die Deiche niedergeworfen worden, eingerissen oder vertrieben, und die noch standen, wankten bey jedem Wellenschlag“, schreibt Hafner. „So weit das Auge reichte, sahe man, gleich dem Schiffbruch, Dächer der Hauser, Balken, Bretter, Sparren, Schränke, Kisten, Betten, Menschen, Kühe, Pferde, Ochsen, Schweine, Hunde, Hasen, Korn und Haufen ungedroschener Fruchte ... umher treiben. Auf einigen dieser Haufen sahe man Bewegung und Leben; es waren Menschen, welche auf Heu- oder Kornschobern, auf Balken und Brettern ihre Errettung gesucht hatten. Dort erblickte man nackende Menschen, welche die Fluth in ihren Betten überrascht hatte; ganze Familien, Männer, Weiber, Väter, Mütter, Kinder, Säuglinge und Erwachsene trieben daher, festgeklammert an Balken und Dächern.“
Wie tief sich die Weihnachtsflut von 1717 in die Erinnerung der Küstenbewohner eingeprägt hat, zeigt derzeit eine Wanderausstellung, die von Dangast bis Wilhelmshaven Station macht. Wie ein Tsunami wälzte sich das Meer über das Land. Allein in der Herrschaft Jever wurden 1700 Tote gezählt, in Ostfriesland waren es mehr als 2700. Dazu 2300 Pferde, 1800 Schweine und fast 10.000 Rinder. Die Überlebenden traf der Winter mit eisigen Temperaturen.
Aus kaiserlicher Perspektive lag Norddeutschland damals am fernen Rand des Heiligen Römischen Reiches. Weite Teile der Küste gehörten zu Schweden und Dänemark, die in den Großen Nordischen Krieg (1700–1721) verstrickt waren und deren regionale Verwaltungen Wichtigeres zu tun hatten, als sich mit der Pflege der Infrastruktur auseinanderzusetzen. Stattdessen hatten Kämpfe, Einquartierungen von Soldaten und hohe Abgaben die Wirtschaft ruiniert und damit die Möglichkeiten, umgehend mit dem Wiederaufbau zu beginnen.
Als das Meer sich schließlich nach einigen Tagen zurückgezogen hatte, bot sich ein schlimmes Szenario. „Hier erblickte man erstarrte Mütter mit ihren Säuglingen in den Armen, Eheleute mit Stricken an einander gebunden. Dort an den Bäumen scheusliche Leichen hangend und auf den Aeckern von Hunden und Raubvögeln Angefressene liegend, welche zusammengesucht und in großen Löchern verscharrt wurden ... Die Uebergebliebenen hatten zwar ihr Leben, aber auch weiter nichts als ihr Leben gerettet. Ihre Ehegatten, ihre Eltern, ihre Söhne, Töchter, Bräute, Brüder, Schwestern, Freunde und Bekannte waren dahin ... dahin ihr Vermögen, baares Geld, Vieh, Vorrath von Torf und allerley Lebensmitteln – sie standen trostlos da als Schiffbrüchige.“
Die Vorräte an Saatgut waren vernichtet worden. Auch hatte das Wasser Wiesen und Äcker versalzen, sodass das gerettete Vieh nicht mehr ernährt werden konnte. Hinzu kamen die enormen Aufwendungen für den Deichbau, die den Bewohnern auferlegt wurden. Gegen das Verbot der Behörden setzte eine Landflucht ein, die das Land weiter entvölkerte. Die langfristige Folge war das Entstehen eines Großbauerntums. Die Zurückgebliebenen konnten sich für wenig Geld die aufgelassenen Ländereien aneignen.
„300 Jahre Weihnachtsflut“
Weltnaturerbeportal Dangast, bis 14. Januar
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