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Alle christlichen Kirchen bekennen in ihren zentralen Formeln einen Glauben, in dem das Leben Jesu nicht vorkommt, nichts von dem, was ihn unter dem Programmwort »Reich Gottes« bis in den Tod hinein engagiert hat. Die Glaubensbekenntnisse, wie sie über die Jahrhunderte hin gelehrt und gesprochen werden, ersetzen Jesus - von den biologischen Eckdaten Geburt und Kreuzigung abgesehen - durch Christusdeutungen.
Dabei sind »Maria, die Jungfrau«, und die postmortale Existenz Christi wichtiger als das mit dem Leben Jesu gelegte Fundament. Dieses »Loch« im Glaubensbekenntnis ist eine Paulus zu verdankende folgenschwere Verdrängung des historischen Jesus. Er hat ihn zu dessen Lebenszeit nicht gekannt. Hat sich offensichtlich auch nie bemüht, genaue Kenntnisse über Jesus und seine Reich-Gottes-Botschaft zu gewinnen, obwohl er Petrus besuchte und fünfzehn Tage bei ihm blieb (Gal 1,18). Auch »Jakobus, dem Bruder des Herrn« (Gal 1,19) ist er begegnet und Johannes (Gal 2,9). Offensichtlich wollte er sich aber nicht in Abhängigkeit von diesen Augen- und Ohrenzeugen begeben, weil er Wert darauf legte, »sein« Evangelium »nicht von einem Menschen übernommen und gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi empfangen« zu haben (Gal 1,12). So überging Paulus alles, was Jesus zu seinen Lebzeiten bewegte und lehrte, die Summe seiner Reich-Gottes-Botschaft in Wort und Gleichnis, in Zuwendung und offener Tischgemeinschaft.
Gäbe es nur »sein Evangelium«, wäre für uns Jesus nicht einmal eine Kontur: Wir würden keine Gleichnisse kennen, keine Bergpredigt, kein Vaterunser, kein Wissen über Jesu Leben und Verhalten. Der Neutestamentler Günther Bornkamm konnte sagen, dass wir heute trotz unseres großen zeitlichen Abstandes »mehrüber den geschichtlichen Jesus wissen, als Paulus von ihm wusste« - und, wie hinzuzufügen ist, Paulus wohl meinte wissen zu sollen.
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Was Jesus interessierte, war eine Lebensordnung, die er als »Herrschaft Gottes« oder »Reich Gottes« verstand: keine jenseitige Welt, sondern eine Lebensweise in der Welt der Menschen. Er schrieb in den Alltag dessen göttliche Bestimmung hinein. Dies machte er konkret durch eine provokante offene Tischgemeinschaft, die Symbol und Realisation seiner Lehre war. In Gleichnissen und mit eigenem Verhalten deutete er seine Mahlgemeinschaften, die in bunter Reihe Männer und Frauen, Arme und Reiche, Sklaven und Freie, Pharisäer zwischen Zollnern und Dirnen versammelten. Und da dies Verhalten damals wie heute schockierte, wurde er als Fresser und Säufer, Freund von Sündern und Zöllnern beschimpft.
Doch war dies sein Programm: ein Muster nicht-diskriminierender Gesellschaft. Irritierend und provokativ für alle, welche die eigene Identität nur in den Augen von ihresgleichen finden; eine Zumutung, von allen Unterschieden des Standes und Ranges abzusehen, um selbst mit ordinären Menschen »gemein« zu werden. »Der radikale Egalitarismus des Gottesreichs, von dem Jesus sprach, ist erschreckender als alles, was wir uns vorgestellt haben, und selbst, wenn wir es nie annehmen können, sollten wir doch nie versuchen, es wegzuerklären und als etwas anderes, als es ist, auszugeben« (John Dominic Crossan).
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Nun ist die problematische Institutionalisierung der offenen Tischgemeinschaften Jesu nur ein Aspekt seiner abgebogenen Wirkungsgeschichte. Nicht minder ist das Schicksal seiner Lehre zu bedenken. Seit Beginn der kritischen Forschung wird zwischen dem historischen Jesus und dem verkündigten Christus unterschieden.
Das »Loch« im Glaubensbekenntnis hat sich im theologischen System bis zum Tage fortgesetzt. Es wieder zu füllen und ausgleichen zu können, ist auf absehbare Zeit hin kaum zu erwarten. Nach wie vor wird das Reich-Gottes-Evangelium Jesu von dem inhaltlich ganz anders geprägten Evangelium des Paulus zugedeckt. Von den rund 620 Seiten der Bultmannschen »Theologie des Neuen Testaments« sind nur 34 Seiten Jesus und seiner Lehre gewidmet, alles Übrige ist paulinische Theologie.