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»1968 gegen die 68er verteidigen«
Prof. Dr. Ingrid Gilcher-Holtey von der Uni Bielefeld gilt als wichtigste Forscherin zu der Bewegung
Ihre Veröffentlichungen zur Geschichte der 68er-Bewegung sind Standardwerke. Prof. Dr. Ingrid Gilcher-Holtey hat »1968« erforscht wie kein anderer Wissenschaftler in Deutschland. »Die 68er sind im Lauf der Zeit immer mehr geworden«, sagt sie im Scherz, wenn es um die ausgeprägte Erinnerungskultur der Generation geht. Matthias Meyer zur Heyde und Andreas Schnadwinkel haben mit Ingrid Gilcher-Holtey über Wurzeln, Folgen und Erben der 68er-Bewegung gesprochen.
Wie sieht eine 68er-Expertin die Ereignisse von 1968?
Ingrid Gilcher-Holtey: 1968 ist der Höhepunkt einer Welle von Protesten, die nahezu alle westlichen Industrieländer erfasst. Die Proteste stellen die vorhandene Ordnung grundsätzlich in Frage und konfrontieren sie mit einem gesamtgesellschaftlichen Gegenentwurf, der sich vom Kommunismus ebenso unterscheidet wie von den Leitideen der Sozialdemokratie. Die Protestbewegungen, die von einer Neuen Linken angefacht werden, sind antikapitalistisch und antikommunistisch zugleich.
Wie charakterisieren Sie die 68er-Bewegung?
Gilcher-Holtey: Die 68er-Bewegungen waren – über alle nationalen Differenzen hinweg – auf die Ausweitung von Teilhabe- und Mitwirkungsrechten ausgerichtet: auf »partizipatorische Demokratie«, »Selbstverwaltung«, »Selbstbestimmung«. Erstrebt wurde die Demokratisierung aller Teilbereiche der Gesellschaft durch Abbau von Herrschaft und Hierarchien sowie eine Veränderung von Entscheidungsstrukturen in politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen.
Wie wollte die 68er-Bewegung ihre Ziele umsetzen?
Gilcher-Holtey: Die Transformationsstrategie der Neuen Linken zielte nicht auf die Eroberung der politischen Macht, um eine soziale Revolution im Sinne der Verstaatlichung von Produktionsmitteln einzuleiten. Die Neue Linke setzte auf eine Politisierung der Gesellschaft von unten. Sie löste das Politische von seiner Gleichsetzung mit dem Staat und seinen Institutionen. Das Politische wurde an das Miteinander-Reden-und-Reflektieren, an die Aussprache im öffentlichen Raum geknüpft. Der Horizont des Politischen wurde dadurch verschoben. Ins Zentrum rückte die Veränderungen von Machtstrukturen jenseits des Staates durch Erprobung neuer Kommunikations-, Partizipations- und Lebensformen.
Ist 1968 ein im Nachhinein überhöhter Mythos? Ist 1968 eine Erfindung der 68er?
Gilcher-Holtey: Die 68er-Bewegung ist als Studentenrebellion und Jugendrevolte nicht hinreichend charakterisiert. In allen Ländern waren die Bewegungen mehr als das. Erst 1978, zehn Jahre nach 1968, kam der Begriff »68er-Generation« auf. Die 68er-Generation ist mithin eine Folge der 68er-Bewegung. Ihre Identität wurde durch die Erinnerung an die Ereignisse gestiftet. Seitdem wuchs die Zahl der 68er. Zugleich setzten Deutungskämpfe um die Frage ein, an was von »68« zu erinnern ist.
Werden da immer noch viele Legenden gestrickt?
Gilcher-Holtey: Ja, und dagegen kämpfe ich an. Ich versuche, die Erinnerungskämpfe transparent zu machen, die Gegenwartsinteressen aufzuzeigen, die in die Erinnerungen eingehen, und mitunter »1968« gegen »die 68er« zu verteidigen.
Was bleibt zum Thema 1968 noch zu erforschen?
Gilcher-Holtey: Einer historisch-kritischen Analyse der 68er-Bewegung obliegt es, mit Nachdruck weiterhin mit Max Weber die »Zurechnungsfrage« zu stellen, mithin zu fragen, was der Bewegung überhaupt zugerechnet werden kann.
Denn soziale Bewegungen, die einen grundlegenden Wandel gesellschaftlicher Strukturen herbeiführen wollen, sind ein fluides soziales Phänomen. Sie können nicht dauerhaft in Bewegung bleiben. Nach einer Phase der Mobilisierung zerfallen sie in Parteien, Subkulturen, neue soziale Bewegungen oder werden von bestehenden Parteien aufgesogen. Deshalb erlangen sie ihre Ziele in der Regel nicht aus sich selbst heraus, sondern über Vermittler, die ausgewählte Impulse der Bewegung auf- und übernehmen und zugleich abwandeln und verändern. Das macht die Zurechnung schwierig. Wenn Willy Brandt 1969 sagt, »Wir wollen mehr Demokratie wagen«, ist das eine wunderbare Formel, die den Gedanken, dass die Demokratie zu erweitern ist, aufnimmt und zugleich verändert. Viele Akteure der zerfallenden 68er-Bewegung sind in die SPD gegangen, einige auch in die DKP und in die K-Gruppen, die nach der Auflösung der 68er-Bewegung entstanden. Im Zerfallsprozess der 68er-Bewegungen setzte sich die alte Linke wieder gegen die Neue Linke durch. Die Klassiker Marx, Engels, Lenin kehrten zurück, aber auch hierarchische Gruppenstrukturen und ein staatszentrierter Politikbegriff. An die direkt-demokratische Transformationsstrategie knüpften die Grünen 1980 mit ihrer Forderung nach mehr Basisdemokratie und Rotation an.
Ist den 68ern der »Marsch durch die Institutionen« gelungen?
Gilcher-Holtey: Der »Marsch durch die Institutionen« wird heute als Karriereweg gedeutet, war anfangs aber als Aufbau von »Gegenmacht« in den bestehenden Institutionen gedacht. Vertreter der 68er-Generation haben Karriere gemacht, wie andere Generationen vor ihnen auch. Zahlreichen Sprechern der Bewegung blieb jedoch – nicht zuletzt durch den Radikalenerlass der Brandt-Regierung – der Zugang zu staatlichen Institutionen versperrt. Rudi Dutschke zum Beispiel hatte eine Stelle an der Universität im dänischen Aarhus – nicht an einer deutschen Universität.
Was ist mit Joschka Fischer und Gerhard Schröder?
Gilcher-Holtey: Fischer wurde Außenminister, ist aber erst sehr spät zur 68er-Bewegung gestoßen. Und Schröder war gar kein 68er, er war Sprecher der Jusos und damit Mitglied der SPD, die 1961 den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) ausgegrenzt hatte.
Hat die SPD mit ihrem Godesberger Programm von 1959 den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) in eine linksradikale Ecke gerückt und die Jugend verloren?
Gilcher-Holtey: Ich denke, dass die SPD damals die Chance vertan hat, sich mit den Ideen der Neuen Linken, die sich zeitgleich auch in Frankreich, Großbritannien, den USA formierte, auseinanderzusetzen. Sie hätte 1989 davon profitieren können und könnte es noch heute. Aber die SPD stand mit ihrer Ablehnung nicht allein. Auch in den USA und in Frankreich wurden dissidente Jugend- und Studentenverbände von den Parteien der alten Linken ausgeschlossen. In beiden Ländern stieß die ausgegrenzte studentische Neue Linke den Mobilisierungsprozess der 68er-Bewegung an. In den USA wirkten in der 68er-Bewegung Studentenbewegung, Bürgerrechtsbewegung und die Opposition gegen den Vietnamkrieg zusammen. In Frankreich verbanden sich Studenten- und Arbeiterbewegung. In der Bundesrepublik Deutschland bestand die Außerparlamentarische Opposition (APO) aus lose koordinierten Teilbewegungen: Studentenbewegung, Opposition gegen die Notstandsgesetze und die Ostermarschbewegung/Kampagne für Demokratie und Abrüstung.
Gibt es da noch dieses eine uneingelöste Versprechen von 1968, nämlich die Überwindung des kapitalistischen Systems?
Gilcher-Holtey: Die 68er waren antikapitalistisch, sie kritisierten die Konsumgesellschaft. Im Zentrum aber stand die Kritik der Entfremdung, nicht die Ausbeutung. Ihre Forderungen zielten nicht primär auf die Eigentumsfragen, sondern auf die Bedingungen, unter denen produziert wurde und die Gesellschaft sich reproduzierte. Es ging – der Generalstreik in Frankreich im Mai 68 machte es ganz deutlich – um die Veränderung der Lenkungs- und Leitungsstrukturen in den Betrieben, Unternehmen und Institutionen. Wie die Studie »Der neue Geist des Kapitalismus« (2003) von Luc Boltanski und Eve Chiapello zeigt, griffen französische Unternehmer, konfrontiert mit der Rezession 1974/75, auf die Selbstverwaltungskonzeption der Neuen Linken zurück.
Gedacht als Mittel der Demokratisierung und Dezentralisierung, wurde Selbstverwaltung zur Flexibilisierung der internen Betriebsstrukturen eingesetzt. Den Arbeitnehmern wurde dabei, so Boltanski/Chiapello, mehr Autonomie am Arbeitsplatz im Tausch für den Abbau von Arbeitsplatzsicherheitsgarantien und standardisierten Schutzbestimmungen geboten – eine nicht-intendierte Wirkung der Transformationsstrategie der Neuen Linken.
Welche Rolle spielten linke Ikonen wie Mao und Che Guevara? Waren das Vorbilder oder Abziehbilder?
Gilcher-Holtey: Die Berufung auf Mao erfolgte, weil China sich vom Kommunismus-Modell der Sowjetunion distanzierte, wie die Neue Linke auch. Gleichzeitig jedoch wurde die Vorstellung einer »Kulturrevolution« unkritisch übernommen. War diese in China doch von oben, durch die Parteispitze initiiert und keine politische Mobilisierung von unten, wie die Neue Linke sie propagierte. Im Falle Che Guevaras war für die Neue Linke seine Fokus-Theorie interessant, mit der er die Partei als Organisation im Transformationsprozess ersetzte.
Wer sind die Erben der 68er?
Gilcher-Holtey: Seit den 90er Jahren knüpft die globalisierungskritische Bewegung an die Transformationsstrategie der Neuen Linken wieder an. Ausgehend von der Prämisse, dass die Strukturen der zukünftigen Ordnung bereits in der bestehenden Gesellschaft experimentell erprobt werden müssen, setzen die neuesten sozialen Bewegungen erneut auf die Schaffung von autonomen Räumen, um direkt-demokratische, horizontale Kommunikations- und Beziehungsformen zu erproben und auszuloten. Occupy Wallstreet, Occupy Deutschland, die Bewegung des 15. Mai 2011 in Spanien, aus der Podemos hervorging, sowie die französische Bewegung »Nuit Debout« sind Beispiele dafür. Gemeinsam ist den 68ern und ihren Erben die Überzeugung, dass eine »andere Welt« als der Status Quo möglich ist.
Kann man sagen: Ohne 1968 hätte es die RAF nicht gegeben?
Gilcher-Holtey: Ja, wahrscheinlich. Aber »1968« geht in der Rote-Armee-Fraktion nicht auf und nicht unter. Es gibt zwar eine personelle Kontinuität, doch gibt es zwischen 1968 und dem RAF-Terror auch einen Bruch. Die Leitidee der Neuen Linken, zentrale Elemente der erstrebten »anderen« Gesellschaftsordnung bereits in der Gegenwart experimentell zu erproben, widerspricht fundamental der RAF, die durch Terror und die Tötung von Menschen die »andere« Gesellschaft herbeizubomben versucht hat. Überdies war die RAF autoritär, hierarchisch strukturiert.
Alexander Dobrindt von der CSU hat das Jubiläum »50 Jahre 1968« zum Anlass genommen, eine bürgerliche Revolution als Anti-68er-Bewegung zu fordern. Wie finden Sie das?
Gilcher-Holtey: Das ist Polemik. Das hat mit 1968 nichts zu tun.
WESTFALEN-BLATT | 3./4.Februar 2018