Spiegel-Titel 44/2007 - Illustration: Thomas Fluharty |
„Es war alles ganz anders“
Der Erzähler und Lyriker F. C. Delius hat viel über 68 geschrieben – jetzt spricht er
DIE WELT: Sie sind kürzlich Joschka Fischer beigesprungen.
F. C. Delius: Wegen der Scheinheiligkeit der Diskussion und der Denunziationen. Daher mein Vergleich mit Bill Clinton: Der hatte im Wahlkampf 1992 zugegeben, dass er gegen den Vietnamkrieg protestiert hat und wurde trotzdem gewählt.
DIE WELT: Aber er hat nicht auf Polizisten eingedroschen.
Delius: Aber eine Demonstration mitorganisiert, auf der es auch zu Ausschreitungen kam. Ich wollte auch keine klare Parallele ziehen. Ich wollte vor allem an das Klima von damals erinnern.
DIE WELT: Sie beklagen das Niveau der gegenwärtigen Debatte. Was fehlt Ihnen?
Delius: Es fehlt zum Beispiel der Hinweis darauf, dass Fischer zehn Mal verprügelt wurde von der Polizei und sich einmal gewehrt hat. Mir gefällt auch die Überheblichkeit nicht, mit der man heute lässig ein Verhalten verurteilt, dessen Hintergründe nicht ausgeleuchtet werden. Und vor allem: Mir fehlt ein deutscher Mc Namara, der namens des Establishments bekannt hat: „Wir haben da und da grundlegend geirrt.“ Bei uns ist es immer die Linke, die sich rechtfertigen muss, nie der Verfassungsschutz, nie die „Bild“-Zeitung, von Politikern ganz zu schweigen. Eine Entschuldigung von diesen Gruppen wäre ein Akt demokratischer Reife.
DIE WELT: Kommen wir zu Ihnen. Sie sind ja ein Vor-68er, haben 1965 mit Gedichten debütiert, 1966 sind Sie mit der gut recherchierten Politsatire „Wir Unternehmer“ bekannt geworden. Sie waren eines der jüngsten Mitglieder der Gruppe 47. Mit anderen Worten: Sie gehörten zu dem oppositionellen Milieu, das den 68ern den Boden bereitete. Hätte man die Bundesrepublik nicht auch ohne 68er reformieren können?
Delius: Wer weiß. Es gab auch vor 1968 eine sehr politische Kritik von Künstlern an den Verhältnissen, das stimmt. Denken Sie an Wolfgang Neuß. Aber die Situation änderte sich mit dem Beginn der Großen Koalition. Willy Brandt, von dem wir uns so viel versprachen, Arm in Arm mit dem Altnazi Kiesinger. Das hat den Weg ins Außerparlamentarische sehr befördert. Ich sage oft: Ich bin kein 68er, ich bin ein 66er. Auf diesem Niveau friedlicher Demonstrierens bin ich stehen geblieben. In der Novelle „Amerikahaus“ habe ich das zu beschreiben versucht. Für mich war prägend der Rausch der Offenheit in diesen Jahren, die Erweiterung des Horizonts, bis in die fernsten Ecken der Dritten Welt, politisch, musikalisch, literarisch. 1968 ging das schon zu Ende. Da begann die doktrinäre Verengung, die hat mich abgestoßen.
DIE WELT: Aber Sie haben sich auch einen „Mitläufer von 68“ genannt.
Delius: Ja, in einem ganz neutralen Sinne, ich bin bei Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze, gegen den Vietnamkrieg, für die Bildungsreform mitgelaufen. Ich habe das nicht organisiert, nicht dazu aufgerufen, aber hinten oder in der Mitte war ich dabei.
DIE WELT: Gibt es ein Ereignis, mit dem Sie Ihre Abkehr von 68 verbinden?
Delius: Abkehr von bestimmten Gruppen, nicht vom Ziel Veränderung. Das war 1968 die so genannte Schlacht am Tegeler Weg, als zum ersten Mal Steine flogen. Und beim Aufkommen der RAF 1972.
DIE WELT: Sie haben kürzlich von der „neurotischen Liebe der Deutschen zu Ihren Gewalttätern“ gesprochen.
Delius: Als ich mich in meinen drei Romanen über den „Deutschen Herbst“ mit dem Verhältnis Herold-Baader beschäftigt habe, ausgehend von Herolds Ausspruch „Ich habe ihn (Andreas Baader) geliebt“, wurde mir klar: Es gab damals auch ein Bedürfnis, die RAF groß zu reden. Es gab das Bedürfnis nach einem Feind, auf beiden Seiten.
DIE WELT: Der autoritäre Charakter der Deutschen! Dazu gehört die Feindbildfixierung, die Feindbildbedürftigkeit.
Delius: Ja, beide Seiten haben sich gebraucht – zur Ichfindung. Letztlich aber hat die ganze Geschichte der Bundesrepublik sehr genützt. Seit dieser Bewährungsprobe, seit diesem Kampf steht der Staat. Seitdem bekennen sich die Linken zur parlamentarischen Demokratie.
DIE WELT: Nochmal zu den Anfängen. Sie haben vor allem in Ihrer Novelle „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ ein Elternhaus geschildert, in dem ein späterer Aufmüpfiger in den 50ern heranwuchs. Hätte 68 sich nicht so radikalisieren müssen, wenn es in deutschen Familien liberaler zugegangen wäre?
Delius: Sicher. In den 50ern gab es wahrscheinlich zu 90 Prozent autoritäre Elternhäuser. Aber das muss nicht immer ein Schade sein. Das kann auch die Wahrnehmung für Machtstrukturen schärfen. So war es jedenfalls bei mir. Mit 18 schrieb ich ein Gedicht zum deutschen Ordnungsfanatismus am Beispiel der Berliner Mauer. Das war 1962. Wer hat es veröffentlicht? Die WELT!
DIE WELT: Da sieht man wieder: Es war kein Privileg der Linken, sich über die verkrusteten Verhältnisse der 60er aufzuregen. Und schon gar nicht brauchte es 1968, damit man sich „politisierte“.
Delius: Ja und nein. Für viele war 68 die Initialzündung. Aber in Berlin gab es auch vor 1968 genug Anregung und Aufregung. Ich erinnere mich an den Besuch von Kennedy, der nicht nur sein „Ich bin ein Berliner“ sagte, sondern auch uns Studenten der FU ins Gewissen redete: „Kümmert euch um die Demokratie, mischt euch ein.“
DIE WELT: Nun zu den Konsequenzen von 68. Im Vergleich zu Frankreich fällt ja auf, dass es bei deutschen Intellektuellen keinen Abschied von den 68er-Ideen gibt, auch von Ihnen nicht. In Frankreich gab es Mitte der 70er bereits die Wende zum Engagement für die osteuropäischen Dissidenten, für Bürger- und Menschenrechte, Antitotalitarismus. Weshalb nicht bei Ihnen?
Delius: Das ist ganz einfach. Ich war, anders als André Glucksmann, kein Maoist. Ich hatte nie laut getönt, wo’s lang gehen soll. Da gab’s nichts Großes abzubitten. Und für Dissidenten habe ich eher still gearbeitet. Als Lektor bei Wagenbach hatte ich viel mit Wolf Biermann zu tun, als er noch in der DDR lebte, seit 1973 bei Rotbuch, dann mit Heiner Müller. Das Engagement für die Dissidenten war Praxis, nicht Theorie, schon gar nicht Rhetorik.
DIE WELT: Das typisch Linke verflüchtigt sich immer mehr! Um noch eins draufzusetzen: Sie, der in den 60er mit links-avancierter Dokumentarliteratur begonnen hat, lieferten mit Ihren letzten Veröffentlichungen klassische Novellen. Werden Sie immer konservativer?
Delius: Also, schon meine Satiren auf die Unternehmerwelt verhielten sich parodistisch zu Weiss und Kipphardt. Und mir wurden schnell die engen Grenzen dieser Form klar. Wenn ich Romane, Erzählungen, Novellen schreibe, dann weil sich in diesen Formen die Geschichten, die ich erzählen will, am besten erzählen lassen. Das hat nichts mit Konservatismus zu tun, sondern mit Entwicklung.
DIE WELT: Eine Form haben Sie bisher ausgelassen: Den repräsentativen Epochenroman über 68.
Delius: Als ich meine drei Romane zum Deutschen Herbst geschrieben hatte („Ein Held der inneren Sicherheit“, 1981; „Mogadischu Fensterplatz“, 1990; „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“, 1992) habe ich mir gesagt, ich könnte jetzt natürlich noch weiter zurückgehen. Dann dachte ich aber auch: Es gibt schönere Dinge als Gewalt und Terror, und ich will mich nicht ewig damit befassen. Aber einer sollte es schon tun.
DIE WELT: Sie finden also den großen Zeitroman über 68 und die Folgen wünschenswert.
Delius: Aber nichts ist schlimmer als die Veteranenperspektive. Der Hass auf 68 rührt ja nicht zuletzt daher, dass man meistens nur die Leute hört, die ganz vorne dabei waren, die rechthaberisch und im Gewissheitston sagen, was sie alles Tolles gemacht haben und was die Nachfolgenden eben nicht mehr hingekriegt haben. Hinderlich ist auch, dass die Medien nur die knalligsten Äußerungen zitieren, sich für die wildesten Details interessieren, das Thema superlativisch verzerren. Man müsste davon runterkommen, mit einem frischen Blick die Sache angehen.
DIE WELT: Ein Aufruf an junge Kollegen?
Delius: Ich bin kein Aufrufer. Wichtig wäre jedenfalls, dass sie die 68er nicht als Ikonen wahrnehmen, sondern Naivität, Hilflosigkeit, das Spielerische berücksichtigen. Es war eben alles ganz anders. Und vor allem: Helden waren wir nicht!
Das Gespräch führte Tilman Krause [sic!] (Die Welt: 20.01.2001)
... und jener Tilman Krause haut 17 Jahre später die 68er kräftig in die Pfanne: "Selbstdarstellung: Die 68er haben rein garnichts erfunden." Da muss sich jeder selbst seinen Reim drauf machen ...
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Armes Schwein
Um zwei Uhr nachts stürmten wir das Haus
des namhaften Kritikers. Der saß noch bei der Arbeit,
sprang sofort erleichtert auf und
nahm die Arme hoch. Sah zu, zufrieden
spielte er Entrüstung, als wir seine Bücher
in die Wäschekörbe packten, faßte aber nicht
mit an. Wir dachten an seinen bekannten
Enthusiasmus für „La Chinoise“, ließen ihm also
Majakowskij und Brecht. Schon holte er Wein
aus dem Keller. Als wir die Schallplatten
wegnahmen, sagte er bloß, er wolle von Beethoven
sowieso nichts mehr wissen, bestand aber plötzlich
auf Albert Ayler. Wir stimmten ab, ja der
sollte ihm bleiben. Wir tanzten mit seiner Frau.
Sie lud uns in die Küche, manierlich aßen wir
die Delikatessen auf. Er wollte uns dann
mit Whisky halten. Es wurde hell, wir schleppten
das Zeug endlich raus, da bot er uns das Du an.
Das, fanden wir, ging zu weit.
Da haben wir also doch wieder einen Fehler gemacht.
F.C. Delius - ca. 68/69
Albert Ayler Quintet - Truth is marching in
Donald Ayler (tp) Albert Ayler (ts) Michel Sampson (vln) Lewis Worrell (b) Ronald Shannon Jackson (d)
Live at Slug's Saloon, May 1, 1966
Fruit Tree Records FT 841
F.C. Delius - S!|bearbeitung nach einem Foto von DPA |
Weckruf in New York
Neuerscheinung: F. C. Delius beschreibt in "Die Zukunft der Schönheit", wie er in den 60ern erst zum Jazz und dann zum Schreiben fand. Das Ergebnis ist eine Ermutigung
Von Stefan Tomas Gruner
Sonntag, 1. Mai 1966. Ein Schriftstellerkollege und ein Rundfunkredakteur nehmen das junge literarische Talent F. C. Delius mit in New Yorks Slug's Saloon (s. Video oben). Dort überfällt ihn das "Getröte, Gezirpe, Gehämmer, Gejaule" eines Free-Jazz-Quintetts um den Saxofonisten Albert Ayler. Mitverantwortlich für die "Zirkusmusik" sind Trommel, Trompete, Bassgitarre, Geige. Was Delius zuerst verstört, erweist sich als Befreiung. Stunden später verlässt er den Club als Dichter.
Die Initiation hin zum eigenen poetischen Schaffen begann mit der Teilnahme an der im Nachhinein bekanntesten, ihren Niedergang einläutenden, Dichter-Lesung der Gruppe 47 in Princeton, USA. Delius war erleichtert, dort nicht lesen zu müssen. Er fand sein mitgebrachtes Gedicht unbefriedigend, wusste nur nicht, was seiner literarischen Produktion fehlte.
Von den Stunden im Jazzclub, die ihm darauf Antwort geben sollten, berichtet die autobiografisch gehaltene Erzählung "Die Zukunft der Schönheit". Dem berechtigten Stolz, als 23-Jähriger die deutschsprachige Literatur an einer amerikanischen Eliteuniversität mit vertreten zu dürfen, standen nicht weniger berechtigte Selbstzweifel gegenüber. Und nun, am letzten Abend vor dem Rückflug nach Deutschland, versetzt ihn die "Katzenmusik" in Slug?s Saloon in einen Zustand produktiver Verunsicherung.
Die Musik, die mit der Unbekümmertheit von Kammbläsern daherkommt und gleichzeitig so unverschämt klug und durchtrieben ist, macht den angehenden Schriftsteller erst einmal klein. Statt überheblicher Posen zwingt ihn das fremdartige Tongemisch zu Geständnissen, wie sie keine Kritik nach einer Lesung gnadenloser hätte vorbringen können: Gehört er in den Kreis der "Heiligen", die die Musiker gerade mit "I want to be in that Number" beschwören? Nein.
Er sieht sich als Dorfkind, Provinzler, Hinterherläufer, Nichtskönner, verklemmt, unmusikalisch, der schüchternste aller schüchternen Jungdichter. Er sitzt neben Kennern, die den "genialen" Ayler bewundern, hat jedoch weder geschultes Ohr, noch zum Fachsimpeln geeignete Ahnung. Das ist sein Vorteil. Die freien Improvisationen dringen ohne Reflexionsfilter in ihn, wühlen ungeordnete Bilder hoch: Die Schüsse auf Kennedy, Polizeisirenen, das Börsenspektakel, die Schlachtfelder Vietnams, seine Schülerliebe, sein sterbenskranker Vater, der ihn zu Unrecht fleischlicher Sünde und Lüge bezichtigt. Unzusammenhängendes Zeug zwischen großer Politik und privaten Ereignissen.
Kein klares Muster erkennbar, wie bei den Klangläufen dieser Jazzer, die bekannte Melodien nur zitieren, um sie zu zerlegen. Die sich nicht nur von den üblichen Harmonien, sondern auch von den Mitspielern trennen und darauf vertrauen, in einer neuen Ausdrucksform wieder zusammenzukommen.
Was da aufbricht, stört und zerstört, folgt keiner Willkür, sondern dem offenen Wagnis. Bei wachsender Verschmelzung mit den über alle Stile und Geschmäcker gleitenden Improvisationen des Quintetts erlebt Delius das Grundmuster echter Kreativität: "Frei, und doch an versteckte Regeln gebunden." Nicht anders beim Schreiben. Die versteckten Regeln? Der Selbstschutz. Die Assoziationsströme bewegen sich vom Unverfänglichen zum gerade noch Verkraftbaren. Bei Delius geht es vom Weltpolitischen über Jugendschwärmerei bis zu intimsten Kränkungen durch den Vater.
Saxofonwirbel, Geigenzirpen, Bassgrunzen, Trommelschüsse, Trompetenjaulen - die Musik des Free Jazz, die Delius zunächst wie eine Gehörfolter anspringt, treibt ihn, da er sich auf sie einlässt, auf einen neuen Stand seines Schreibens. Er fühlt, was seinem mitgebrachten "viel zu vernünftigen" Gedicht fehlt: die Musik, das gewagte Spiel, die schrägen Töne, die Lust zu scheitern, vor allem die Bereitschaft, etwas falsch zu machen. Auf Unverständnis zu stoßen und weiter zu machen.
Delius ist mit "Die Zukunft der Schönheit" ein bestechend ehrliches Musikstück in Worten gelungen, zur Ermutigung für alle, denen an der Zukunft der Schönheit liegt - und gegen alle, die an einer Zukunft ohne Schönheit arbeiten.
geboren am 13. Februar 1943 in Rom, aufgewachsen im hessischen Wehrda.
- Friedrich Christian Delius
- 1963-1970 Studium der Literaturwissenschaft (FU und TU Berlin), Dissertation 1971.
- 1970-78 Tätigkeit als Lektor (Wagenbach Verlag, Rotbuch Verlag).
- Seit 1978 freier Schriftsteller: gesellschaftskritische Lyrik, dokumentarische Texte, Romane zu Themen aus der Geschichte der BRD. (wikipedia)
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