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wenn es denn der wahrheitsfindung über die 68er dient ...

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»Der Rechtsstaat war in keinem guten Zustand«

Staatsrechtler Prof. Dr. Christoph Gusy über die Bedeutung der 68er-Bewegung für die Justiz

Die 68er-Bewegung hat Staat und Gesellschaft verändert. Auch Rechtsprechung und Justiz. Darüber hat Andreas Schnadwinkel mit dem Staatsrechtler Prof. Dr. Christoph Gusy von der Universität Bielefeld gesprochen.

Was bedeutet die 68er-Bewegung für den deutschen Rechtsstaat?

Christoph Gusy: Das ist wissenschaftlich bislang eher wenig erforscht. Die juristische Zeitgeschichte hat diese Zeit noch nicht so recht eingeholt. In der Geschichtswissenschaft gibt es eine breite Debatte darüber, ob 1968 überhaupt eigenständig größere Folgen hat oder eine größere Bewegung nur beschleunigt hat. Anders ausgedrückt: Die Folgen von 68 wären auch ohne 68 eingetreten, weil das dem Großtrend der Zeit entsprach. In gewisser Weise stehe ich dieser Position nahe. Ich bin der Auffassung, dass namentlich in Deutschland die 68er-Bewegung nur im Großtrend ihres Jahrzehnts richtig gedeutet werden kann. Hier hatte sie eine Verdichtung und Beschleunigung von Ereignissen und Strömungen zur Folge, die auch ohne diese Verdichtung und Beschleunigung bestanden und erkennbar waren. Das hätte ein bisschen länger gedauert, wäre aber sonst in eine ähnliche Richtung gegangen.

Haben Sie ein Beispiel aus juristischer Sicht?

Gusy: Aus heutiger Sicht würde man ja erwarten, dass wegen der vielen und auch der neuen Formen der Demons­trationen, die es damals gab, das Demonstrationsrecht verschärft worden wäre. Einfach deshalb, um die neuen Formen des Protests in den Griff zu bekommen. Kurioserweise war aber das Gegenteil der Fall. Heißt im Klartext: Der Gesetzgeber machte erst einmal eigentlich nichts. Nachdem die 68er-Bewegung abgeflaut war, versuchte man, eine gewisse Bereinigung rechtlicher Altlasten hinzubekommen. Man fing an, Amnestien zu erlassen für politische Delikte, die nicht mehr so verfolgbar schienen. Man fing an, das Strafrecht zu liberalisieren, wie man auch andere Dinge liberalisierte. Und im Versammlungsrecht entdeckte man eigentlich erst jetzt das Grundrecht der Versammlungsfreiheit. Die 68er hatten insofern einen gewissen Erfolg, als die von ihnen angestrebten Ziele zum Teil verwirklicht wurden. Die Liberalisierung betraf neben dem Strafrecht auch die Rechtsprechung. Von daher reagierte der Staat hier auf Druck nicht mit Gegendruck.

Waren die Notstandsgesetze ein Katalysator für die 68er-Bewegung?

Gusy: Ganz bestimmt. Die Notstandsdebatte war das spezifisch Deutsche an den 68er-Ereignissen. Die Strömung hatte ihr Zen­trum ja nicht in Deutschland, sondern in den USA und in Paris. Bei uns war 68 die ankommende Welle einer internationalen Strömung. Im Mittelpunkt standen die Bewältigung der Reste der nationalsozialistischen Vergangenheit und die Notstandsgesetze. Man stellte sich nämlich damals vor, dass die Notstandsgesetze nicht nur erlassen würden, sondern auch mal angewendet würden. Was in 50 Jahren danach aber nie der Fall war. Nicht mal zu dem Zeitpunkt, als der Staat einen Notstand hatte – während der Attentate und Entführungen der Roten Armee Fraktion, der RAF.

Und die 68er setzten die Notstandsgesetze mit Hitlers Ermächtigungsgesetzen gleich?

Gusy: Ja, in gewisser Weise schon. Die Notstandsgesetze waren eine Art Kulminationspunkt, vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung. Man hatte in den Unterstützern der Notstandsgesetze Feindbilder, das waren damals die Innenpolitiker der CDU und CSU, welche schon länger Pläne für eine solche Gesetzgebung gehegt hatten. Auch die SPD stand als Regierungspartei der Großen Koalition in der Kritik, weil sie sich auf diese Gesetze eingelassen hatte.

Und die Anwendung der Notstandsgesetze gegen die 68er-Proteste stand nie zur Debatte?

Gusy: Doch. Der damalige Bundesinnenminister Paul Lücke schlug genau das vor und goss damit Öl ins Feuer. Das schweißte den Protest natürlich zusammen. Interessanterweise brach der Protest gegen die Notstandsgesetze nach deren Verabschiedung zusammen, da war die Luft raus. In Deutschland war 1968 der Protest gegen die Notstandsgesetze, durch die Notstandsgesetze bedingt und auf die Notstandsgesetze fokussiert.

Welche Angriffsflächen hat der deutsche Rechtsstaat noch 1968 geboten?

Gusy: Die allergrößten NS-Nachlässe waren 1968 schon beseitigt, die Beseitigung erfolgte in der ersten Hälfte der 60er Jahre. Beispielsweise wurden Anfang der 60er hochrangige Richter, die in der NS-Zeit amtiert hatten, reihenweise in den Ruhestand versetzt und damit aus der Schusslinie genommen. Dennoch gab es eine Reihe von gesellschaftlichen Praktiken und Vorschriften, die man mit dem Nationalsozialismus assoziieren konnte. So war das Strafgesetzbuch noch völlig unreformiert. Man durfte beispielsweise kein Zimmer an ein unverheiratetes Paar vermieten, und Homosexualität war noch strafbar. Auch im Familienrecht war die Gleichheit von Mann und Frau noch keineswegs so hergestellt, wie es eigentlich vom Grundgesetz vorgesehen war. Und das Grundgesetz war zu diesem Zeitpunkt immerhin 20 Jahre alt. Kurz gesagt: Der Rechtsstaat war 1968 durchaus noch in keinem guten Zustand und bot Angriffsflächen.

Gibt es dafür noch weitere Beispiele?

Gusy: 1966 erklärte das Bundesverfassungsgericht das so genannte Sammlungsgesetz für verfassungswidrig. Darin stand auch 1966 noch, dass Sammlungen nur zulässig seien für die Partei (d.h. die NSDAP) und deren Untergliederungen. Das war ein typisches Relikt, das stehen geblieben war. Es bestand also ein Reformstau, der zum Teil bis in die Weimarer Republik zurückreichte.


"Wenn's denn der Wahrheitsfindung dient" - Rudi Dutschke und Fritz Teufel | Foto Keystone|Tagesspiegel - coloriert


Haben sich seit oder durch 1968 in Rechtswissenschaften und praktischer Justiz entscheidungsrelevante Wertvorstellungen verändert?

Gusy: Ja, ganz eindeutig. Das erkennt man besonders auffällig daran, dass sich einer der stärksten Proteste gegen die Justiz richtete. Der Satz des Aktivisten Fritz Teufel »Wenn’s denn der Wahrheitsfindung dient« ist bis heute ein geflügeltes Wort. Damals ging es um die Frage, ob man aufstehen müsste, wenn der Richter den Gerichtssaal betritt. Plötzlich wurde die Sinnfrage gestellt. Und die Justiz hat in dieser Beziehung tatsächlich erhebliche Entwicklungen genommen. Das obrigkeitliche Gehabe wird entspannter gesehen, die Architektur der Gerichtssäle hat sich in Richtung Konferenzraum verändert. Entscheidend für die Veränderungen in der Justiz ist auch, dass der Rechtsapparat keine Männerdomäne mehr ist, wie er es damals war.

Sind die Urteile lascher geworden?

Gusy: 1968 war die Resozialisierung eines Straftäters ein neuer Ansatz. Bis dahin herrschten der Vergeltungs- und Präventionsgedanke vor. Und dass es mit der Resozialisierung auch heute noch nicht weit her ist, sehen wir daran, dass es in der Haft oft zu wenige Therapiemöglichkeiten gibt und die Rückfallquoten zum Teil hoch sind.

Der »Marsch durch die Institutionen« hat auch in den Justizapparat geführt. Ist 1968 verantwortlich für das, was heute »Kuscheljustiz« genannt wird?

Gusy: Resozialisierung bedeutet ja nicht »Kuscheljustiz«. Auch der resozialisierende Staat hat seine Freiheitsstrafen und seine Sicherungsverwahrung. Man kann sagen, dass die Justiz seit 68 sensibler geworden ist, was die Menschen und ihre Umwelt angeht. Seit dieser Entwicklung gilt die Empathie den Tätern, sofern sie selbst Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse sind, und auch den Opfern, die bis dahin im Prozess kaum vorkamen.


WESTFALEN-BLATT, Nr. 95, 24.04.2018, S. 5
http://www.westfalen-blatt.de/Ueberregional/Die-68er

In der Geschichtswissenschaft gibt es eine breite Debatte darüber, ob 1968 überhaupt eigenständig größere Folgen hat oder eine größere Bewegung nur beschleunigt hat. Anders ausgedrückt: Die Folgen von 68 wären auch ohne 68 eingetreten, weil das dem Großtrend der Zeit entsprach. In gewisser Weise stehe ich dieser Position nahe. Ich bin der Auffassung, dass namentlich in Deutschland die 68er-Bewegung nur im Großtrend ihres Jahrzehnts richtig gedeutet werden kann. Hier hatte sie eine Verdichtung und Beschleunigung von Ereignissen und Strömungen zur Folge, die auch ohne diese Verdichtung und Beschleunigung bestanden und erkennbar waren. Das hätte ein bisschen länger gedauert, wäre aber sonst in eine ähnliche Richtung gegangen.
Da sind nun die Staatsrechtler und Historiker am Zuge, um über 50 Jahre Vergangenes ein Resümee zu ziehen - und es gelingt ihnen nicht, den Begriff "68er" eindeutig zu benennen und in seinem Umfang und seiner Bedeutung und Ausdehnung zu definieren und einzugrenzen. 

Für mich als bekennenden 68er umfasst der Begriff der "68er" alle Dynamiken, die europa- und sogar weltweit im "Großtrend der Zeit" (Christioph Gusy) im gesellschaftlich-kulturellen Bereich befeuert wurden. Diese Dynamiken bekamen dann umgangssprachlich und "volkstümlich" das Etikett "68er" kennzeichnend aufgepeppt.

Das war so ein "Ruck" der durch die nach Kriegsende noch immer verkrustete Welt ging - im Kleinen wie im Großen.

Man kann die "68er" nicht eingrenzen auf die tatsächlichen Geschehnisse Anno 1968 - und auch nicht auf die Handvoll krakeelender und protestierender Studenten des SDS in Berlin. Das waren nur die populären Marginalen in diesem "Ruck", den bereits der Bundespräsident Roman Herzog 30 Jahre später - 1997 - wieder für Deutschland herbeisehnte.

Es ist schon ein wenig wie die Quadratur des Kreises, dass alle Medien nach 50 Jahren die "68er" in den Fokus rücken, um den Begriff gewinnträchtig zu vermarkten, wo doch gleichzeitig "historisch" gestritten wird darüber, ob überhaupt und welche Bedeutung diesem "künstlichen konstruierten Begriff" nun zukommt ... - aber das ist ja Teil der Medienkampagne im Aschenputtel-Stil - je nach politischem Gusto und belieferter Klientel: "Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen" ...

Auf alle Fälle - es tat sich vor ca. 50 Jahren weltweit etwas, was man heute die "68er" nennt ...- die einen mit Stolz, die anderen voll Abscheu - und mit vielen, die sich nicht durchringen können und diese Epoche einfach verdrängen wollen ...

Und man kann sich durchaus da auf etwas verständigen, was die Zeilen in den Gazetten füllt und was auf dem wie auch immer gefärbten Sofa in den Talkshows um der flankierenden Werbeeinnahmen willen bekakelt wird ...

"68er" - da war doch was ... - S!


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