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einen migrationshintergrund haben wir alle

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MULTIKULTURELLE GESELLSCHAFT

„Wir alle sind einmal der andere gewesen“

Die US-Ahnenforscherin Jennifer Mendelsohn entlarvt einwanderungsfeindliche Politiker, indem sie ihnen die eigene Familiengeschichte unter die Nase reibt. Denn der Stammbaum verrät, was viele vergessen wollen.

Hannes Stein | WELT

Hashtag #resistancegenealogy: Jennifer Mendelsohn twittert zur Ahnenforschung

Jennifer Mendelsohn ist eine freiberufliche Journalistin, die in Baltimore lebt. Bis gerade eben kannte ihren Namen kein Mensch. Aber dann fing sie, in ihrer Küche und in Hausschuhen, an, über Ahnenforschung zu twittern – mit dem Hashtag #resistancegenealogy. Damit nahm sie in Amerika jene Politiker aufs Korn, die sich gegen Einwanderer aussprachen: Sie entlarvte sie als Heuchler.

WELT: Wie kam es zu Ihren Tweets?

Jennifer Mendelsohn: Ich interessiere mich schon seit Jahren intensiv für Ahnenforschung. Alle meine Großeltern waren osteuropäische Juden, und während ich meinen Familienstammbaum untersuchte, stieß ich – was unausweichlich war – auf Themen wie jenes, dass Leute versuchten, als Flüchtlinge anerkannt zu werden, oder verzweifelt versuchten, in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Mit der Zeit wurde mir klar, dass die historische Forschung über meine Familie Bedeutung für die heutige Situation hatte, vor allem, als der Einreisestopp gegen Muslime beschlossen wurde. Also verwendete ich Geschichten aus meiner eigenen Familie, um ein Licht auf den Einreisestopp gegen Muslime zu werfen. Als dann die Rhetorik der Regierung Trump immer aggressiver gegen Einwanderer wurde, dämmerte mir eines Tages, dass es sehr wenige Amerikaner gibt, die ihre Geschichte nicht auf Einwanderer zurückverfolgen können.

WELT: Eigentlich nur die Ureinwohner Amerikas.

Mendelsohn: Die Ureinwohner Amerikas und die meisten Afroamerikaner, deren Vorfahren gegen ihren Willen als Sklaven hierher verschleppt wurden. Die meisten anderen können ihre Familiengeschichte bis zu irgendeinem Schiff zurückverfolgen – die Frage ist nur, wann dieses Schiff angekommen ist. Wirklich angefangen habe ich mit dem Tweeten, als Steve King, der republikanische Kongressabgeordnete aus Iowa, im letzten Januar sagte, wir könnten unsere Zivilisation nicht mit den Babys anderer Leute wiederherstellen. Ich dachte: Wir waren alle irgendwann die Babys anderer Leute! Also beschloss ich, mir seinen Stammbaum anzuschauen.

WELT: Und was haben Sie gefunden?

Mendelsohn: Seine Großmutter kam 1894 als Kind aus Deutschland. Das heißt, sie war ganz buchstäblich eines von diesen Babys.

WELT: Ein sehr brenzliges Thema in Amerika ist im Moment die „Kettenmigration“, also der ungehinderte Zuzug von Familienmitgliedern.

Mendelsohn: Dan Scavino Jr., der im Weißen Haus für soziale Medien zuständig ist, hat gesagt: „Kettenmigration erwürgt Amerika.“ Nun ist „Kettenmigration“ nur ein böses Wort für eine ganz normale Sache, nämlich Familienzusammenführung. Sie gehört zu den Fundamenten unserer Einwanderungspolitik: Einwanderer und Besitzer von „Green Cards“ können ihre engsten Familienmitglieder mitbringen. Jeder, der überhaupt irgendetwas über die Geschichte der amerikanischen Einwanderung kennt, weiß auch, dass das der Geist war, in dem die überwältigende Mehrheit der Einwanderer nach Amerika gekommen ist – und zwar lange, bevor es gesetzlich verankert wurde. Irgendjemand kam hier an, sparte Geld und brachte dann den Rest der Familie über den großen Teich: einen nach dem anderen.

Ich habe mir also den Stammbaum der Familie Scavino angeschaut. Dabei stellte sich heraus, dass Dan Scavino Jr., der so sehr gegen „Kettenmigration“ wettert, selber das Resultat einer „Kettenmigration“ ist. Sein Urgroßvater war ein Einwanderer; er war das dritte von fünf Geschwistern, von denen jeder in einer Kette herüberkam, also die Schiffspassage für das nächste Familienmitglied bezahlte, das herüber wollte, und als dessen Kontaktperson aufgeführt wurde.

WELT: Können Sie mir erklären, warum eine Nation wie die Vereinigten Staaten, die von Einwanderern gegründet wurde und in deren Gründungsdokumenten von dem „Recht auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück“ für jedermann die Rede ist, in unregelmäßigen Abständen durch fiebrige Anfälle von Fremdenhass geschüttelt wird?

Mendelsohn: Das müssen größere Geister als ich beantworten. Ich kann Ihnen nur sagen, dass Benjamin Franklin schon 1751 schrieb, er fürchte, die Deutschen in Pennsylvania könnten nie assimiliert werden und dass sie eher versuchen würde, uns zu Deutschen zu machen, als dass es uns gelingen würde, sie zu amerikanisieren. Und dass sie nie und nimmer Englisch lernen würden. Klar ist, dass Furcht vor dem Fremden eine Rolle spielt – hinzu kommt leider Rassismus, da die gegenwärtige Welle von Immigranten dunklere Haut hat als frühere Einwanderer.

Andererseits gibt es da die Geschichte meiner Großmutter. Sie ist die einzige gebürtige Amerikanerin: Ihre Wiege stand 1906 in New York. Und ihre Schwestern wollten nicht, dass sie meinen Großvater heiratet. Warum? Nun, weil er ein Einwanderer war. Ich wurde neugierig und forschte nach und stellte fest, dass eine jener Schwestern 1895 in New York geboren worden war. Ihre Mutter aber war 1891 angekommen, also nur vier Jahre früher – aus der heutigen Ukraine. Es gibt, scheint’s, ein Anspruchsdenken, das sich blitzschnell entwickelt. Man bekommt die amerikanische Staatsbürgerschaft, also ist man Amerikaner, und plötzlich sind die anderen nicht mehr gut genug, um Amerikaner zu sein.

WELT: Das ist ja wie im Zugabteil! Der Erste, der dort sitzt, fühlt, dass ihm das Abteil ganz allein gehört. Wenn der Nächste zusteigt, funkelt er ihn giftig an. Aber wenn an der Haltestelle danach ein dritter Fahrgast die Abteiltür öffnet, sind die ersten beiden schon Alteingesessene. Darum verteidigen sie nun gemeinsam ihr Territorium mit bösen Blicken. Wahrscheinlich ist das Ganze genetisch veranlagt.

Mendelsohn: Ich weiß nicht. Wahrscheinlich fühlen Leute sich besser, wenn sie auf andere herabschauen können. Jedenfalls gibt es Millionen von amerikanischen Karikaturen, die sich gegen Einwanderer richten. Dan Scavino Jr. sollte sich mal anschauen, wie früher über Amerikaner italienischer Abstammung geredet wurde. Wir alle sind irgendeinmal „der Andere“ gewesen.

WELT: Wenn Sie Jüdin osteuropäischer Abstammung sind, haben Sie Familienmitglieder im Holocaust verloren.

Mendelsohn: Der tiefste Verlust für meine Familie war der Bruder meines Großvaters und seine gesamte Familie. Mein Großvater war eines von sieben Geschwistern. Sie alle kamen zusammen mit ihrer Mutter nach Amerika, aber dem ältesten Bruder, der 1913 für ein Jahr in die Vereinigten Staaten kam, gefiel es in New York nicht, also fuhr er zurück. Wir haben eine Folge von zunehmend verzweifelten Briefen, die er 1939 aus dem von den Nazis besetzten Polen schrieb und in denen er seine Familie in New York anflehte, ihm zur Flucht zu verhelfen – später flehte er, einer von seinen Töchtern zu helfen. Er sagte, er werde einen Brief an Präsident Roosevelt schreiben und ihm sagen, dass er Familie in Amerika habe und dass seine Eltern in Amerika begraben seien. Aber es half alles nichts. Er und seine Frau und ihre vier Töchter wurden ermordet.

Diese Geschichte kannte ich, als ich aufwuchs, weil mein Großvater sie mir erzählte, der durch diesen Verlust natürlich am Boden zerstört war; sie hing wie ein Schatten über meiner Familie. Doch als ich anfing, Ahnenforschung zu betreiben, fand ich mehr als fünfzig Mitglieder meiner weiteren Familie, die ermordet wurden, darunter Cousins ersten, zweiten und dritten Grades meines Großvaters väterlicherseits. Ganze Zweige meines Stammbaumes wurden dezimiert. Ich hatte außerdem das Glück, die Großmutter meines Mannes kennenzulernen. Sie war eine Überlebende des Holocaust. Sie starb im vergangenen Jahr. Ihre gesamte engere Familie wurde ermordet.

WELT: Wenn man in Amerika den Fernseher einschaltet, sieht man viele Firmen, die DNA-Tests anbieten, mit deren Hilfe man herausfinden kann, wo die Vorfahren herkommen. Was halten Sie davon?

Mendelsohn: Ich finde es großartig. Ich habe DNA-Tests mit großem Gewinn benutzt, um meinen eigenen Stammbaum zu erforschen; sie sind ein wunderbares neues Instrument im Werkzeugkasten des Ahnenforschers.

DIE WELT edition © Axel Springer SE. Alle Rechte vorbehalten

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nichts ist so beständig wie der wandel - lautet eine doch so paradox klingende binsenwahrheit - und nichts ist so migrationsmäßig vielgliedrig durchzogen wie der ahnen-stammbaum der angeblich "alt-eingesessenen" ...

ja - selbst der name orbán ist sooo ur-magyarisch-ungarisch nicht - und der name ist im belgischen und lothringischen durchaus auch in alten zeiten anzutreffen: was war also zuerst? - huhn oder ein??? ...

ich glaube - ein "normaler" stammbaum strotzt nach so vielen großen kriegen mit fluchtaktionen von a über b nach c nur so vor familien-urahnen - allesamt mit migrationshintergrund ... - und meistens waren das schlichtweg neben der flucht vor der vernichtung besonders auch die flucht aus wirtschaftlichen gründen. gerade in den vielvölkerstaaten des balkan waren es ja nach dem 30-jährigen krieg und den türkenkriegen "staatlich" eingesetzte "menschenwerber", die sogar mit finanziellen mitteln für die einwanderung warben - und viele machten sich wegen der erbfolge bei nacht und nebel auf den weg ...-S!


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