Erziehung zum Widerstand
"1968 - Land im Aufbruch": Die antiautoritäre Bewegung bricht radikal mit einem Bildungssystem, das auf Strenge und Zwang setzt. Kinder sollen frei von Gewalt aufwachsen, demokratisch und selbstbestimmt. Auch in OWL entstehen Kinderläden
Von Sigrun Müller-Gerbes | NW
Als die Erzieherin auf warme Jacken besteht, weil es kalt draußen ist, reicht es den Kleinen. Aufruhr im Kinderladen Laerstraße in Bielefeld. Die Praktikantin des "Vereins für fortschrittliche Kindererziehung" muss Plakate malen für eine Demonstration: "Wir wollen alleine bestimmen!" Das tun die Kinder dann auch, erinnert sich Kita-Leiterin Eva Duda an die Episode in den 70ern - bis sie daran scheitern, ein Mittagessen auf den Tisch zu bekommen. "Dann haben sie eingesehen, dass sie Hilfe brauchen. Dass unsere Regeln sinnvoll sind." Kinder nicht zum Gehorsam zu zwingen, sondern sie eigenständig Erfahrungen und Einsichten gewinnen zu lassen: Damals war das Konzept in der Laerstraße revolutionär.
Oder, um es mit dem Schlagwort der 68er zu sagen: antiautoritär. Bis 1973 hatten Lehrer noch das Recht, Kinder körperlich zu züchtigen. In Kindergärten der 60er war es üblich, Kinder festzubinden, wenn sie nicht gehorchten. Eine "unvorstellbare Hierarchie" habe geherrscht im Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen, sagt Bildungsforscher Klaus Hurrelmann.
"Wir Eltern hatten alle selbst eine sehr autoritäre Erziehung erfahren", berichtet Kinderladen-Gründerin Dietlind Wild, die 1968 mit ihrem Mann Heiner und der einjährigen Tochter aus Berlin nach Bielefeld gekommen war. Sie holte eine Gruppe von Eltern zusammen, die die Überzeugung einte: Es gibt eine unmittelbare Linie von der autoritären Erziehung zum Grauen von Auschwitz. Wild: "Wir wollten unsere Kinder anders aufwachsen lassen, offen, demokratisch. Sie sollten lernen, sich gegen Autoritäten zu wehren."
Frei von Zwang: Drei Kinder im Bielefelder Kinderladen Laerstraße. Foto: archiv kinderladen | nw - nachträglich coloriert u. bearbeitet |
Auch die
Bielefelder Laborschule
ist ein Kind der 68er
In der Sprache der Kritiker hieß das damals wie heute: Den Kindern keine Grenzen setzen, sie einfach machen lassen, sie im Grunde vernachlässigen. Eine "Erziehungskatastrophe" habe das ausgelöst, kritisierte beispielsweise Autorin Susanne Gaschke. Die Generation 68 habe sich in dem "bequemen Glauben" eingerichtet, "das Kind wisse schon selbst am besten, was gut für es sei" - und verzichte deshalb schlicht auf Erziehung.
Wild widerspricht: "Es gab Grenzen." Vor allem im Umgang miteinander. Die Kinder durften sich nicht gegenseitig verletzen oder in Gefahr bringen und sollten lernen, Rücksicht zu nehmen. "Mit laissez-faire - alles einfach laufenlassen - hatte das nichts zu tun."
Aber es gab auch die Kinderläden, in denen schon der Begriff Erziehung tabu war - weil im "Ziehen" bereits Gewalt anklingt. Die antiautoritäre Bewegung habe "eine brutale Gegenposition" gegen traditionelle Erziehungsmodelle bezogen, analysiert Hurrelmann. Sie sei unerträglich belehrend und ideologisch aufgetreten. Und sie habe unter dem Deckmäntelchen der Gleichberechtigung zwischen Jung und Alt die "krankhaften Auswüchse" erst möglich gemacht, die Jahrzehnte später als Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule Schlagzeilen machten.
Ansonsten aber betont der Wissenschaftler, der lange Professor in Bielefeld war, welche Verdienste die 68er um die Liberalisierung der Erziehung erworben haben. Die Idee, dass Kinder ohne Gewalt groß werden sollten, habe eine enorme Strahlkraft entwickelt - auch, wenn nur ein Bruchteil der Kinder in Kinderläden betreut wurden. "Plötzlich mussten sich Eltern rechtfertigen, wenn sie ihre Kinder schlugen."
Und Hurrelmann gibt zu bedenken: Die autoritären Strukturen seien so verkrustet gewesen, "da brauchte es einen radikalen Befreiungsschlag". Dass heute "70 Prozent der Eltern eine gute, ruhige Mischung" zwischen autoritativer Erziehung und Partizipation pflegten - liebevolle Strenge nennt der Bildungsforscher das -, sei auch ein Resultat der damaligen Debatten.
Genau wie die Veränderungen im öffentlichen Bildungswesen. Heute gibt es keine Kitas mehr, in denen Kinder an den Tisch gezwungen werden, bis sie alles aufgegessen haben. "Extrem" hätten sich Betreuungseinrichtungen verändert.
Was die Kinderläden für die Kindergärten waren, das war womöglich die Bielefelder Laborschule für manche Regelschule: Anstoß, die eigene Praxis zu überdenken. Auch die Laborschule ist ein Kind der 68er. In dem Jahr kam Reformpädagoge Hartmut von Hentig an die Uni Bielefeld, mit Plänen für eine Schule, die die Kinder nicht zum Pauken zwingt, sondern auf Neugier und Entdeckerfreude setzt. Eine Schule, die bestimmt ist von offenen Räumen, Kleingruppen, fächer- und jahrgangsübergreifendem Unterricht. Bis heute ist das Leitbild der Schule der "freie, selbst denkende Mensch", wie es Christine Biermann formuliert, seit zwölf Jahren didaktische Leiterin.
Von Anbeginn habe die Schule ein Schulparlament in allen Altersgruppen gehabt, und viele Elemente der Mitbestimmung. Noten gibt es hier erstmals am Ende der Klasse neun, damit die Kinder einen anerkannten staatlichen Schulabschluss haben.
Ist die Laborschule eine antiautoritäre Schule? "Nein, sind wir nicht", widerspricht Biermann, "waren wir nie. Kritiker hätten mitunter geglaubt, in der Schule sprängen die Kinder über Tisch und Bänke, ohne etwas zu lernen. Aber: "Wir waren nie eine Schule, in der sich die Kinder morgens überlegen konnten: ,Machen wir Unterricht oder doch lieber nicht??" Also doch kein Kind der 68er? In einer Hinsicht auf jeden Fall, erläutert Christian Timo Zenke, der sich an der Uni wissenschaftlich mit der Geschichte der Schule beschäftigt: "Ohne das Klima des gesellschaftlichen Aufbruchs wäre die Gründung der Laborschule nie möglich gewesen."
Kinderladenbewegung
Der erste Kinderladen wurde 1967 in Frankfurt gegründet - von Monika Seifert, die heute als "Mutter der antiautoritären Kinderläden" gilt.
Richtig los ging es mit der Bewegung 1968 in Berlin: Angetrieben und organisiert vom "Aktionsrat zur Befreiung der Frau" - einem Zusammenschluss von Frauen aus der Studentenbewegung - entstanden in vielen Stadtvierteln Elterninitiativen. Getragen waren sie von sozialistischen Idealen und der Vorstellung eines emanzipatorischen "Kinderkollektivs".
Mehr als 270 solcher Einrichtungen zählte Berlin in den 70er-Jahren.
es ging gegen alle tabus - erziehung zur freiheit ... -
leider hatten damals die akteure vergessen, dass "erziehung" - etwas mit "ziehen" und "ge(er)zogen werden" zu tun hatte - aber nicht mehr unbedingt mit "zögling": ein totales laissez fair führte jedoch in die orientierungslosigkeit. in jenen jahren machte ich eine erzieher-ausbildung - und unser studienleiter mahnte immer: die kinder brauchen zwei eingrenzende stützgeländer, sonst geraten sie in die irre und fallen ... - und genau dieser grundsatz wurde zu oft nicht beachtet bei aller freiheitsliebe ...
oder wie ich es neulich vom vater eines konfirmanden gehört habe, der als bauleiter tätig ist: "was wir dir (dem sohn) mitgeben können ist ein "fundament", auf das du aufbauen kannst - aber das "richtfest" ist dann dein werk" ...
oder wie ich es neulich vom vater eines konfirmanden gehört habe, der als bauleiter tätig ist: "was wir dir (dem sohn) mitgeben können ist ein "fundament", auf das du aufbauen kannst - aber das "richtfest" ist dann dein werk" ...
ansonsten war es schon wichtig, dass die quasi "paramilitärischen" erziehungsmaßnahmen mit drill und "stillgestanden" endlich ein ende fanden und überwunden wurden ...
die kinder waren nicht mehr die nur nasgeführten, sondern konnten wählen - aber in einem begrenzten rahmen ... - eben, um sich nicht zu verirren ... - S!