tiefeninterview - S!|photo |
"68" von Karin Wetterau:
„Ein emanzipatorischer Aufbruch“
Interview mit Karin Wetterau über ihr Buch „68", ihre Interviews mit Ehemaligen der Studentenbewegung, den Weg Linker nach Rechtsaußen sowie Erfolge und Irrtümer der Aktivisten.
Frau Wetterau, Sie haben Ihr Buch als „Familienroman" betitelt. Es ist aber kein Roman sondern ein Sachbuch. Warum diese Bezeichnung?
Karin Wetterau: Der Begriff ist Freuds Psychoanalyse entlehnt und beschreibt den entwicklungspsychologisch notwendigen und zugleich schmerzhaften Ablösungsprozess der nachfolgenden Generation von den Eltern. Die kollektive Abgrenzung der 68er von der in den Nationalsozialismus verstrickten Elterngeneration gleicht diesem Vorgang. Roman deshalb, weil die Erinnerungen der Zeitzeugen nie wiedergeben, wie es wirklich war, sondern wie die Beteiligten ihre Geschichte deuten. In diesem Sinn wird die Revolte von mir als „Familienroman" erzählt.
Sie haben Zeitzeugen interviewt. Nach welchen Kriterien haben Sie sie ausgewählt?
Wetterau: Der Anlass, mich überhaupt mit dem Thema zu befassen, war die Rechtsradikalisierung ehemaliger linker Führungsfiguren aus der Studentenbewegung. Dazu habe ich Bernd Rabehl interviewt, der einst ein führender Kopf der Bewegung war und seit einiger Zeit als Nationalrevolutionär im rechtsradikalen Lager und im Dunstkreis der NPD agiert. Er behauptet, die linke Studentenbewegung sei Ausdruck einer nationalen Empörung gewesen, insofern sei er seinem Denken treu geblieben. Ehemalige Mitstreiter aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) sind dem öffentlich entgegengetreten. Über sie habe ich weitere Kontakte erhalten und insgesamt 22 Interviews für mein Buch geführt und das Thema viel weiter gefasst als geplant.
Was verbindet die 68er in ihren Interviews?
Wetterau: Ich bin ja selbst eine 68erin und habe immer angenommen, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, auch als verdrängte Familiengeschichte, sei das Verbindende dieser politischen Generation. Da hat es mich schon sehr überrascht, dass viele der Befragten betont haben, Vergangenheitsbewältigung habe 1968 keine Rolle gespielt. Auf der Agenda standen vielmehr der Vietnamkrieg, die Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt", die Hochschulpolitik sowie ein von der Popkultur inspiriertes Lebensgefühl. Eins wird in den Gesprächen klar, eine idealtypische 68er-Biografie gibt es nicht.
Dass die Bewältigung der NS-Vergangenheit nicht der Motor der 68er gewesen sein soll, klingt in der Tat überraschend. Wie bewerten Sie die Einschätzung?
Wetterau: Ich halte das für einen Scheinwiderspruch. In den Interviews wird deutlich, dass das Thema im Vorfeld der Bewegung im SDS – also Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre – eine große Rolle gespielt hat und gewissermaßen die Hintergrundfolie und den Deutungshorizont für die großen politischen Themen der 68er-Bewegung abgegeben hat. Der Bezug zur NS-Thematik war unterschwellig immer präsent und schließlich sind es die 68er, die die Aufarbeitung der NS-Verbrechensgeschichte vorangetrieben haben und eine Erinnerungskultur etabliert haben, die inzwischen weltweit als vorbildlich gilt. Sich der internationalen Protestbewegung anzuschließen und Solidarität mit den Guerillakämpfern in Lateinamerika zu demonstrieren, sei eben viel einfacher gewesen, betont einer der von mir Befragten, als sich der eigenen Geschichte und Familiengeschichte zu stellen.
Sie haben vorhin gesagt, dass Ihr Forschungsinteresse ursprünglich ehemaligen 68ern galt, die sich später politisch weit nach rechts orientiert haben. Wie erklären Sie sich solche politischen Karrieren?
Wetterau: Eine Erklärung habe ich nicht, aber ich vermute, dass sich trotz der Abgrenzung von der Generation der Eltern bis hin zum offenen Bruch auf unterirdischen Kanälen und über emotionale Bindungen dennoch Einstellungen und Verhaltensmuster tradiert haben, die diesem erstaunlichen Renegatentum den Boden bereitet haben. Horst Mahler zum Beispiel erklärt seinen Weg von ganz links nach extrem rechts mit der Liebe zu seinem Vater, einem glühender Hitler-Anhänger, der sich umgebracht habe, weil er den Untergang des „Dritten Reichs" 1945 nicht verkraftete. Mahler, der heute den Holocaust leugnet, sieht sich nach eigenem Bekunden in der Pflicht, zu kämpfen, wofür sein Vater gekämpft habe. Ich empfinde das als eine besonders bizarre Form der deutschen Tragödie.
Waren die 68er ihren Eltern von der Mentalität womöglich doch ähnlicher als sie dachten?
Wetterau: Das lässt sich durch meine Interviews nicht belegen. Als beteiligte Zeitzeugin kann ich allerdings sagen, dass autoritäre Charakterstrukturen bei vielen Aktivisten durchaus zu beobachten waren. Was vielleicht auch erklärt, dass die antiautoritäre Emphase der Studentenbewegung in den rigiden Autoritarismus der K-Gruppen umschlug und für einige gar den Weg in den Terrorismus geebnet hat.
Was haben die 68er letztendlich bewirkt in diesem Land?
Wetterau: Sie haben die Republik nachhaltig mitverändert. Aber nicht im Sinne des proklamierten Ziels, den Kapitalismus zu überwinden und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Davon hat sich nichts erfüllt. Aber die 68er haben dem Land einen Demokratisierungsschub gebracht und mit dazu beigetragen, dass wir heute ein offenes, demokratisches Klima haben.
Was waren die größten Irrtümer der 68er?
Wetterau: 68 war keine homogene Bewegung, sondern ein emanzipatorischer Aufbruch, in dem unterschiedlichste Strömungen zusammenflossen. Erst im Zerfallsprozess nach 68 werden Irrtümer und Irrwege sichtbar. Der Weg in die Gewalt, der Terror der RAF und die Rigidität der K-Gruppen stehen dafür. Im bedenkenlosen, vermeintlich revolutionären Aktionismus äußert sich eine erschreckende Realitätsverweigerung.
Haben Sie Angst vor einem Rollback unserer offenen Gesellschaft?
Wetterau: Ja, und es beunruhigt mich sehr, dass einige der 68er Aktivisten heute bei rechten Organisationen als Vordenker aktiv sind und gegen die damals erkämpften Errungenschaften agitieren. Sie drehen die linke Rhetorik um und füllen sie mit rechten Inhalten. Insbesondere die Renaissance eines fremdenfeindlichen Nationalismus finde ich besorgniserregend, gerade auch hierzulande, wo wir auch dank der 68er Bewegung lange Zeit immun dagegen zu sein schienen.
Information
- Karin Wetterau, Jahrgang 1945, studierte Germanistik und Geschichte an den Unis Kiel und Berlin und erlebte den studentischen Aufbruch als beteiligte Zeitzeugin an der Freien Universität.
- Sie war Lehrerin in der Erzieher-Ausbildung, danach Lehrerin im Zweiten Bildungsweg und am Gymnasium. Seit Anfang der 90er Jahre Lehrbeauftragte und Lehrerin im Hochschuldienst an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.
- Karin Wetterau lebt in Bielefeld und Italien.
Karin Wetterau: „68 – Täterkinder und Rebellen. Familienroman einer Revolte", 326 S., Aisthesis, Bielefeld, 28 €
_______________________________________________
Als Rüdiger Safranski noch Flugblätter warf
Karin Wetterau versucht die Achtundsechziger mit Tiefeninterviews zu erkunden
Schon der Titel dieses Buchs - er ist sozusagen nicht doppelt, sondern dreifach gemoppelt - lässt befürchten, dass Karin Wetterau den Gedanken, um den es ihr geht, nicht richtig zu fassen bekommen wird. "68. Täterkinder und Rebellen. Familienroman einer Revolte" - diese seltsam umständliche und überdeterminierte Zusammenballung schwerer Zeichen passt gut auf ein Buch, das sich nicht entscheiden kann, was es eigentlich sein will. Vorgenommen hatte sich Karin Wetterau offenbar eine Art Seelengeschichte der sogenannten Achtundsechziger-Generation.
Deutlich erkennbares Vorbild sind Heinz Budes Bücher über die Alterskohorte der Flakhelfer und ihre "Deutschen Karrieren" sowie dessen Achtundsechziger-Buch über "Das Altern einer Generation". Die heuristische Methode ist - wie bei Bude - das Tiefeninterview, eine am psychoanalytischen Übertragungsgeschehen geschulte Befragungstechnik, die neben den manifest geäußerten Inhalten auch unbewusste Signale zur Kenntnis nimmt und ausdeutet. Karin Wetteraus psychoanalytisches Interpretationsmodell hat Freuds Theorem vom "Familienroman der Neurotiker" geliefert. Freud hatte beschrieben, dass bestimmte "Typen aus der psychoanalytischen Arbeit" sich Ersatzeltern erträumen, die in ihre unbewussten Interessenlagen besser hineinpassen als die wirklichen. Ein anspruchsvoller methodischer Ansatz, aus dem man viel hätte machen können. Er hat die Autorin jedoch sichtlich überfordert.
Wer sich an die kultische (deutlich von unbewussten Energien gespeiste) Verehrung erinnert, die intellektuellen Leitfiguren wie Adorno oder Herbert Marcuse bis in die achtziger Jahre hinein entgegengebracht wurde, muss den Gedanken einleuchtend finden, dass sich die studentischen Rebellen linke, bezeichnenderweise oft jüdische Vaterfiguren vor allem deshalb innerlich anverwandelt haben, weil ihre leiblichen Eltern aufgrund deren Mittäter- oder Mitläuferschaft in den NS-Jahren nicht nur ihrem politischen Bewusstsein verdächtig, sondern auch ihrem Unterbewussten tief unheimlich waren.
Die Methodik des Tiefeninterviews könnte Aufschlüsse darüber erwarten lassen, wie sich der politisierte Familienroman zahlreicher Einzelner zu einer gesellschaftlichen Bewegung zusammengeschlossen hat. Aber Wetteraus ganz konventionelle Darstellung der Protestbewegungen seit 1968 bleibt von den individuellen und oft sehr schmerzhaften Erfahrungen, die sie in ihren Interviews dokumentiert, seltsam unberührt. Wir erfahren interessante Details - wie zum Beispiel dass Bernd Rabehls Vater im Krieg der "Assistent", wie Wetterau schreibt, Gottfried Benns gewesen ist oder dass der nachmalige Maoist Rüdiger Safranski mit der Verteilung von Flugblättern des "Kuratoriums Unteilbares Deutschland" politisch debütierte - die er dann freilich, weil dieser von den "Heinzelmännchen" bezahlte Studentenjob ihm peinlich war, unverteilt wieder nach Hause gebracht und jahrelang als Notizzettel verwertet hat.
Aber aus den zum Teil sehr interessanten Passagen der Tiefeninterviews, die Karin Wetterau durchgeführt hat, wird in ihrer Interpretation nichts deutlich, was wir nicht aus Fichters und Lönnendonkers Geschichte des SDS, Gerd Koenens Buch über das "Rote Jahrzehnt" oder dasjenige Philipp Felschs über den "Langen Sommer der Theorie" schon längst wüssten. Karin Wetterau hantiert mit ihrem differenzierten psychoanalytischen Besteck wie jemand, der einen Teilchenbeschleuniger dazu benutzt, eine Bierdose aufzumachen.
Unter der überschaubaren Anzahl von Gedanken in diesem Buch, die man nicht oft und trennschärfer anderswo gelesen hat, fallen zwei ins Auge: der tatsächlich oft übersehene Gesichtspunkt, dass viele Achtundsechziger nicht, wie Jean-Luc Godard glaubte, wohlstandsverwöhnte "Kinder von Marx und Coca-Cola" waren, sondern verstörte und um ihre Kindheit betrogene Kriegskinder. Und zweitens der merkwürdige Umstand, dass zwei ihrer einflussreichsten Protagonisten - Horst Mahler und Bernd Rabehl - während der neunziger Jahre publikumswirksam vom extrem linken ins extrem rechte Lager gewechselt sind.
Vermutlich hängen diese beiden Denkwürdigkeiten miteinander zusammen - auf verschlungenen unbewussten Seelenpfaden, die Karin Wetterau auf geradezu dramatische Weise nicht aufzudecken vermag. Gerade die Passagen über Bernd Rabehl, den sie ausführlich interviewt hat, sind ein Paradebeispiel dafür, wie man aus exzellentem Originalton-Material so gut wie überhaupt nichts Lesenswertes machen kann. Geholfen hätte vermutlich Freuds erwähntes Gedankenmodell jener phantasierten Eltern, die den "Familienroman des Neurotikers" bevölkern. Denn die nationale Identität, der sich Rabehl heute verschreibt, ist ebenso eine Reihe von erfundenen Vätern wie der berühmte Profilfries aus Marx, Engels, Lenin und Mao, der die SDS-Plakate und später das Frontispiz der verschiedenen maoistischen Parteizeitungen schmückte.
Aber Freuds Begriff wird nirgends fruchtbar gemacht und taucht nach seinem vielversprechenden Auftritt im Titel des Buches so gut wie überhaupt nicht mehr auf. Statt die skandalöse Wendung Rabehls begreifbar zu machen und damit wirksam zu kritisieren, flüchtet sich Wetterau passagenweise in die Vorstellung, hier seien Missverständnisse am Werk: "Der Begriffswirrwarr macht es möglich. Man spricht dieselbe Sprache, verwendet dieselben Begriffe, meint aber Verschiedenes." Dann wieder empört sie sich im Stil einer Leserbriefschreiberin: "Dass die unvorhergesehene Karriere des linken Antiimperialismus zum rechtsradikalen Ressentiment in der Logik von 68 gelegen habe, muss indes entschieden zurückgewiesen werden."
In der Analyse unbefriedigend - so muss man den inhaltlichen Gehalt dieses schön und mit zahlreichen, zum Teil farbigen Bildern aufgemachten Buches zusammenfassen. Es fällt trotz seines hohen Anspruchs weit hinter die bereits erreichten Standards der Achtundsechziger-Literatur zurück.
STEPHAN WACKWITZ - FAZ v. 08.08.2017