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dr. med. algorithmus - fluch & segen ...

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Doktor Algorithmus

von Thomas Schulz | SPIEGEL.de



Zukunft🔴 Das Silicon Valley stürzt sich auf die Medizin: Konzernriesen wie Google und Hunderte neue Start-ups arbeiten an neuen Behandlungsmethoden. Krebs soll per Bluttest entdeckt, das Leben verlängert und der Mensch mit Maschinenimplantaten aufgerüstet werden.

Hin­ter meh­re­ren Si­cher­heits­schleu­sen, in ei­ner fens­ter­lo­sen Werk­statt, schrau­ben In­ge­nieu­re am Chir­ur­gen der Zu­kunft: eine Ma­schi­ne, aus­ge­stat­tet mit künst­li­cher In­tel­li­genz (KI), ein­ge­bet­tet in vir­tu­el­le Rea­li­tät und be­wor­ben als »Kom­plett­lö­sung für alle Ope­ra­ti­ons­sä­le«. Gleich ne­ben­an ar­bei­ten For­scher an in den Men­schen im­plan­tier­ba­ren Mi­ni­com­pu­tern, die elek­tri­sche Si­gna­le in den Ner­ven­bah­nen ma­ni­pu­lie­ren, um auf die­se Wei­se Krank­hei­ten zu be­han­deln: der ers­te Schritt in eine neue »bio­elek­tri­sche Me­di­zin«.

Ei­ni­ge Tü­ren wei­ter geht es um neue The­ra­pi­en ge­gen Krebs und De­pres­si­on, ent­wi­ckeln fast tau­send Wis­sen­schaft­ler neue Bio­sen­so­ren, Me­di­zin­ro­bo­ter, Me­di­ka­men­te. Sie kom­men aus den un­ter­schied­lichs­ten Fel­dern; aus Bio­lo­gie, Me­di­zin, Che­mie, Ma­te­ri­al­wis­sen­schaf­ten, In­for­ma­tik, Ma­schi­nen­bau.

Und sie alle for­schen für Goog­le.

Als der In­ter­ne­trie­se vor fünf Jah­ren erst­mals an­kün­dig­te, nun auch die Me­di­zin er­obern zu wol­len, ha­ben noch vie­le in den Chef­eta­gen der Phar­ma­fir­men ge­lacht. Die An­fän­ge wa­ren be­schei­den: zwei Dut­zend Goog­le-Mit­ar­bei­ter, aus­ge­la­gert in ei­nen nichts­sa­gen­den Bun­ga­low am Ran­de des Fir­men­haupt­quar­tiers im Si­li­con Val­ley.

Aber nun brei­tet sich be­reits ein fünf­stö­cki­ges Kar­ree aus Stahl und grü­nem Glas an der Bucht von San Fran­cis­co aus, ein ei­gen­stän­di­ger For­schungs­cam­pus rund 40 Ki­lo­me­ter nörd­lich des Goog­le-Haupt­quar­tiers, groß wie eine gut aus­ge­stat­te­te Uni­kli­nik, mit zahl­lo­sen La­bo­ra­to­ri­en hin­ter Sicht­schutz­glas. In der Lob­by wächst Gras die Wän­de hoch.

Aus der Ab­tei­lung ist eine ei­gen­stän­di­ge Fir­ma ge­wor­den, Ve­r­i­ly, un­ter dem Dach des Goog­le-Mut­ter­kon­zerns Al­pha­bet. Pro­mi­nen­te Me­di­zi­ner und selbst der Chef der US-Auf­sichts­be­hör­de für Le­bens- und Arz­nei­mit­tel wech­sel­ten zu Ve­r­i­ly, an­ge­zo­gen von hoch­flie­gen­den Plä­nen: »Un­se­re Mis­si­on ist es, die Ge­sund­heits­da­ten der Welt nutz­bar zu ma­chen, da­mit wir ge­sün­der le­ben kön­nen«, sagt Jes­si­ca Mega, Chef­me­di­zi­ne­rin von Ve­r­i­ly. Sie ist eine der füh­ren­den Kar­dio­lo­gin­nen der USA, war zu­vor Pro­fes­so­rin an der Har­vard Me­di­cal School.

Sie lä­chelt fast un­un­ter­bro­chen, wäh­rend sie über die Plä­ne von Ve­r­i­ly spricht: eine neue me­di­zi­ni­sche Platt­form zu bau­en, »die In­fra­struk­tur für die di­gi­ta­le Ge­sund­heits­welt« zu schaf­fen. Mehr als eine Mil­li­ar­de Dol­lar stell­te Goog­le dazu be­reit – für den An­fang.

Aber trotz sol­cher gro­ßen An­stren­gun­gen läuft Goog­le längst nicht mehr al­lein vor­weg bei dem Ver­such, die Ge­sund­heit zu di­gi­ta­li­sie­ren. Das gan­ze Si­li­con Val­ley stürzt sich auf die Me­di­zin, die gro­ßen Kon­zer­ne von App­le bis Face­book ge­nau­so wie Hun­der­te Start-ups. Die Wag­nis­ka­pi­tal­fir­men in­ves­tie­ren Mil­li­ar­den in Bio­tech­no­lo­gie und Ge­sund­heit.

In den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten hat die di­gi­ta­le Re­vo­lu­ti­on eine In­dus­trie nach der an­de­ren er­obert und um­ge­krem­pelt – und da­bei auch grund­le­gend ver­än­dert, wie wir le­ben. Die Si­li­con-Val­ley-Stra­te­gen sind nun über­zeugt: Kein Be­reich sei bes­ser ge­eig­net, von den im­mer mäch­ti­ge­ren di­gi­ta­len In­stru­men­ten re­vo­lu­tio­niert zu wer­den als un­se­re ei­ge­ne Bio­lo­gie. Nir­gends bie­te sich eine grö­ße­re Chan­ce, den Weg der Mensch­heit zu ver­än­dern. Und neue Ge­schäfts­fel­der zu er­schlie­ßen.

Da­ten sind der Schlüs­sel für die­se Zu­kunfts­me­di­zin: aus­ge­le­sen aus Ge­rä­ten, Ge­no­men, Sen­so­ren und zahl­lo­sen Tests zu al­len mög­li­chen Bio­mar­kern, von der bak­te­ri­el­len Be­sied­lung des Darms bis zur Pro­te­in­zu­sam­men­set­zung. Und ana­ly­siert und auf­be­rei­tet durch klu­ge Soft­ware, die da­zu­lernt und Mus­ter selbst in rie­si­gen In­for­ma­ti­ons­men­gen er­kennt. Wo der Arzt nicht mehr durch­blickt, lie­fert Dok­tor Al­go­rith­mus Ant­wor­ten.

»Stell dir eine Zukunft vor,
in der du alterst,
aber ohne die Krankheiten deiner Eltern.«

Die größ­ten Chan­cen für neue di­gi­ta­le In­stru­men­te se­hen vie­le der Si­li­con-Val­ley-Tech­no­lo­gen zu­nächst nicht in der Be­hand­lung, son­dern in der Dia­gno­se. Ve­r­i­ly ar­bei­tet des­we­gen der­zeit vor al­lem dar­an, »die mensch­li­che Ge­sund­heit zu kar­to­gra­fie­ren«, wie Mega sagt. Dazu sam­melt das Un­ter­neh­men ge­mein­sam mit Uni­ver­si­tä­ten über vier Jah­re alle denk­ba­ren Bio­da­ten von 10 000 Men­schen: ge­ne­ti­sche, mo­le­ku­la­re, psy­cho­lo­gi­sche.

Die Teil­neh­mer wur­den un­ter an­de­rem mit neu­en Sen­so­ren und Mess­ge­rä­ten aus­ge­stat­tet, die rund um die Uhr Da­ten lie­fern. Am Ende soll ge­nau de­fi­niert sein: Was ist ein ge­sun­der Mensch? Um mit die­sen Wer­ten die neu­en di­gi­ta­len Mess­ge­rä­te zu ei­chen. Dann lie­ßen sich di­gi­ta­le Früh­warn­sys­te­me für vie­le Krank­heits­bil­der bau­en, die den Arzt warn­ten: Ach­tung, hier bahnt sich et­was an.

Die meis­ten Krebs­for­men etwa sind heu­te schon be­han­del­bar, vie­le so­gar heil­bar, so­lan­ge sie nur recht­zei­tig er­kannt wer­den. Erst wenn die Tu­mo­ren zu lan­ge un­er­kannt blei­ben und die Pa­ti­en­ten be­reits im drit­ten oder vier­ten Sta­di­um der Krank­heit in die Kli­nik kom­men, steigt die Sterb­lich­keits­ra­te ra­sant. Was also, wenn sich Krebs schon in sei­ner frü­hes­ten An­fangs­pha­se mit ei­nem ein­fa­chen Blut­test er­ken­nen lie­ße?

Auf die­sen Weg set­zen gleich meh­re­re Si­li­con-Val­ley-Un­ter­neh­men. Al­len vor­an Grail, be­nannt nach dem Hei­li­gen Gral, dem le­gen­dä­ren mys­ti­schen Ge­fäß, das ewi­ges Le­ben ver­spricht. Die For­scher des Start-ups er­hof­fen sich zu­min­dest die Chan­ce auf ein län­ge­res Le­ben, in­dem sich alle Men­schen rou­ti­ne­mä­ßig durch so­ge­nann­te »li­quid bi­op­sies«, flüs­si­ge Ge­we­be­pro­ben, tes­ten las­sen, ob sie Warn­zei­chen für Krebs in sich tra­gen.

Die Idee ist eine gro­ße Wet­te auf die Macht der di­gi­ta­len Tech­no­lo­gie: Die For­scher hof­fen, dass sich mit ra­send schnel­len DNA-Se­quen­zie­rungs­ma­schi­nen, KI-ge­stütz­ter Soft­ware und neu­en Ana­ly­se­ver­fah­ren das ge­ne­ti­sche Ma­te­ri­al er­ken­nen lässt, das selbst von kleins­ten, noch un­er­kann­ten Tu­mo­ren ab­ge­son­dert wird.

Grail ist da­bei min­des­tens ge­nau­so Soft­ware-Un­ter­neh­men wie Bio­tech-Fir­ma. Aus den Blut­pro­ben je­des Pa­ti­en­ten sam­meln die Tech­ni­ker rund tau­send Gi­ga­byte Da­ten und ja­gen die­se dann durch ei­nen »Klas­si­fi­zie­rer«, der mit KI-Al­go­rith­men nach Mus­tern sucht. Wenn sol­che Früh­er­ken­nungs­blut­tests Stan­dard wer­den soll­ten, wür­de Grail wohl schnell »zur größ­ten Big-Data-Fir­ma der Welt«, sagt Jeff Hu­ber, Grün­dungs­chef von Grail. Nicht zu­fäl­lig ist er zu­vor Top­ma­na­ger bei Goog­le ge­we­sen.

Schon län­ger ist be­kannt: Im Blut lässt sich Krebs früh fest­stel­len – so­gar, wenn sich der Pa­ti­ent noch kern­ge­sund fühlt. Dar­aus ei­nen ge­ne­rel­len In­di­ka­tor für eine Krebs­er­kran­kung zu ent­wi­ckeln wur­de aber erst mit neu­er Tech­no­lo­gie zur schnel­len und bil­li­gen Ana­ly­se von Erb­gut mög­lich. Gro­ße Tei­le des Haupt­quar­tiers von Grail in Men­lo Park, gleich um die Ecke von Face­book, sind mit neu­ar­ti­gen DNA-Se­quen­zie­rungs­ma­schi­nen voll­ge­stellt.

Tes­ten wol­len die Grail-For­scher ihre Tech­no­lo­gie an ei­nem ers­ten Groß­pro­jekt: Aus den Blut­pro­ben von 120 000 Frau­en sol­len die frü­hen DNA-Si­gna­tu­ren von Brust­krebs her­aus­ge­fil­tert wer­den. Sta­tis­tisch ge­se­hen wer­den 650 Frau­en aus die­ser Test­grup­pe in­ner­halb ei­nes Jah­res Brust­krebs ent­wi­ckeln. Grail will dann die ge­sam­mel­ten Pro­ben ana­ly­sie­ren, um fest­zu­stel­len, ob der DNA-Test den Krebs kor­rekt vor­her­ge­sagt hät­te.

Ob sich die gro­ßen Plä­ne des Un­ter­neh­mens, schon bis Ende des Jahr­zehnts ei­nen kom­mer­zi­el­len Krebs-Blut­test be­reit­zu­stel­len, ver­wirk­li­chen las­sen, wird je­doch von vie­len Krebs­ex­per­ten be­zwei­felt. Zu­dem müss­te der Test na­he­zu per­fekt sein: Wenn tat­säch­lich Mil­lio­nen Men­schen je­des Jahr ge­tes­tet wür­den, wä­ren schon we­ni­ge feh­ler­haf­te Krebs­dia­gno­sen ge­nug, um zu ei­ner Pa­nik­wel­le zu füh­ren und die Kran­ken­häu­ser zu über­las­ten.

Trotz­dem sam­mel­te Grail be­reits mehr als eine Mil­li­ar­de Dol­lar Ka­pi­tal ein und ge­hört da­mit zu den best­fi­nan­zier­ten pri­va­ten Bio­tech-Start-ups der Welt. Zu Grails Geld­ge­bern ge­hö­ren un­ter an­de­rem Goog­le, der Ama­zon-Grün­der Jeff Be­zos und Bill Gates.

Vie­le der be­kann­ten Tech­no­lo­gie­vor­den­ker en­ga­gie­ren sich per­sön­lich in der Me­di­zin­for­schung. Face­book-Grün­der Mark Zu­cker­berg etwa fi­nan­ziert den Auf­bau ei­nes »mensch­li­chen Zel­lat­las«: Ein mit 600 Mil­lio­nen Dol­lar aus­ge­stat­te­tes For­schungs­zen­trum soll un­ter an­de­rem alle Zel­len des mensch­li­chen Kör­pers kar­to­gra­fie­ren und da­mit die Ent­wick­lung neu­er Me­di­ka­men­te er­mög­li­chen. Ins­ge­samt wol­len Zu­cker­berg und sei­ne Frau Pri­scil­la Chan, eine Kin­der­ärz­tin, mehr als drei Mil­li­ar­den Dol­ler in die Er­for­schung neu­er The­ra­pi­en in­ves­tie­ren.

»Wir glau­ben nicht an ›un­mög­lich‹«, so lau­tet das Mot­to des »Chan Zu­cker­berg Bio­hub«, pro­mi­nent ver­kün­det auf ei­nem Mo­ti­va­ti­ons­pos­ter auf den Flu­ren des neu­en For­schungs­zen­trums, gleich ge­gen­über der Uni­kli­nik von San Fran­cis­co. Die Zie­le von Bio­hub sind ähn­lich gi­gan­tisch wie die Welte­r­obe­rungs­vi­sio­nen von Face­book: »Alle Krank­hei­ten noch zu Leb­zei­ten un­se­rer Kin­der zu hei­len, zu ver­hin­dern oder zu ma­na­gen mag auf den ers­ten Blick un­mög­lich er­schei­nen – bis man die Er­run­gen­schaf­ten des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts in Be­tracht zieht.«

Der ers­te kom­plet­te Zel­lat­las soll dazu ein wich­ti­ges In­stru­ment sein. Me­di­zin­stu­den­ten ler­nen bis­lang, dass es rund 300 Ar­ten von Zel­len gibt, Ge­hirn­zel­len etwa, Blut­zel­len oder die T-Zel­len des Im­mun­sys­tems. Wahr­schein­lich sei­en es aber viel mehr Zell­ty­pen, bis zu 10 000, sagt Ste­phen Qua­ke, Co-Prä­si­dent von Bio­hub und Pro­fes­sor für Bio­tech­nik an der Stan­ford Uni­ver­si­ty, ein erns­ter Mann mit Halb­glat­ze und flin­ken Au­gen, der schnell und mit in­ten­si­ver Über­zeu­gung spricht.

Wenn man künf­tig vor­ab weiß, wie ge­nau wel­che Zel­len auf The­ra­pi­en re­agie­ren, so Qua­kes Plan, wird das die Su­che nach neu­en Me­di­ka­men­ten er­heb­lich er­leich­tern. Sein Ziel: »ei­nen uni­ver­sel­len Dia­gno­se­test für jede Art von In­fek­ti­ons­krank­heit zu ent­wi­ckeln«. Ein Pro­to­typ dia­gnos­ti­zier­te eine sel­te­ne bak­te­ri­el­le In­fek­ti­on bei ei­nem Teen­ager, in­dem die neue DNA-Ana­ly­se­tech­nik schnell zwi­schen mensch­li­cher DNA und der des Krank­heits­er­re­gers un­ter­schei­den konn­te.

»Wir set­zen dar­auf, die Zu­kunft zu er­fin­den«, sagt Qua­ke. Wenn das ge­lingt, wäre es si­cher höchst lu­kra­tiv: Eine neue Art von The­ra­pie zu er­schaf­fen ver­spricht Mil­li­ar­den­ein­nah­men.

Ent­spre­chend treibt die Si­li­con-Val­ley-Vor­den­ker nicht nur For­scher­geist, son­dern die Hoff­nung, die di­gi­ta­le Ge­sund­heits­bran­che zu do­mi­nie­ren.

So ist es auch kein Zu­fall, dass der neue Prä­si­dent der Stan­ford Uni­ver­si­ty aus der Me­di­zin kommt. Stan­ford ist der Ne­xus des Si­li­con Val­ley, hier lau­fen all die Netz­wer­ke aus For­schern, Grün­dern, Geld­ge­bern und Kon­zern­füh­rern zu­sam­men. Je­des Jahr wer­den et­li­che Start-ups von Stan­ford-Stu­den­ten ge­grün­det, an man­chen die­ser Fir­men ist die Uni fi­nan­zi­ell be­tei­ligt. So ent­stan­den hier etwa Hew­lett-Pa­ckard und auch Goog­le, ge­grün­det von den bei­den Stan­ford-Dok­to­ran­den Lar­ry Page und Ser­gey Brin.

Seit 2016 ist Marc Tes­sier-La­vi­g­ne der Prä­si­dent der Uni­ver­si­tät, ein Neu­ro­wis­sen­schaft­ler und ei­ner der welt­weit füh­ren­den Ex­per­ten für die Ent­wick­lung des Ge­hirns. Er lei­te­te lan­ge die For­schung des Bio­tech-Rie­sen Gen­en­tech. Tes­sier-La­vi­g­ne sagt: »Wir sind im gol­de­nen Zeit­al­ter der Er­for­schung von Krank­hei­ten, dank der Se­quen­zie­rung des mensch­li­chen Ge­noms und an­de­rer mäch­ti­ger Tech­no­lo­gi­en.«

Schmal und hoch­ge­wach­sen, mit sil­ber­grau­em Sei­ten­schei­tel und ho­hen Wan­gen­kno­chen, ist Tes­sier-La­vi­g­ne eine mar­kan­te Er­schei­nung, er wirkt ernst und in­ten­siv. Auf Fra­gen ant­wor­tet er fast im­mer druck­reif. Die Zu­kunft sieht er so: »Wenn wir die nö­ti­gen In­vest­ments ma­chen, wer­den wir ver­ste­hen kön­nen, wie sich Tu­mo­ren aus­brei­ten, wer­den wir ler­nen kön­nen, wie Ner­ven­zel­len funk­tio­nie­ren, und die Ge­heim­nis­se des Im­mun­sys­tems ent­schlüs­seln. Und die­ses Wis­sen brau­chen wir, um den Krebs zu un­ter­wer­fen, die De­menz zu be­sie­gen und Imp­fun­gen ge­gen HIV zu ent­wi­ckeln.«

Tes­sier-La­vi­g­ne hält den tech­no­lo­gie-ge­trie­be­nen Fort­schritt »in die­ser Zeit der enor­men wis­sen­schaft­li­chen und wirt­schaft­li­chen Chan­cen« für eine ge­sell­schaft­li­che Auf­ga­be. Und für eine staat­li­che, wie er vor dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­gress be­ton­te: »Um in der Bio­me­di­zin die Vor­herr­schaft zu be­wah­ren, müs­sen die not­wen­di­gen Mit­tel be­reit­ge­stellt und die struk­tu­rel­len Rah­men­be­din­gun­gen ge­schaf­fen wer­den.«

Stan­ford ist eng ver­wo­ben mit dem viel­leicht ei­gent­li­chen Macht­zen­trum des Si­li­con Val­ley: den Wag­nis­ka­pi­tal­ge­bern, die je­des Jahr Mil­li­ar­den Dol­lar an jun­ge Un­ter­neh­men ver­ge­ben. Vie­le von ih­nen ha­ben ih­ren Sitz an der Sand Hill Road, ei­ner lan­gen, kur­vi­gen Stra­ße, die sich gleich hin­ter dem Uni-Cam­pus die Hü­gel des Si­li­con Val­ley hoch­schlän­gelt.

Hier hat sich auch An­d­rees­sen Ho­ro­witz nie­der­ge­las­sen, die wohl ein­fluss­reichs­te In­vest­ment­fir­ma der Tech­no­lo­gie­welt. Tau­sen­de Un­ter­neh­mens­ver­tre­ter pil­gern je­des Jahr den Berg hin­auf zu der ele­gan­ten Bun­ga­lo­wan­la­ge mit Spring­brun­nen und künst­li­chen Bä­chen, um sich be­ra­ten zu las­sen oder um Geld zu bit­ten.

Bes­te Chan­cen ha­ben der­zeit »Soft­ware-Start-ups, die bio­tech­no­lo­gi­sche Pro­ble­me lö­sen wol­len«, sagt Vi­jay Pan­de. Als Pro­fes­sor für »Struc­tu­ral Bio­lo­gy« war er Chef des Bio­phy­sik­pro­gramms der Stan­ford Uni­ver­si­ty, ent­wi­ckel­te dort neue In­for­ma­tik­pro­zes­se zur An­wen­dung in der Me­di­zin. Nun lei­tet Pan­de die Bio­tech-In­vest­ments von An­d­rees­sen Ho­ro­witz.

Beim Ge­spräch auf der son­ni­gen Ter­ras­se des An­d­rees­sen-Haupt­quar­tiers re­det Pan­de be­däch­tig und nüch­tern, als ana­ly­sie­re er tri­via­le, alt­be­kann­te Tat­sa­chen, wenn er sagt, dass wir durch die Ver­mi­schung von In­for­ma­tik und Me­di­zin zwei­fels­frei am An­fang ei­nes »Jahr­hun­derts der Bio­lo­gie« stün­den. Künst­li­che In­tel­li­genz und ma­schi­nel­les Ler­nen müss­ten da­bei als »Mit­tel zum Zweck« ver­stan­den wer­den »für et­was viel Grö­ße­res«, als In­stru­men­te, »um die Bio­lo­gie zu kon­stru­ie­ren«. Die­se Bio­kon­struk­ti­on wer­de »buch­stäb­lich wie Pro­gram­mie­rung zu hand­ha­ben« sein.

Ei­nes der Lieb­lings­pro­jek­te von Pan­de ist der­zeit Bio­Age: Das Start-up setzt sich glei­cher­ma­ßen aus Bio­che­mi­kern und Da­ten­wis­sen­schaft­lern zu­sam­men, ge­mein­sam su­chen sie nach Bio­mar­kern, die für das Al­tern ver­ant­wort­lich sind. Wenn die spe­zi­fi­schen Merk­ma­le erst ein­mal be­kannt sind, könn­te der Kör­per mit der rich­ti­gen Be­hand­lung vor­sorg­lich ge­pflegt wer­den, da­mit er mög­lichst lan­ge Spit­zen­leis­tung bringt.

Als Ver­gleich ver­weist Pan­de auf den schon lan­ge be­kann­ten Zu­sam­men­hang zwi­schen dem Cho­le­ste­rin­wert im Blut und Herz­er­kran­kun­gen. Da man den re­le­van­ten Bio­mar­ker – Cho­le­ste­rin – kennt, las­sen sich Herz­er­kran­kun­gen vor­beu­gend mit Me­di­ka­men­ten be­kämp­fen, die den Cho­le­ste­rin­spie­gel sen­ken. Durch Ein­satz von künst­li­cher In­tel­li­genz will Bio­Age nun ähn­li­che Bio­mar­ker mit ei­ner kla­ren Ver­bin­dung zu Al­te­rungs­pro­zes­sen fin­den. Soll­te das Start-up mit der Bio­mar­ker-Su­che er­folg­reich sein, wä­ren die Fol­gen für das Le­bens­al­ter enorm, glaubt Pan­de: »Das bringt uns sehr nah an eine Welt, in der 120 die neu­en 80 sind und 60 buch­stäb­lich die neu­en 40.«

Bio­Age ist nur ei­nes von vie­len Si­li­con-Val­ley-Un­ter­neh­men, die ganz ge­zielt an Al­te­rungs­pro­zes­sen for­schen. Le­bens­ver­län­ge­rung ist in die­sen Ta­gen das Ste­cken­pferd der Tech­no­lo­gie­vor­den­ker, ein stän­di­ges Dis­kus­si­ons­the­ma in den Ge­sprächs­run­den der Si­li­con-Val­ley-Eli­te: Sie se­hen den Kör­per als In­for­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tungs­sys­tem, das kon­trol­liert und ge­steu­ert wer­den kann, wenn man nur alle sei­ne Bau­stei­ne und Pro­zes­se kennt. Ver­stopf­te Ar­te­ri­en, ab­ster­ben­de Ge­hirn­zel­len, schwin­den­de Mus­keln, er­lah­men­de Mo­to­ren in den Zell­ker­nen: Das Si­li­con Val­ley träumt da­von, die­ses Sys­tem­ver­sa­gen auf­zu­hal­ten, in­dem das Be­triebs­sys­tem stän­dig er­neu­ert wird.

Un­ter­neh­men wie Unity Bio­tech­no­lo­gy wer­den in­zwi­schen mit Geld über­schüt­tet. Das Start-up ist ei­ner der Stars der neu­en An­ti­al­te­rungs­for­schung und ar­bei­tet dar­an, »die Ge­sund­heits­span­ne zu ver­län­gern, die Zeit, in der man in gu­ter Ge­sund­heit lebt«. Ama­zon-Grün­der Jeff Be­zos, der pro­mi­nen­te In­ves­tor Pe­ter Thiel und an­de­re Ka­pi­tal­ge­ber steck­ten zu­sam­men mehr als 130 Mil­lio­nen Dol­lar in die­se Vi­si­on der Grün­der: »Stell dir eine Zu­kunft vor, in der du al­terst, aber ohne die Krank­hei­ten dei­ner El­tern. Eine Zu­kunft, in der Al­tern nicht schmerzt.«

Vie­len Si­li­con-Val­ley-Tech­no­lo­gen geht das al­les je­doch noch nicht weit ge­nug: Das Ziel müs­se am Ende das Zu­sam­men­wach­sen von Mensch und Ma­schi­ne sein, den Kör­per hoch­zu­rüs­ten, da­mit er bes­ser und län­ger funk­tio­niert. So­ge­nann­te Ge­hirn-Com­pu­ter-In­ter­faces sind ein ei­ge­nes For­schungs­feld, in dem sich zahl­rei­che Start-ups und die gro­ßen Tech-Kon­zer­ne tum­meln.

Und das ame­ri­ka­ni­sche Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um: Mit 65 Mil­lio­nen Dol­lar un­ter­stüt­zen die US-Mi­li­tärs gleich sechs Pro­jek­te, die un­ter an­de­rem Läh­mung, Blind­heit und Sprach­stö­run­gen durch ma­schi­nel­le Un­ter­stüt­zung über­win­den sol­len.

Den größ­ten Teil der För­der­mit­tel er­hielt Pa­r­a­d­ro­mics, ein klei­nes Start-up aus San Jose am süd­li­chen Ende des Si­li­con Val­ley. Die Un­ter­neh­mer wol­len ein pfen­nig­gro­ßes im­plan­tier­tes Ge­hirn­mo­dem bau­en, mit ei­nem Hoch­ge­schwin­dig­keits­da­ten­link zwi­schen Mensch und Com­pu­ter. Eine Art »Breit­band­an­schluss für das Ge­hirn«, das ein Gi­ga­byte Da­ten pro Se­kun­de ver­ar­bei­ten und da­bei min­des­tens eine Mil­li­on Neu­ro­nen gleich­zei­tig »le­sen« soll. Selbst mit sol­chen Ge­schwin­dig­kei­ten lie­ße sich auch nur an­nä­hernd das Ziel er­rei­chen, das hin­ter die­sem For­schungs­auf­trag steht: be­schä­dig­te Sin­ne zu re­pa­rie­ren.

Ers­te kli­ni­sche Stu­di­en sol­len bald be­gin­nen. »Auch wenn es sich erst mal so an­hö­ren mag, sind Ge­hirn­im­plan­ta­te kei­ne fer­ne Zu­kunfts­mu­sik«, sagt Matt Ang­le, der Chef des Start-ups.

So se­hen es vie­le der Si­li­con-Val­ley-For­scher, das Zeit­al­ter der di­gi­ta­len Me­di­zin ste­he nicht erst be­vor, son­dern habe be­reits be­gon­nen: »Man muss nicht alle Me­cha­nis­men der Bio­lo­gie bis ins De­tail ver­stan­den ha­ben, um sol­che neu­en In­stru­men­te schon jetzt für Pa­ti­en­ten zu nut­zen.«

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ÜBER DEN AUTOR 
Thomas Schulz, Jahrgang 1973, berichtete fast ein Jahrzehnt als Wirtschaftskorrespondent für den SPIEGEL aus New York und San Francisco. Seit diesem Frühjahr zurück in Deutschland, schreibt er als SPIEGEL-Reporter über Digitalisierung und Fortschritt.
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Tho­mas Schulz: »Zu­kunfts­me­di­zin«. DVA; 286 Sei­ten; 20 Euro. Er­scheint am 29. Mai.



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natürlich befeuern solche artikel bei mir nicht nur eitel-sonnenschein-positive gefühle in die menschliche zukunft allgemein. 

denn mit dem wissen, dass all die im text genannten konglomerate von unternehmen und standorte eben auch die ersten marken im globalen algorithmen-gesteuerten turbokapitalismus sind, will man mit all den anstrengungen nicht zuletzt auch macht & geld generieren.

und mich beschleicht dabei auch das eigenartige gefühl, dass man aufgrund der angerissenen methoden nicht nur auf heilung und "chuat-choan" setzt, sondern ja auch krankheiten oder symptome und verdachtsmomente bzw. "abweichungen von der norm" implizieren kann - auf der einen seite - die man auf der anderen seite dann für teuer geld wieder eindämmt: das ganze also zur immerwährenden gelddruckmaschine weiterhin ausbaut.

aber vielleicht ist das auch nur mein (un)gesundes misstrauen ... - ansonsten freue ich mich als 71-jähriger natürlich noch auf die vor mir liegenden satten 50 jahre ohne aua und wehweh ...😉

in der nächsten woche wird mir mein arzt dann schon den einen oben erwähnten biomarker einflüstern, nämlich endlich einen "cholesterin-senker" einzusetzen, vor dem ich mich bis dato erfolgreich gedrückt habe ... - und letztlich weiß ich immer noch nicht - ob der senker mir hilft oder doch mehr dem hersteller aus der pharmazeutischen industrie, die ja längst die normwerte so bestimmen und "setzen", dass ihr börsenkurs keine einbrüche erfährt ... - S!

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