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das lange schwarz-rot-goldene elend

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Foto: FOTOLIA - Gestaltung: Brinkmann | NW - bearbeitet

Das vergiftete Land

Bestandsaufnahme: Es war einmal eine entspannte Republik. Doch "Schland" ist tot. Statt Party-Patriotismus schwankt Deutschland in diesem Sommer zwischen Hysterie und Fatalismus. Nur Toni Kroos bleibt cool. Wie geht es weiter?

Von Jan Sternberg | NW

Berlin. Wir gehen noch einmal zurück in die 95. Minute im Fischt-Stadion von Sotschi. Zurück zu dem Freistoß, zu dem Schuss voller Trotz. In den Winkel gezwirbelt von Toni Kroos, dem Schweiger aus Greifswald, dem Champion mit Wohnsitz Madrid. Nach dem Spiel schwieg er nicht mehr. "Du musst dann eben auch die Eier haben, so zu spielen", sagte Kroos. Und: "Relativ viele Leute in Deutschland hätte es gefreut, wenn wir rausgegangen wären. Aber so einfach machen wir es denen nicht."

Seinen Freistoß hat er gefühlvoll um die schwedische Mauer gezirkelt, doch seine Aussage glich einem ausgestreckten Mittelfinger ins Gesicht all der Nörgler und Hassenden: Wir sind wieder da! Alles ist wie immer! Deutschland ist eine Turniermannschaft! Und jetzt liebt uns gefälligst!

Fußball kann so einfach sein. Wer den letzten Ball reinmacht, hat Recht. Dazu braucht es keinen Masterplan, sondern nur den Mut für eine Aktion und drei rettende Punkte auf dem Konto. Im Fußball geht es immer um das nächste Spiel, heute gegen Südkorea in Kasan. Sicher ist noch gar nichts. Aber das Selbstvertrauen ist zurück.

Doch 3.000 Kilometer von Sotschi und Kasan entfernt ist es nicht mehr weit her mit dem entspannten Selbstvertrauen, das dieses Land seit der Heim-Weltmeisterschaft vor zwölf Jahren eingeübt hat. "Die Stimmung im Land ist vergiftet, wir werden das Flüchtlingsthema nicht mehr los", sagt ein einflussreicher CDU-Politiker in Berlin. Das hysterische Dauerfeuer von rechts dringt in einem Abnutzungskampf der Parolen bis weit in die Mitte vor, nicht nur die CSU hat sich schon ganz der Sprache der Populisten ergeben, der Rechten. Normalerweise hält sich die Politik zu WM-Zeiten ein Stück zurück, alle schauen gemeinsam Fußball, und die Kanzlerin lässt Fotos von ihren Besuchen in der Kabine verbreiten, Macht und Männer ganz nah beieinander.

»Trump trägt entscheidend zu dem Übergangsgefühl bei.«

Dieses Jahr hat die Politik ihr eigenes Endspiel, begonnen just am Tag des Eröffnungsspiels in Moskau. Horst Seehofer, der Getriebene im Bundesinnenministerium, sorgt für einen deutschen Sommer der hysterischen Bräsigkeit. Eine Woche nachdem Seehofer angekündigt hat, Personen mit Einreisesperre an den Grenzkontrollpunkten zurückzuweisen, sind zwei solcher Fälle bekannt. Sein Nachfolger als Ministerpräsident in München, Markus Söder, wird nächsten Montag mit großem Getöse die neue bayerische Grenzpolizei ins Leben rufen. Es sind zunächst dieselben 500 Beamten, die bereits jetzt als normale Landespolizei im grenznahen Gebiet unterwegs sind. Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei spricht von einer "Mogelpackung". So geht Populismus. Nur dass die echten Populisten ihn immer noch besser beherrschen und die AfD Chancen hat, in Bayern zweitstärkste Kraft hinter einer immer weiter schrumpfenden CSU zu werden.

In Österreich sind sie schon einen Schritt weiter. Dort übten gestern Polizei und Militär das Vergraulen von fiktiven Flüchtlingen in Spielfeld an der slowenischen Grenze. Echte kommen dort nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen nicht mehr vorbei. Kritiker der Aktion holten ein Bild des früheren Außenministers Alois Mock (ÖVP) aus dem Archiv, wie er vor genau 29 Jahren mit seinem ungarischen Pendant Gyula Horn den Eisernen Vorhang durchschnitt. Bilder aus einer anderen Zeit: Politiker, die Grenzzäune niederreißen. Oder auch dieses: ein strahlender Mesut Özil mit freiem Oberkörper neben der Kanzlerin. Kein Sündenbock des hysterischen Deutschlands, sondern ein unbeschwerter Fußballheld. Das war 2010. Auch eine Ewigkeit her.

In seinem Berliner Büro bereitet Jeremy Cliffe gerade den Abschied aus Deutschland vor. Der Korrespondent des ehrwürdigen britischen Economist wird ab Herbst aus Brüssel berichten. Wenn es nicht überraschend Neuwahlen gibt, dann müsste er bleiben. Nicht-Muttersprachler sind ja oft von den Möglichkeiten der deutschen Sprache fasziniert, für diffuse Gefühle präzise Begriffe bereitzuhalten. Cliffe macht da keine Ausnahme. "Unbehagen" sei so ein typisch deutsches Wort, und für ihn trifft es die aktuelle Stimmung auf den Punkt. Im April hatte Cliffe eine Titelgeschichte im Economist, "Cool Germany" hieß sie. Cliffes These: Das immer vielfältigere Deutschland könnte ein Vorbild für den zaghaften, vom Populismus bedrohten Westen sein, wenn es sich mehr zutrauen würde. Auch damals schon aber war Unbehagen sein Leitmotiv. "Deutschland ist in einer Übergangszeit", sagt er jetzt. Nach der Kohl-Ära und der Vereinigung begann eine 20-jährige Phase der gesellschaftlichen Modernisierung unter Schröder und Merkel, die nun zu Ende gehe. Was darauf folgt, weiß noch keiner. Sicher sei nur, dass die Sicherheiten flöten gehen. Und die Quelle dieser Unsicherheit sitzt nicht in Berlin, München, nicht in Wien oder Rom, sondern in Washington: "Trump trägt entscheidend zu diesem Übergangsgefühl bei", sagt Cliffe. Die Grundpfeiler Deutschlands waren US-garantierte Sicherheit und Exporterfolge. Ein Präsident, der immer mal die NATO in Frage stellt und mit Handelskrieg droht, legt die Axt an beides. Der eskalierende Zoff in der Union wiederum vernichtet die Stabilität der letzten verbliebenen Volkspartei, nachdem die SPD nicht aus ihrer Agonie herausfindet.

Vor seinem Wechsel nach Brüssel will Cliffe den Deutschen in einem weiteren Artikel noch einen Abschiedsgruß zurufen. "Seid nicht zu pessimistisch!" Dass Deutschland als Motor Europas, "in tiefen Pessimismus verfällt, ist eine meiner größten Ängste", sagt der Brite. "Euch geht es doch trotz allem gut!" Eine Arbeitslosenquote von 5,2 Prozent und steigende Reallöhne sprechen dafür. Die Kriminalitätsrate sinkt, was die Unsicherheits-Predigerin Beatrix von Storch in einem BBC-Interview in grotesk anzuschauende Erklärungsnot brachte. Doch das Unbehagen lässt sich nicht wegargumentieren, weil es zu tief sitzt: Auch außerhalb der Trendbezirke in den Metropolen wird es immer schwieriger, eine bezahlbare Wohnung zu finden, und die Regierung leistet sich einen Detailstreit ums Baukindergeld. Das Gefälle zwischen Stadt und Land wird immer größer, doch der dafür jetzt zuständige Heimatminister heißt Seehofer und verwendet seine Energie darauf, zwei Menschen pro Woche an der Autobahnkontrolle zu Österreich zurückweisen zu lassen.

Wo gibt es in diesem Land denn noch Optimisten, "verdammte Hölle" (Gary Lineker)? Also, andere als Toni Kroos. Einer steht hinter der Theke seines Handyladens in der Sonnenallee, im arabischen Teil Berlins. Ibrahim Bassal einen Fußballfan zu nennen, wäre weit untertrieben. "Ich bin nicht einfach nur ein Fan, ich bin verrückt nach Deutschland", sagt der Geschäftsmann, der in den 1980ern als Kind aus dem Bürgerkriegsland Libanon nach Berlin kam. "Es wird alles gut werden, wir steigern uns, wir kommen ins Finale! Und dann gewinnen wir, 2:1 gegen Portugal." Ibrahim Bassal und sein Laden waren einmal ein Teil der Sommermärchen. Ein siebzehn Mal fünf Meter großer Teil, der überall in den Zeitungen zu sehen war. Sie hatten Berlins, ach was, Deutschlands größte Deutschlandflagge ans Haus gehängt, vom vierten Stock bis zum Erdgeschoss. Heute hängt dort nichts mehr. "Die Nachbarn haben gewechselt", sagt Bassal, "sie wollen nicht mehr, dass ihre Balkone verhängt werden. Sehr schade."

Beim "Sommermärchen" 2006, in Südafrika 2010, in Brasilien 2014 spielten sich junge Mannschaften in die Herzen zu Hause. Eine Mannschaft, deren Spieler Eltern aus Ghana, der Türkei oder Polen hatten, was aber wundersamer Weise nur für Folklore sorgte, nicht für Diskussionen. Auch auf den Fanmeilen und vor den großen Bildschirmen in den Straßencafés waren Haut- und Haarfarbe egal geworden, solange man nur ausreichend schwarz-rot-goldene Fan-Accessoires mit sich führte.

"Es hat alles gepasst. Bei den Fanfesten haben unterschiedliche Rassen, Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Religionen nebeneinander gestanden. So stellt sich der liebe Gott die Welt vor, auch wenn wir in der Realität noch 100.000 Jahre davon entfernt sind", sagte Franz Beckenbauer auf dem Höhepunkt seines Kaisertums. Sein Ruf und der dieser Heim-WM sind nach den Enthüllungen über versteckte Zahlungen und Rückzahlungen schwer angekratzt, um es vorsichtig auszudrücken. Doch die kaiserliche Anrufung der Realität hat sich leider bestätigt. 2006 sagte der Potsdamer Historiker Martin Sabrow, "Die Deutschlandfahnen an den Autos - das ist fröhlicher Patriotismus und eben nicht der enge Nationalismus früherer Zeiten, weil er ja Spieler wie Asamoah und Odonkor mit einschließt." Damals wurde Gerald Asamoah nur von einer rechtsradikalen Splittergruppe mit dem Satz "Gerald, du bist nicht Deutschland" angegriffen. 2016 pilgerte der gläubige Muslim Mesut Özil nach Mekka, die Kritik daran blieb nur deswegen aus, weil sich AfD-Senior Alexander Gauland keine Namen von Fußballern merken kann. Er wollte Özil angreifen und traf Boateng, den er nicht als Nachbarn haben wollte. (Man will sich übrigens nicht vorstellen, was passiert wäre, hätte Boatengs Platzverweis gegen Schweden zum Vorrundenaus geführt).

Nun werden Özil und Ilkay Gündogan wochenlang wegen ihres Fotos mit Erdogan angegriffen. Es zeigt die düstere Kehrseite des "fröhlichen Patriotismus", bei dem jeder dazugehört, der schwarz-rot-gold trägt. Waren die Migrantensöhne im Team vielleicht nur geduldet, so lange sie Leistung brachten, quasi Deutsche auf Bewährung und die ersten Sündenböcke, wenn es nicht mehr so gut läuft? "Wir werden nie dazugehören", posten deutsche Intellektuelle mit türkischen Namen jetzt in den sozialen Netzwerken.

Auf der Sonnenallee schwankt Ibrahim Bassal zwischen Optimismus und Unbehagen. Sein Laden brummt, von elf bis 21 Uhr reißt der Kundenstrom nicht ab. Fast alle sprechen arabisch. Bassal, der Deutschland-Extremfan, hat gut zu tun. Doch wenn er einen Moment durchatmen kann, sagt er einen Satz, der alles abschließt: "In Deutschland bleibst du Migrant. Egal, wie lange du hier bist. Egal, was du machst."

© 2018 Neue Westfälische
03 - Bielefeld Süd, Mittwoch 27. Juni 2018

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ja - das ist ja mal eine bestandsaufnahme der derzeitigen zerrissenen befindlichkeiten in der deutschen seele in meiner heimatzeitung.

aber - gibt es das überhaupt: eine "deutsche" seele - deutsche gene,
deutsches blut, deutschen boden ... ???

wir sind menschen, die in einem "künstlich" durch geschichte und kriege und adeligen erbstreitigkeiten geformten staatsgebilde namens deutschland leben: ein zufälliger fleck auf dem erdenrund - in den wir durch geburt hineingepurzelt sind oder zu dem wir irgendwie hingekommen sind durch oft widrige umstände.

mein großvater lebte in ungarn und war der nachkömmling ursprünglich wohl elsässisch-lothringischer wirtschaftsflüchtlinge des 30-jährigen krieges.

die kinderreichen angesiedelten familien in ungarn konnten ihre ihnen zugewiesene parzelle nur bestenfalls 4x unterteilt weitervererben - gab es mehr als 4 kinder, mussten die sich als saisonarbeiter in verschiedensten berufen und tätigkeiten verdingen, um zu überleben - und die kindeskinder teilten dieses schicksal sowieso.

also machte man sich auf in das "gelobte land" - z.b. in die usa. mein großvater schipperte 1903 mit der "ss chemnitz" von bremen nach baltimore ... - aber in den usa fand er kein auskommen und kam 4 jahre später in dortmund an, wo er als kohlenhauer im pütt malochen musste. nebenher hat er schuhe repariert, was er dann später zu seinem hauptberuf dort machte. 1909 wurde mein vater in dortmund geboren, der dann beruflich nach bielefeld kam, wo ich dann zur welt kam - übrigens von einer seit generationen durch und durch ostwestfälischen mutter zu hause geboren in einem in hartfaserplatten-leichtbauweise abgetrennten 2 x 3 m großen schlafzimmer in untermiete ...

insofern fühle ich mich schon eher als waschechter "uropäer" - der durch wirtschaftsflucht und geschichte und "schicksal" hier geboren wurde - zufällig hier: is also nix mit "deutscher seele" - aber ich bin noch im besitz der preußischen einbürgerungsurkunde meines vaters, der bis dahin als "staatenlos" galt - habe deshalb auch keinen vordergründigen "migrationshintergrund" mehr ...

insofern bin ich auch froh, das diesmal in diesem lande - wenigstens hier in meiner nächsten umgebung - kaum schwarz-rot-goldene fähnchen gesichtet werden - am auto und auf den balkonen ...

vor 4 jahren löste dieses "fröhliche""schland"nationalistische getöse bei mir schon etwas befremden aus ...

das oben im artikel beschriebene deutsche "unbehagen" kommt meines erachtens daher, dass in vielen menschen - angestachelt durch das gebaren des mr. trump und von pegida und afd hierzulande und den populistischen staatslenkern in unseren nachbarstaaten - gleichzeitig ein gefährlicher faschistischer nationalismus wieder aufkeimt und doch auch im gleichen moment wieder in sich zusammenfällt - da ja fast jeder in diesem lande eine ähnliche bigrafie und "ahnenreihe" hat, wie ich - und in den usa erst recht: da leben nur zugezogene, deren vorfahren die urbevölkerung ausgerottet und vertrieben haben und in lager und "reservaten" zusammengepfercht ...

das "schwarz-rot-goldene schland" ist ja auch nur ein phantom - ähnlich dem kaiser in dem andersen-märchen von "des kaisers neue kleider": wenn man genau auf dieses "schwarz-rot-goldene" textil schaut, bleibt nur ein gewebter oder geprägter eingefärbter lappen übrig, der sich im wind bewegt wie "das fähnchen auf dem turme - sich kann drehen bei wind und sturme" ...: und das kleine mädchen in dem märchen von "des kaisers neuen kleidern" stellt ja auch fest: "der hat ja gar nichts an - der ist ja nackt" ... 

ich halte nichts von allem nationalistischen getue und dschingderassabumm und getröte, und nichts von nationalgrenzen (herr dobrindt und herr seehofer und herr söder): alles das sind nur willkürlich von menschen erdachte labels, die etabliert wurden, um sich vom nachbarn abzuheben - es wurden damit lediglich antike "marken" kreiert, die in konkurrenz zueinander gerieten - die sich gegenseitig die futtertöpfe abspenstig machten ...

der liebe gott wenigstens hat keine staaten und flaggen und grenzen geschaffen ... - er hat für die seinen immer auf neue weideplätze hingewiesen und hat ihre jeweilige wirtschaftsflucht willfährig begleitet ...

heute nachmittag um 16 uhr tritt eine millionen- ja milliardenschwere auswahlmannschaft eines ebenfalls milliardenschweren deutschen fußballverbandes an, um sich ca. 90 minuten in einem wettkampfspiel (!) mit einer auswahlmannschaft aus südkorea zu messen - nicht mehr und nicht weniger - mit gefärbten textilien in bestimmten farben - oder mit genetischer verzückung hat das nichts - aber auch gar nichts zu tun - sondern mit geschäft und knete ...

und wenn einstmals - diese hoffnung habe ich - dieser allseits nationalistische wahnsinn  in der welt (und in bayern im besonderen) endlich mal besiegt wird - und die menschheit von dieser fixen idee geheilt wird: dann herrscht frieden - dann könnte diese welt ein paradies sein - aber nur dann ... - S! 

ja - ich bekenne es ganz offen: ich bin ein vaterlandsverräter !!! - ein vaterlandsloser geselle ... -  aber natürlich schaue ich mir heute das fußballspiel an - und drücke selbstverständlich die daumen für die dfb-auswahlmannschaft ...

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