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DIE ZEIT: Claude Lanzmann, Sie haben als Halbwüchsiger in der französischen Résistance gekämpft. Könnte man Sie auch als einen Filmemacher im Widerstand sehen?
Claude Lanzmann: Das ist gar nicht so falsch.
ZEIT: Im Widerstand gegen das Vergessen? Gegen die Verdrängung?
Lanzmann: Gegen das Vergessen. Gegen den Tod. Vielleicht bin ich auch im ewigen Widerstand gegen meinen eigenen Tod. Kürzlich wurde ein Fernsehfilm über mich gedreht. Die Autoren fragten mich nach einem Titel. Und ich schlug vor: "Es gibt nur das Leben". Im September 1944 haben Häftlinge in Auschwitz eine Revolte versucht, die scheiterte. Als Mitglieder der jüdischen Sonderkommandos waren sie dazu gezwungen worden, die Ermordung der Deportierten vorzubereiten, ihre Leichen zu verbrennen. Fast alle diese Aufständischen wurden umgebracht. Aber vorher vergruben sie ihre heimlichen und später wiedergefundenen Aufzeichnungen in der Erde, in der Nähe der Krematorien. Es sind bewegende Zeugnisse.
Ein Satz lautet: "Wir wollen leben, weil es nur das Leben gibt." In diesem Satz liegt eine existenzielle Wahrheit. Auch ich will vor allem leben. Man könnte sagen: Es hat mich immer viel Zeit gekostet zu leben. Die Liebe hat mich Zeit gekostet, der Sex, die Frauen.
...ZEIT: Ist der Mensch Claude Lanzmann manchmal an seine Grenzen gekommen?Lanzmann: Ja (er schweigt eine Weile). Ja, beim Gespräch mit Filip Müller, der als Mitglied des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz fünf Liquidationswellen überlebt hat. Einmal, während der Dreharbeiten zu Shoah, sagte er zu mir:
"Ich wollte leben, unbedingt leben, noch eine Minute, noch einen Tag, noch einen Monat länger. Begreifen Sie: leben."...
aus: Claude Lanzmann: "Niemand war in Auschwitz", von Katja Nicodemus - DIE ZEIT Nr. 46/2013_________________________________________________________
CLAUDE LANZMANN
Er offenbarte, was nicht gezeigt werden kann
Er war ein Linker und pfiff doch auf Political Correctness. Mit „Shoah“ schuf er ein Denkmal für die ermordeten Juden, das dauerhafter sein wird als Erz. Zum Tod des Filmemachers Claude Lanzmann.
Von Hannes Stein | DIE WELT
Man musste ihn lieben: Claude Lanzmann (1925-2018; hier eine Aufnahme von 1985) Copyright: picture alliance / Everett Colle |
Niemand, der Claude Lanzmanns Neuneinhalb-Stunden-Film „Shoah“ gesehen hat, wird jemals den Anfang vergessen: Da sitzt Simon Srebnik in einem Kahn, der durch eine grüne Idylle gleitet, und singt. Tiefer Frieden, ein glitzernder Fluss, ein herrlicher Bariton. Aber nichts davon stimmt. Alles ist falsch.
Denn der Ort, an dem Simon Srebnik singt, heißt Chelmno und liegt in Polen, und hier wurden Hunderte, Tausende jüdische Männer und Frauen und Kinder in Lastwagen mit Abgasen erstickt und anschließend verbrannt, und das letzte Mal, als Simon Srebnik in dieser Landschaft gesungen hat, war er noch klein und ebenfalls ein Todgeweihter.
Natürlich ist das nicht der einzige unvergessliche Moment in „Shoah“. Da ist zum Beispiel auch das schöne Gesicht von Jan Karski, dem polnischen Edelmann (hier stimmt das Wort einmal), der versucht hat, den westlichen Regierungen, vor allem den Amerikanern, die Wahrheit über diesen Völkermord zu sagen – es hat natürlich nichts genützt. Im Film ringt er um Worte, um Atem, als er beschreibt, wie er im Warschauer Getto mit Anführern des jüdischen Widerstandes zusammentraf, und er schluckt verzweifelt Luft und findet sogar Worte, aber man sieht, dass sie ihn von innen heraus zerbrechen.
Der Zug hört nicht mehr auf zu rollen
Unvergesslich dann auch der Schluss des Films: irgendeine polnische Dampflok, die irgendeinen Güterzug zieht, Viehwaggons, Viehwaggons, Viehwaggons wie damals, und der Zug hört nicht auf zu rollen, er wird nie wieder aufhören zu rollen.
Dass Claude Lanzmann jemals einen Film wie „Shoah“ drehen würde, hätte jeden verblüfft, der ihn – sagen wir – in den Fünfzigerjahren kennengelernt hätte. Lanzmann war ein Jude, gewiss doch, aber er war einer von jenen Juden, die ohne Schuldgefühle Austern schlürfen und Schinken in sich hineinstopfen. Er war sehr, sehr französisch, und dass er von polnischen Juden abstammte, tat nichts zur Sache. Er hatte mit 17 Jahren in der Résistance gekämpft – als Kommunist, nota bene, nicht als Jude. Seine ganze engere Familie hatte zum Glück die deutsche Besatzung überlebt: seine Mutter, sein Vater, sein Bruder Jacques, der ein berühmter Schriftsteller wurde.
Wenn Lanzmann in den Fünfzigerjahren für irgendetwas berühmt war, dann dafür, dass er mit Simone de Beauvoir schlief, der Partnerin von Jean-Paul Sartre. Er war ein Linker, was denn sonst? Er war gegen den Algerienkrieg. Er war Existenzialist, er hatte Sympathien für die DDR. 1948 ging er nach Deutschland – es war für ihn das Land des Philosophen Leibniz, nicht das Land der Nazis.
Immerhin gab er damals an der Freien Universität Berlin – auf der Grundlage von Sartres Essay über die „Judenfrage“ – ein Seminar über Antisemitismus. In seiner Autobiografie „Der patagonische Hase“ berichtet er, dass er damals auf den deutschen Straßen viele Überlebende des großen Mordens sah, die in deutschen „DP-Camps“ darauf warteten, bis sie nach Israel oder in die Vereinigten Staaten ausreisen konnten. Lanzmann berichtet nicht, dass er sich sonderlich für sie interessiert oder mit ihnen gesprochen hätte.
In den Sechzigerjahren war Lanzmann ein linker Aktivist, der zum innersten Kreis um Jean-Paul Sartre gehörte. Er war zwar in Israel gewesen, aber es hatte ihn nicht innerlich berührt. Geld verdiente er, indem er für das Modemagazin „Elle“ Artikel über Prominente schrieb. Außerdem war er ein begeisterter Bergwanderer und Schwimmer. In den Jahren, als er mit Simone de Beauvoir zusammenlebte, reisten die beiden in den Urlaub nach Spanien – und es störte sie kein kleines bisschen, dass das Land damals noch von dem Faschisten Francisco Franco regiert wurde. Ganz besonders gut fanden die beiden: Stierkämpfe. Nein, das, was man heute Political Correctness nennt, hat Lanzmann nie interessiert.
Dieses Gefühl, die Uhr sei abgelaufen
Die große Wende aber kam mit dem Jahr 1967. „Im Gegensatz zu dem, was in den vergangenen 40 Jahren behauptet worden ist“, schreibt Lanzmann in seiner Autobiografie, „war der Sechstagekrieg kein Spaziergang. Die Gefallenen von Zahal (der israelischen Armee), die Toten und Verwundeten, waren zahlreich und schmerzten ein Volk tief, das zum Krieg gezwungen worden war. Das Ausmaß des Sieges war kein Ausgleich für den Verlust.“
Vor allem löste die tödliche Gefahr, in der Israel in jenen Junitagen des Jahres 1967 schwebte, in vielen Juden das Gefühl aus, die Uhr sei abgelaufen: Der Völkermord, der 1945 mit der Niederlage Hitlerdeutschlands gestoppt worden war, schien sie doch noch eingeholt zu haben. Selbstverständlich war Lanzmann als Linker gegen die Amerikaner und ihren Krieg in Vietnam. Nach Auskunft von Jean Améry soll er damals auf einer Demonstration aber ausgerufen haben, er werde notfalls auch den amerikanischen Präsidenten Johnson hochleben lassen, wenn man ihn dazu zwinge: wenn es – sollte das heißen – für das kämpfende Israel keine andere Rückendeckung mehr geben sollte als jene durch die Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Frucht von alldem war „Warum Israel“, ein Dokumentarfilm mit Überlänge (drei Stunden!), der 1973 kurz nach Ausbruch des Jom-Kippur-Krieges in New York seine Premiere feierte. (Vor wenigen Jahren verhinderten linksradikale Nazis in Hamburg eine Aufführung dieses Films mit Rufen wie „Judenschweine“ – diese Schande soll hier nicht vergessen werden.) „Warum Israel“ ist kein zionistischer Propagandastreifen. Der Film macht lediglich deutlich, warum das jüdische Volk einen eigenen Nationalstaat braucht. „Shoah“ begann dann als eine Auftragsarbeit: Mitarbeiter der israelischen Regierung wollten, dass Lanzmann – quasi als Ergänzung zu „Warum Israel“ – nun auch noch einen Film über den Mord an den sechs Millionen drehen sollte.
Natürlich wusste damals keiner – seine Auftraggeber nicht, aber auch Lanzmann selber nicht –, worauf sie sich da einließen. Es war nicht geplant, dass die Dreharbeiten sechs Jahre dauern sollten. Es war nicht geplant, dass der Film so lange dauern würde, dass es beinahe unmöglich ist, ihn an einem einzigen Tag zu sehen. Die Israelis zogen bald ihre Unterstützung zurück. Lanzmann fand private Geldgeber, und dann noch mehr private Geldgeber. Seine Methode, um sich ihre Unterstützung zu sichern: Er log das Blaue vom Himmel herunter. Er schwindelte, er sei eigentlich schon beinahe fertig und brauche nur noch ein paar Dollar.
Als „Shoah“ dann wirklich fertig war, entbrannte sofort eine heftige Kontroverse. Die Polen, die das Werk sahen, waren nicht entzückt; auch viele polnische Juden konnten sich mit dem Film nicht anfreunden. Die Kritik war, dass Claude Lanzmann Polen als ein armes, verrohtes und zutiefst antisemitisches Land gezeichnet habe. Die Leiden der christlichen Polen, die unter der brutalen deutschen Besatzung litten, kämen in dem Film nicht vor; auch nicht die heroischen Bemühungen von Polen, die Juden vor den Deutschen gerettet hätten.
Heute – nachdem Bücher wie jenes von Jan T. Gross über das Massaker von Jedwabne erschienen sind – sind die polnischen Kritiker von „Shoah“ deutlich leiser geworden. Vor allem muss man sagen, dass diese Kritik am Wesentlichen vorbei zielt. Das Thema von Claude Lanzmanns Film ist eben nicht der polnische Widerstand (, sondern jener der Juden; der Film endet mit der Erinnerung an den Aufstand im Warschauer Getto). Sein Thema ist auch nicht der Zweite Weltkrieg im Allgemeinen (dies wäre der Zusammenhang, in dem dann allerdings ausführlich über den deutschen Massenmord an polnischen Christen geredet werden müsste).
Keine Minute zu lang
Es geht in „Shoah“ vielmehr um das, was nicht gezeigt werden kann: den Tod in der Gaskammer. Er ist das schwarze Loch des Verstehens, dem sich all die überlangen Gespräche mit jüdischen Überlebenden, polnischen Zuschauern und deutschen Tätern tastend und vorsichtig annähern. Deswegen ist dieser Mammutfilm auch keine Minute zu lang. Er konnte gar nicht kürzer sein.
Später drehte Lanzmann den Fünf-Stunden-Film „Tsahal“, in dem er ungeniert den Umstand feierte, dass die Söhne und Töchter der Überlebenden der mörderischen Welt von heute nicht mehr wehrlos gegenüberstehen. Aber „Tsahal“ ist im Grunde nur eine überlange Fußnote zu „Shoah“.
Die künstlerische Höhe seines Hauptwerks hat er dann allerdings doch noch einmal erreicht – mit seiner Autobiografie, für die er den WELT-Literaturpreis erhielt. „Der patagonische Hase“ ist eine ausufernde, wilde, stellenweise auch lyrische Feier des Lebens; und selbstverständlich hält der Autor sich keinen Absatz lang mit solchen Kinkerlitzchen wie Selbstkritik auf. „Der patagonische Hase“ lehrt uns, dass man diesen Claude Lanzmann einfach lieben musste, anders war der Typ überhaupt nicht auszuhalten. Er hatte aber auch einen handfesten Grund, eitel zu sein. Mit „Shoah“ hatte er ein Denkmal aufgerichtet, das dauerhafter sein wird als Erz.
Dieser Film wird Menschen auch noch in 500 Jahren beschäftigen – wenn wir uns bis dahin nicht gegenseitig mit Atombomben von der Erdkugel gepustet haben.
Jetzt ist Claude Lanzmann im Alter von 92 Jahren gestorben.
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in allen echten "linken" 68ern steckt ja in all den jahren ganz tief drin - "ein-stück-weit" wie eine gängige 68er gesprächsfloskel gerne lautete - die wie besessen angestachelte und glühende und abrechnende und trotzdem aufarbeitende wut und die sprachlose trauer und empathie des claude lanzmann - diese einzigartige form einer zeitlosen gedenk- und erinnerungskultur - auch als zäsur und abnabelung von der eigenen schweigenden elterngeneration - endlich zweifeln zu "dürfen" ohne darüber zu verzweifeln ...
ich gebe ja zu: seinen film "shoah" anzuschauen ist jedesmal auch eine buße, eine beichte, eine taufe, ein schweißbad, ein canossa-gang, der einen sprachlos macht - und gleichzeitig fällt man voller scham dabei oft in bleierne schlaf- und alptraumsequenzen.
filmstill "shoah" - bildikone |
dieser mann dort auf der lok nach treblinka - seine wettergegerbte haut, sein listiges und gleichzeitig neugierig-trauerndes gesicht unter dem pett ist eine echte bildikone, die mich in all den jahren seit 1985 begleitet ...
lanzmann hat in seinem 9,5-stunden-werk die "sprache" dafür gefunden, das unaussprechliche zu reflektieren -ohne zu belehren ... - ohne zu erklären: als eine stumme immerwährende anklage: so war es und so isses ...
lanzmann hat "shoah" in 12 jahren abgedreht - manche quellen sprechen gar von 20 jahren: für den zuschauer ist der film ein dabeisein, ein mittendrinsein - einen ganzen arbeitstag lang: es sind zeit- und augenzeugen, und es ist oft auch das hörensagen, was da interviewt wird und nach sprache ringt - und das unaussprechliche äußert und berichtet: in vielen sprachfetzen und geschichten - in echter "oral history" - immer wieder durchbrochen von stillen und langsamen kamerafahrten über das erdreich hinweg, worüber inzwischen die grasdecke gewachsen ist, die aber nur das ungeheuerliche recht knapp und schamhaft und zaghaft zudeckt.
der 68er-slogan: "unter dem pflaster, da liegt der strand" wurde von lanzmann gewandelt in: unter dem grünen und oft schon vertrockneten gras, da liegt hier unweigerlich für immer gen himmel schreiend das pure grauen ...
ansonsten versagen hier alle begrifflichkeit und sprache und schrift: man muss sich 9,5 stunden einlassen - auch mit dem heute existierenden israel im hinterkopf - und den geplanten transitzentren an der deutsch-österreichischen grenze - und der schneidend-grinsenden stimme einer frau weidel und dem altersstarrsinn eines herrn gauland und der wirrnis im kopf des herrn seehofer - und der auch selbst kaum zu erklärenden abwehr der nachgeborenen gegen all die geflüchteten heutzutage - und man muss nachdenken über die drei abrahamitischen religionen: juden, muslime, christen ... - und nachdenken über den impuls, sich an den händen zu fassen, sich festzuhalten, sich zu trösten ... -S!
claude lanzmann ist tot - aber ob er jemals sterben wird ??? - seine "stimme" darf niemals sterben ...
WELT.edition |