AUFLESEN : ANPEPPEN : ANREGEN
... die selbstlose Hilfe ist der eigene Schmerz beim Anblick des Anderen ...
SPIEGEL: ... Wenn Sie nachts ihre schreiende Tochter trösten: Machen Sie das nur, um Ihr eigenes Mitleiden zu beenden?
Keysers: Natürlich nicht nur, aber schon auch. Wir ertragen es nicht, das Elend mitanzusehen, eben weil es uns selbst wehtut.
SPIEGEL Aber wir zögen es doch vor, unsere Hilfe als selbstlos zu betrachten.
Keysers: Wir helfen, weil wir unwillkürlich mit anderen Menschen empathisch verbunden sind. Das macht uns zu besonders sozialen Wesen. Umgekehrt bedeutet das ja auch: Würde ich meinem Mitmenschen Schmerz zufügen, täte ich mir selbst weh.
SPIEGEL: Heißt das, Ethik ist vor allem Gefühlssache?
Keysers: Ethik ist moralisches Fühlen, so würde ich es ausdrücken. Die Frage, ob es richtig oder falsch ist, Menschen so oder so zu behandeln, entscheiden wir in erster Linie mit dem Gefühl. Der Verstand ist zwar auch beteiligt, aber oft erst hinterher, um passende Gründe für unsere Gefühlsentscheidung nachzuliefern.
SPIEGEL: Folgt daraus: Pech für all die Hilfsbedürftigen, die mir eher fernstehen, mir also weniger bedeuten?
Keysers: Das ist ein Nachteil, ja. Die Empathie nimmt naturgemäß mit zunehmender Entfernung ab - und damit die Bereitschaft, anderen zu helfen. Das lehrt auch die Lebenserfahrung: Der frierende Obdachlose im Hauseingang rührt uns unmittelbar an, das hungernde Kind in Afrika schon viel weniger.
SPIEGEL: Wir helfen also doch nur anderen, um unser eigenes Wohlbefinden wiederherzustellen!
Keysers: Schon Nietzsche hat den Altruismus eine „spezifische Form des Egoismus" genannt. Natürlich wollen wir zunächst unser eigenes Glück. Aber durch die Empathie flechten wir in unser Streben das Wohl und Wehe anderer mit hinein.
Es ist sicher kein Zufall, dass viele kluge Leute, von Jesus über Mohammed bis Immanuel Kant, ihre Ethik sehr egoistisch formuliert haben. Sie sagen nicht: Gib anderen, was sie haben wollen. Sie sagen: Überleg dir, was dir gefallen würde. Und das lasse dann dem anderen zukommen. Das ist die einzige Ethik, die in unserer Welt, mit unseren Gehirnen wirklich funktionieren kann.
Aus einem SPIEGEL-Gespäch "Eine fast mystische Verbindung" mit dem deutsch-französischen Hirnforscher Christian Keysers | DER SPIEGEL 29 / 2013, S. 122-126
... die selbstlose Hilfe ist der eigene Schmerz beim Anblick des Anderen ...
SPIEGEL: ... Wenn Sie nachts ihre schreiende Tochter trösten: Machen Sie das nur, um Ihr eigenes Mitleiden zu beenden?
Keysers: Natürlich nicht nur, aber schon auch. Wir ertragen es nicht, das Elend mitanzusehen, eben weil es uns selbst wehtut.
SPIEGEL Aber wir zögen es doch vor, unsere Hilfe als selbstlos zu betrachten.
Keysers: Wir helfen, weil wir unwillkürlich mit anderen Menschen empathisch verbunden sind. Das macht uns zu besonders sozialen Wesen. Umgekehrt bedeutet das ja auch: Würde ich meinem Mitmenschen Schmerz zufügen, täte ich mir selbst weh.
SPIEGEL: Heißt das, Ethik ist vor allem Gefühlssache?
Keysers: Ethik ist moralisches Fühlen, so würde ich es ausdrücken. Die Frage, ob es richtig oder falsch ist, Menschen so oder so zu behandeln, entscheiden wir in erster Linie mit dem Gefühl. Der Verstand ist zwar auch beteiligt, aber oft erst hinterher, um passende Gründe für unsere Gefühlsentscheidung nachzuliefern.
SPIEGEL: Folgt daraus: Pech für all die Hilfsbedürftigen, die mir eher fernstehen, mir also weniger bedeuten?
Keysers: Das ist ein Nachteil, ja. Die Empathie nimmt naturgemäß mit zunehmender Entfernung ab - und damit die Bereitschaft, anderen zu helfen. Das lehrt auch die Lebenserfahrung: Der frierende Obdachlose im Hauseingang rührt uns unmittelbar an, das hungernde Kind in Afrika schon viel weniger.
SPIEGEL: Wir helfen also doch nur anderen, um unser eigenes Wohlbefinden wiederherzustellen!
Keysers: Schon Nietzsche hat den Altruismus eine „spezifische Form des Egoismus" genannt. Natürlich wollen wir zunächst unser eigenes Glück. Aber durch die Empathie flechten wir in unser Streben das Wohl und Wehe anderer mit hinein.
Es ist sicher kein Zufall, dass viele kluge Leute, von Jesus über Mohammed bis Immanuel Kant, ihre Ethik sehr egoistisch formuliert haben. Sie sagen nicht: Gib anderen, was sie haben wollen. Sie sagen: Überleg dir, was dir gefallen würde. Und das lasse dann dem anderen zukommen. Das ist die einzige Ethik, die in unserer Welt, mit unseren Gehirnen wirklich funktionieren kann.
Aus einem SPIEGEL-Gespäch "Eine fast mystische Verbindung" mit dem deutsch-französischen Hirnforscher Christian Keysers | DER SPIEGEL 29 / 2013, S. 122-126