"... ich bin davon überzeugt, dass Munchs künstlerisches Temperament eine tiefe Neigung zu einer metaphysischen Gedankenwelt hat, was seiner Kunst einen Hauch von fast religiöser Feier all der Wunder des Lebens gibt. "Jens Thiis, ein Freund Munchs, 1909 geschrieben - reproduziert in einem Buch 1933 anlässlich des siebzigsten Geburtstags von Edvard Munch
Edvard Munch hat zwei Arbeiten hinterlassen, die das Kreuz zum Thema haben:
Zum einen ist es eine Radierung bzw. ein Tuschaquarell mit dem Titel "Das leere Kreuz":
Das leere Kreuz | Edvard Munch | um 1898 | Aquarell und Tusche |
Der Leichnam Christi ist also bereits abgenommen worden oder wird in dieser Darstellung als notwendiges "Interieur" eben nicht mehr benötigt. Edvard Munch war ja von Haus aus als pietistischer Protestant aufgewachsen, wo der Korpus am Kreuz - also das Kruzifix - nicht unbedingt in der Verehrung die höchste Priorität hat - wie in den meisten katholischen Gegenden. Ein schlichtes Holzkreuz - etwa rustikal gefertigt aus einer Mooreiche - wurde hier oft als ausdrucksstärker und verehrungswürdiger empfunden.
«Es sollen nicht mehr Interieurs mit lesenden Männern und strickenden Frauen gemalt werden. Es müssen lebende Menschen sein, die atmen, fühlen, leiden und lieben. Ich werde eine Reihe solcher Bilder malen: Man soll das Heilige dabei verstehen, und die Leute sollen den Hut davor abnehmen wie in einer Kirche», hat Munch das formuliert - also so ähnlich wie Luther zu seiner Bibelübersetzung: "Dem Volke aufs Maul schauen" ... - das "Heilige" und Gestelzte vom Himmel auf die Erde zerren - und in sich selbst suchen ...
Das sich ablenkende, mit sich selbst beschäftigte - vielleicht auch innerlich erschütterte - Volk hat sich vom "Tatort" längst entfernt und geht seiner Unterhaltung nach, badet und schwimmt im Wasser, und macht Picknick am Strand, trifft sich dort zum Plausch und spielt vielleicht auch Karten miteinander - wie man ja auch im Neuen Testament erwähnt, direkt unterm Kreuz habe man bereits um seine letzte Habe gewürfelt... Eine Priestergestalt - ein Geistlicher - (Munch heißt zu deutsch: Mönch) geht etwas unschlüssig durch diese uninteressierte Szenerie, an den Badenden vorbei, die aber zumindest teilweise vielleicht auch seinen Beistand einfordern - oder gar von ihm getauft werden wollen ...
Das leere Kreuz | Edvard Munch | um 1898 | Radierung |
Das Volk wirkt insgesamt gründlich verstört, enttäuscht und desinteressiert: Das Kreuz steht leer da im Hintergrund und rakt da überm Horizont: Ja - selbst der "König der Juden", der sich als "Sohn Gottes" und als "Menschensohn" bezeichnet hat, konnte den eigenen Tod nicht verhindern - und musste so elendig verrecken - einfach so wie alle Menschen ... - wofür benötigen wir ihn also noch - und warum immer noch diesen Popen ... ???
Munch ist ein in sich versunkener fast einsamer Mensch, der seine Gedanken, seine inneren Überzeugungen auf die Radierplatte bzw. Leinwand bringt - und sich dabei keiner gängigen Ikonografie bedient. So wie sich da die Menge vom Kreuz abwendet, kehrt sie auch im tatsächlichen Leben heutzutage und eben schon vor über 100 Jahren dem Kreuz den Rücken. Der Jesus hängt hinfort nicht mehr da am Holze - sondern wir alle müssen ihn in uns aufspüren lernen, wenn wir noch etwas mit ihm anfangen wollen - in uns ist er auferstanden - sein Geist erfüllt uns - wir müssen nur hinhören - in uns hineinforschen: "Gott ist in uns und wir sind in Gott ...", schreibt Edvard Munch in einem Manuskript drei Jahre vor dem "leeren Kreuz" - "alles ist Bewegung und Licht" ... - und dieses Licht scheint in der Finsternis einer jeden Verzweiflung und eines jeden Todes ...
In dieser Grafik von 1898 bleibt aber das Kreuz auch deshalb einfach leer, weil das Martyrium des Daseins von nun an auch ohne himmlischen Beistand auszukommen scheint, die Selbstheiligung des Menschen durch die neue Kunst des "Selbstausdrucks" - des psychischen und unbewussten Schöpfens aus sich selbst kann vielleicht auf einen "Erlöser" verzichten. Das Bad ist kein Taufbad mehr, sondern ein Lustbad - und auch das lässt sich unter der Überschrift: «Das moderne Leben der Seele» subsumieren.
Munch wurde in seinen Überlegungen und Ideen zu dieser Kreuzigungs-Bildwelt sicherlich auch von Nietzsche beeinflusst, mit dem er sich intensiv auseinandersetzte und den er 1906 nach einer Fotovorlage in einer Auftragsarbeit von Elisabeth Förster-Nietzsche, der Schwester Nietzsches, sogar überdimensional posthum porträtierte:
„Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? […] Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?“ Friedrich Nietzsche: Aphorismus 125 aus der Fröhlichen Wissenschaft mit dem Titel „Der tolle Mensch“, 1882 ........................................................
GOLGOTHA | Edvard Munch | um 1900 |
Munchs Schrecken und Lebensangst sind trotz seines gewissen Bohemiens und seiner Weltgewandtheit und unbändigen Reiselust auf der einen Seite - aber auch immer auf der Flucht vor sich selbst und misstrauisch auf der anderen Seite - in dieser Zerrissenheit permanent vorhanden und gespalten.
Emil Nolde | Kreuzigung | 1912 |
Diese Kreuzigungsszenen der Symbolisten und Expressionisten finden nicht mehr da irgendwo in einem "Heiligen Land" statt - sondern es ist die Szene aus dem eigenen Dunstkreis, aus der eigenen Nachbarschaft, aus dem eigenen Selbst heraus - wo jeden Tag "gekreuzigt" und verhöhnt wird - wo jeden Tag der Pöbel brüllt: "Kreuziget ihn" - und wo man sich über die Kunst und die Qualen der Geburt eines Kunstwerkes lustig macht - und auch sagt - wie seinerzeit die Angehörigen Jesu: sie gingen hinaus, um ihn zu greifen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen... - Das meinten ja die Nachbarn von Edvard Munch auch - und tuschelten über ihn - und schüttelten mit dem Kopf - und deshalb malte er sich als Gekreuzigter - und gleichzeitig als Betrachter dieser blutigen und schrecklichen Hinrichtung ...
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Nichts ist winzig,
Nichts ist riesig -
Es gibt Welten in uns -
Das Kleine ist Teil des Großen
wie das Große Teil des Kleinen ist -
Ein Tropfen Blut ist eine ganze Welt, mit einer Sonne in der Mitte
und Planeten - und die Sterne -
Das Meer ist ein Tropfen Blut,
Ein winziger Teil eines Körpers -
Gott ist in uns und wir sind in Gott -
Das einfache und ursprüngliche Licht ist überall,
Es scheint überall dort, wo das Leben zu finden ist -
Und alles ist Bewegung und Licht -
Kristalle werden geboren und wachsen
Wie ein Kind in der Gebärmutter -
Und die Flamme des Lebens brennt selbst im härtesten Stein -
Der Tod ist der Beginn eines neuen Lebens:
Einer erneuten Kristallisation -
Der Tod ist der Anfang des Lebens
Wir sterben nicht -
Es ist die Welt, die von uns abstirbt -
Edvard Munch
Manuscript T 2787, wahrscheinlich um 1895
vergleiche auch:
http://www.puramaryam.de/gesetzhermes.html
und:
http://www.der-glaube.de/pdf/Gesetz_der_Analogie.pdf
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Edvard Munch wuchs in einem streng orthodox-lutherischen Elternhaus auf. Nach dem frühen Tod der Mutter drohte ihm der Vater, der Militärarzt war, die Mutter würde ihn genau und unablässig beobachten - und so darüber entscheiden, ob er sie eines Tages im Himmel wiedersehen dürfe ... Der Vater verfiel nach dem Tod seiner Frau immer mehr religiösen Wahnideen und einer moralisierenden Frömmelei
Munch: Nietzsche | 1906 |
Ganz allmählich löste sich Sohn Edvard Munch von derartig gestrengen moralisierenden Einflüssen - und wandte sich immer mehr den pantheistischen Ideen der Spiritualisten als damaligem "aufgeklärten" Zeitgeist mit dem Hang zum "Inneren" zu.
Er diskutierte mit anderen Intellektuellen und Künstlern über Friedrich Nietzsches Philosophie: "Gott ist tot"...(siehe oben..): - Im Christentum sah Friedrich Nietzsche Phänomene der "Décadence" und im gekreuzigten Gott ein "Ärgernis", "ein Fluch auf das Leben." Denn von Beginn an habe die christliche Religion unser irdisches Leben diffamiert und geschwächt. Christentum war für Nietzsche, infolge seiner moralisch motivierten Weltverneinung, "die gefährlichste und unheimlichste Form aller möglichen Formen eines Willens zum Untergang - ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmutigkeit, Erschöpfung und Verarmung an Leben."] Hinzu standen Okkultismus, Magnetismus, Esoterik, Psychologie und die dunklen Seiten der Sexualität im Mittelpunkt der Diskussionen, die Edvard Munch in seinen Kreisen führte.
Auf Bestellung führte Munch ein monumentales posthumes Phantasieporträt von Friedrich Nietzsche aus, und während mehrerer Besuche in Weimar porträtierte er auch die Schwester des verstorbenen Philosophen, Elisabeth Förster-Nietzsche. Das Nietzsche-Porträt war das einzige Bildnis, das Munch nach einer Fotografie und nicht nach lebendem Modell schuf.
Obwohl er sich irgendwann als Agnostiker bezeichnete hielt er an einer inneren "seelischen" Instanz fest - und stand den Ideen von Wiedergeburt und Inkarnation positiv gegenüber...
Am 8. Juni 1934, Munch ist 71 Jahre alt, formuliert er:
"Mein Bekenntnis:
Ich verbeuge mich vor Etwas, das, wenn Sie so wollen, man einen "Gott" nennen könnte - die Lehre Christi scheint mir die beste zu sein, und Christus selbst kommt diesem Göttlichen sehr nahe - wenn man das in diesem Zusammenhang so zum Ausdruck bringen kann."