Am 26. Februar 2012 - also vor gut einem Jahr - hat der Schriftsteller Ingo Schulze im Rahmen der “Dresdner Reden 2012” im Dresdner Schauspielhaus eine Rede unter der Überschrift “Unsere schönen neuen Kleider | Gegen die marktkonforme Demokratie – für demokratiekonforme Märkte” gehalten. Die vollständige Rede gibt es als pdf bei den Nachdenkseiten zum Download. Die 26 Seiten durchzulesen lohnt sich auf jeden Fall. Ingo Schulze übernimmt in diesem Text die Rolle des Kindes aus dem Märchen “Des Kaisers neue Kleider”, das ausruft: “Aber der hat doch nichts an”. Er spricht eine Wahrheit aus, die niemand gern hören will.
Ich werde in den nächsten Tagen plakativ einige Kernsätze dieser Rede hier ins Blog posten und mit meinen Möglichkeiten versuchen, sie zu illustrieren ... - einfach um Sie neugierig zu machen - aber auch um Sie aufzuschrecken, denn klammheimlich scheint es unserer noch jungen Demokratie in Deutschland an den Kragen zu gehen ...
Das Ziel, an dem sich alle politischen Entscheidungen auszurichten hatten, hieß wirtschaftliches Wachstum.
Sobald ein Vorschlag, ach, ein Gedanke, in Verdacht gerieten, das Wachstum zu hemmen, waren sie sowohl in der politischen Arena wie an den meisten Stammtischen erledigt. Politik
war dazu da, Wachstum zu befördern. Praktisch jedes Problem musste erst durch das Nadelöhr Wachstum kommen, wollte es auf eine Lösung hoffen.
Das beste Mittel um Wachstum zu schaffen, sollte eine allumfassende Privatisierung sein. Weniger Staat, mehr Markt. Das hieß: Je mehr Freiheit, desto mehr Wohlstand. Kaum jemand fragte: Freiheit für wen? Freiheit wovon? Wohlstand für wen?
Worte wiewurden im Sprachgebrauch tunlichst vermieden.
- Kapitalismus,
- Klassenkampf oder
- Profitmaximierung
Zu fragen,
- wer woran verdient,
- wem das und das nutzt oder
- zu wessen Nachteil dies oder jenes ist,
galten als unfein und waren ein Ausweis von vulgärem Denken. So verschwanden just in dem Moment Worte und Fragen aus dem Alltag, da sie notwendiger denn je gewesen wären, um die neue Wirklichkeit zu beschreiben.
Die Ideologie besteht darin, die Fakten und Tatsachen so aussehen zu lassen, als handele es sich um etwas Gegebenes, naturgesetzlich Vorgefundenes, womit wir uns abzufinden, womit wir uns zu arrangieren haben.
Dieser Sprachgebrauch lockt von den politischen, sozialen, ökonomischen und historischen Zusammenhängen und Fragen weg, und führt in Gefilde, in denen es keine Infragestellung des Status quo gibt, in denen alle Zwänge Sachzwänge sind und gegensätzliche Interessen nur an der Oberfläche existieren. Eine Sprache, die aus Geschichte Natur macht, eine Natur, die zu ändern nicht in unserer Macht steht, mit der wir uns zu arrangieren, an die wir uns zu gewöhnen haben.
Die neuen gültigen Spielregeln wurden als die einzigen anstrebenswerten vorausgesetzt und verabsolutiert, wer sie nicht akzeptiert, stellt sich außerhalb des Diskurses.
Am Diskurs teilnehmen dürfen jene,
- die Profit „Shareholder value“ nennen,
- die zu demjenigen, der seine Arbeitskraft verkauft, „Arbeitnehmer“ sagen
- und zu demjenigen, der die Arbeit kauft, „Arbeitgeber“.
- Steuersenkung für Unternehmen und Unternehmer werden „Entlastung der Investoren“ genannt,
- aus der Senkung der social security wird „Leistungskürzung für Arbeitsunwillige“,
- die Belastung für Arme heißt „Eigenverantwortung“,
- die Kürzung der Arbeitslosenhilfe wird zum „Anreiz für Wachstum“,
- die Senkung der geringsten Einkommen wird als „globale Konkurrenzfähigkeit“ oder „marktgerechte Beschäftigungspolitik“ bezeichnet,
- Gewerkschaften, die für Flächentarifverträge eintreten werden zu "Tarifkartellen" und "Bremsern"
- und so weiter. (Ivan Nagel, Falschwörterbuch, Berlin 2004)
Ingo Schulze in der "Dresdner Rede 2012"
(Fortsetzung folgt)