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Euthanasie-Opfer: Vor 70 Jahren wurde Erna Kronshage ermordet ...

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Genau vor 70 Jahren endete das unaufhaltsam rasche aber heftige nur insgesamt 17 Monate währende NS-"Euthanasie"-Martyrium meiner Tante Erna Kronshage durch den dann gewaltsam herbeigeführten Tod - "durch Erschöpfung" - am 20.02.1944...
S!NEDi|photo|bearbeitung: Erna Kronshage



ERNA KRONSHAGE 
geboren am 12.12.1922 | ermordet am 20.02.1944 
[genau vor 70 Jahren]

Meine Tante selbst habe ich leider nie kennengelernt: ich wurde erst 1947 geboren. Fast 30 Jahre lang sammele ich Informationen zur Opferbiographie meiner Tante - und ich kann heute bruchstückhaft - peu à peu - ein ziemlich genaues Bild von ihrem viel zu kurzen Lebensweg nachzeichnen. 
Aus insgesamt ebenso fragmentarischen und teilweise zwischendurch (un)bewusst verdrängten Erinnerungen und Mitteilungen meiner Mutter (einer Schwester Ernas), der weiteren Familie, ehemaliger Nachbarn, von Freunden und Verwandten, sowie aus einschlägigen Urkunden und Akten konnte ich nach und nach die Geschichte der Erna Kronshage zusammensetzen, die das elfte und jüngste Kind der Familie Kronshage war und die innerhalb von nur 17 aber sehr heftig turbulenten und grausamen Monaten zwischen Herbst 1942 und Frühjahr 1944 als eine zunächst gesunde junge Frau, plötzlich als "schizophren" diagnostiziert, dadurch dann zwangssterilisiert, und zum Abschluss in einer sogenannten Gau-"Heil"anstalt im damals besetzten Polen umgebracht wurde. 

Ich habe viele Belege gesammelt, diesen plötzlichen gnadenlos tödlich konsequenten Leidensweg meiner Tante zu dokumentieren, und habe ihre Geschichte in einem Gedenkblog im Internet mit eingebauten 15-min.-YOUTUBE-Videos veröffentlicht, die an das grausame und maßlos brutale Unrecht erinnern - auch um besonders die jüngere Generation zu erreichen und aufzuklären. Ich habe schon mehrfach in Schulklassen und in Themenveranstaltungen der relevanten Erzählcafés bzw. Geschichtswerkstätten mit interessiertem Publikum darüber berichten können (siehe dazu auch die Vermerke in der rechten Sidebar dieses Blog-Layouts...).

Das Gedenkblog wurde seit Ende 2009 bis dato rund 65.000 mal angeklickt - und die Besucher kamen im gleichen Zeitraum aus mittlerweile mindestens 133 verschiedenen Staaten der Erde - das Video klickte man bisher rund 25.000 mal an - wobei die Anzahl der "Klicks" natürlich nichts von der Qualität und Intensität der Kontaktaufnahmen aussagt ...

In welchem Dilemma sich Erna Kronshage befand - eine hochintelligente, wache, junge, sensible Frau, die die damalige Volksschule mit einem Notendurchschnitt von 1,78 abgeschlossen hatte - ein Wert, dem allerdings damals noch keinerlei Bedeutung zugemessen wurde - verdeutlicht ihr weiter Lebenslauf:

Als das letzte Kind ihrer Eltern wird sie im Heranwachsen immer stärker innerlich zerrissen: Denn als ihre zehn älteren Geschwister zum Teil verheiratet aus dem Haus gehen bzw. ihre Brüder zum Arbeitsdienst oder an die Front zur Wehrmacht eingezogen werden (ab ca. 1939 - da ist Erna erst 17 Jahre alt ...), schrumpft diese ursprüngliche 13-köpfige Großfamilie - in der sie als das jüngste Kind hineingeboren wurde - und dadurch ganz natürlich entsprechende Verwöhnungen erhält und Privilegien hat - zu einer völlig überforderten und durch Krankheit, Kriegswirren und Kriegsängsten instabilen 3-köpfigen Kleinstfamilie ...  

Allein auf Erna Kronshage lastet nun immer mehr die Pflicht, den schwächelnden Eltern auf dem landwirtschaftlichen Anwesen bei der täglichen Arbeit zu helfen - in ihrer damals völlig normalen beruflichen Anstellung als "Haustochter im elterlichen Betrieb"... Gleichzeitig hat sie sicherlich als lebenslustig Heranwachsende auch auf eigenen Füßen stehen und sich vom Elternhaus lösen wollen... 

Die so für eine "normale" jugendliche Entwicklung damals äußerst perspektivlose Kriegszeit sowie der erste Bombenabwurf eines englischen Fliegers im 2. Weltkrieg in Ostwestfalen - plötzlich und unerwartet wie "aus heiterem Himmel" bereits am 2. Juni 1940 (Kriegsbeginn war ja am 1.09.1939) - bei dem in unmittelbarer Nachbarschaft im gegenüber gelegenen Gutshof Westerwinter (in ca. 80-120 m Entfernung) eine Bekannte ums Leben kommt, hat Erna sicherlich entsprechend verunsichert und wahrscheinlich sogar traumatisiert. Durch diese innere Verunsicherung und durch dieses miterlebte Bomben-Traumata aus nächster Nähe ist der äußere Krieg auch zu einem inneren Krieg für Erna Kronshage geworden. 

Diese innere Zerrissenheit hat dann eine spontane akute Arbeitsverweigerungshaltung im Herbst 1942 ausgelöst: Erna Kronshage kommt plötzlich ihren Aufgaben nicht pünktlich nach und geht gegenüber den Eltern in den aktiven und passiven Widerstand (heute würde man sagen: "Null-Bock-Phase" und "aufmüpfig sein" - "Burn-out-Phase" - oder aber "posttraumatische Belastungsstörung") weshalb damals ihre Mutter die sogenannte "Braune Schwester" als damalige Gemeindeschwester und Fürsorgerin von der NS-Volkswohlfahrt um Rat fragt... 

Auf Grund dieses eingeholten Ratschlages begibt sich Erna Kronshage mit einer polizeilichen Einweisung als "sich und die Allgemeinheit gefährdende Person" (="gemeingefährlich") am 24.10.1942 auf Anraten dieser NS-"Fürsorgerin" und dem Gutachten eines Amtsarztes, den sie zuvor aufgesucht hat, schließlich in die Hände der Ärzte der Provinzialheilanstalt Gütersloh, weil sie sich dort professionelle Hilfe ausrechnet. Von der Verstrickung der damaligen NS-Psychiatrie in die nationalsozialistisch propagierte Doktrin eines "gesunden arischen Volskörpers" hat Erna damals keine Ahnung - und entsprechende Gerüchte um sie herum sicherlich zurückgewiesen, hatte man doch just einer Schwester dort nach einem "Erregungszustand" in nur einem 4-wöchigen Kurzaufenthalt 1939 adäquat helfen können ...

Aber anstatt die von einer "Heilanstalt" - mit modernen jungen "studierten Ärzten und Psychiatern" und modernen "Therapieeinrichtungen" ausgestattet - zu erwartende Zustandsverbesserung einzuleiten - ging es - ganz im Gegenteil - von nun ab - gnadenlos - bergab ...

Bereits am ersten Aufenthaltstag haben die dort tätigen NS-Psychiater Ernas akuten Zustand nämlich als "Schizophrenie" diagnostiziert, obwohl zuvor nie demgemäße Symptome - "endogen= von innen heraus" - zu beobachten waren ... Aber nun hat man ganz "zeitgemäß" im Blut- und Boden-Denken sich aufgrund der "Sippen- und Ahnentafel" der Familie - und auch eben dieses 4-wöchigen Kurzaufenthaltes der Schwester dort - auf diese Diagnose einer "Schizophrenie" unumstößlich festgelegt ... - mit heute nicht mehr nachvollziehbaren Begründungen ... 
Damals ganz modern - wurde diese im Schnellschuss-Verfahren diagnostizierte "Schizophrenie" mit der gerade in Gütersloh eingesetzten "aktivierenden Krankenbehandlung" mit Arbeitstherapie (Gartenkolonne, Kartoffelschälen, Hauswirtschaft, einfache Handwerks-Verrichtungen) und "Cardiazol"-Schocks (Vorläufer-Therapie der späteren Elektroschocks) behandelt. Alle zwei bis drei Tage löste man mit einem Kampfer-Medikament epileptische Anfälle aus – 15- bis 30 mal pro Behandlungsserie - bei 3-4 so provozierten Anfallsgeschehen in der Woche, so wird es wenigstens in der damaligen Literatur von den Fachärzten empfohlen. 

Mit dieser Tortur ist Erna Kronshage eher ruhig gestellt, diszipliniert und in ihrem Willen gebrochen worden, als dass das "Krankheitsbild" einer Schizophrenie nach heutigen Maßstäben tatsächlich adäquat behandelt worden wäre. 

Weitere "Therapiemaßnahmen" im Zuge der damals modernen Behandlung in Gütersloh sind für Erna Kronshage nachweislich eben das Kartoffelschälen und die Gartenarbeit, die sie ja aber genauso auch schon zu Hause als "Haustochter" zu verrichten hatte.

Da "Schizophrenie" als Erbkrankheit im Sinne des damaligen NS-Gesetzes "zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses" gilt, soll Erna Kronshage nun auf Antrag des Direktors der Provinzialheilanstalt Gütersloh, Dr. Werner Hartwich, zwangssterilisiert werden. 

Bis zuletzt versucht ihr Vater dieses Schicksal abzuwenden - leider erfolglos. Am 04.August 1943 wird sie in Gütersloh nach Beschluss in 2. Instanz des Erbgesundheitsobergerichtes in Hamm tatsächlich - gerade einmal etwas über 20,5 Jahre alt - zwangssterilisiert. 

Am 12. November 1943 wird Erna Kronshage angeblich „aus Luftschutzgründen“ - aber auch zur notwendigen Freistellung von Pflegebetten für den Lazarettbedarf in der Provinzialheilanstalt Gütersloh aufgrund der zunehmend verheerenden Bombardierungen der Städte und der schweren Verletzungen von Frontsoldaten im Rahmen einer nach dem Leibarzt Hitlers, Dr. Karl Brandt, sogenannten "Sonderaktion Brandt" zu einer Gauheilanstalt im seit 1939 besetzten Polen, 630 km von Gütersloh entfernt, mit 99 anderen Schicksalsgenossinnen verlegt. 
Diese Anstalt trug im Besatzerdeutsch den willkürlich "verballhornten" Namen "Tiegenhof/Gnesen" - zuvor und auch noch heutzutage heißt sie polnisch: Dziekanka/Gniezno ...

In Wirklichkeit ist dieser Massen-Transport eine von vielen Maßnahmen zu letztlich getarnten "wilden" NS-"Euthanasie"-Aktionen - nachdem die zentral gesteuerte erste "Euthanasie"-Welle auf Befehl Adolf Hitlers wegen der wachsenden Kritik aus der Bevölkerung (z.B. Kardinal Graf v. Galen aus Münster) bereits 1941 nach gut 70.000 Mordopfern vorübergehend eingestellt wird - nun aber "heimlich" unter Ausschluss der Öffentlichkeit und dezentral organisiert weitergemordet wird.  

Bereits 99 Tage nach der Ankunft aus Gütersloh in der Anstalt "Tiegenhof" in Gnesen/Gniezno, am 20. Februar 1944, erleidet Erna Kronshage angeblich wegen "vollkommener Erschöpfung" einen gewaltsamen Tod...

Inzwischen weiß die Forschung zweifelsfrei, auch belegt durch Zeugenaussagen in verschiedenen Nachkriegsprozessen, dass diese Anstalt Tiegenhof ab 1939 unter dem "volksdeutschen" Direktor Dr. Victor Ratka zu einer regelrechten Vernichtungsanstalt, zuerst für die polnischen Insassen durch eine SS-Mordkampagne mittels Gaswagen - und dann für die "Verlegungspatienten" aus dem deutschen Reichsgebiet mittels Hungerkost oder Todesspritze - umgewidmet worden war. 

Zum Todeszeitpunkt Erna Kronshages werden dort, wie in mehreren anderen Anstalten gerade im Osten (z.B. auch Meseritz-Obrawalde), und jetzt eben dezentral auf lokaler Ebene von Anstalt zu Anstalt geplant, die Patiententötungen durch eine von NS-Ärzten (besonders Prof. Dr. med. Nitsche) ausgeklügelte Kombination von "Hungerkost" bei Fettentzug, einhergehend mit hohen Beigaben sedierender Medikamente, z.B. des Schlafmittels "Luminal", weiter durchgeführt, die nach einer gewissen Zeit zur Auszehrung des Körpers und zur allgemeinen Erschöpfung oder auch zu einer Lungenentzündung und anderen Infektionen aufgrund der drastisch herabgesetzten oder fehlenden Abwehrkräfte des Körpers führen.

Die auch "amtlich" so genannte Todesursache in Erna Kronshages Sterbeurkunde (="Allgemeine Erschöpfung") ist die damals übliche Umschreibung einer geplanten und konsequent durchgeführten Tötung, die mehrmals täglich, oft im Stundentakt, in den ("sonder"-)standesamtlichen Urkunden der betreffenden Anstalten immer wieder so benannt wird.

Die Leiche Erna Kronshages wird dann auf Antrag der Eltern in die Heimat nach Senne II (heute BI-Sennestadt) rücküberführt und nach 600 km langem Rücktransport per Reichsbahn-Güterwagen auf dem Alten Friedhof in Senne II am 05.März 1944 beigesetzt - nachdem die Familie zuvor den angekommenen Sarg mit der Leiche aus Misstrauen heimlich inspiziert und laienhaft untersucht hat...

Am 06.12.2012 - 6 Tage vor der 90. Wiederkehr des Geburtstages von Erna Kronshage - legt der Künstler Gunter Demnig auf dem Gehweg genau an der Ecke Verler Straße/Krackser Straße - unweit ihres Geburtshauses - auf dem Weg zum "Krackser Bahnof" - im Ortsteil Sennestadt den ersten sogenannten "Stolperstein", einen mit Messing belegten gravierten Pflasterstein - zur Erinnerung an Erna Kronshage. Ca. 80 Stolpersteine erinnern bereits seit 2005 in ganz Bielefeld an die Opfer des Nationalsozialismus.

Seit 1995 legt Gunter Demnig diese Steine - europaweit.  

»Hier wohnte Erna Kronshage. Jahrgang 1922, eingewiesen 1942 Heilanstalt Gütersloh, 1943 zwangssterilisiert,  'verlegt' 1943 Heilanstalt Tiegenhof, ermordet am 20.2.1944« - heißt es  auf dem Stein - und das beschreibt in Kurzform der Fakten nüchtern und trocken ihr viel zu kurzes und brutal beendetes Leben. 

Ich denke - wir müssen von diesen ungeheuerlichen Dingen wissen und uns deshalb z.B. durch einen solchen "Stolperstein" und durch das "Gedenkblog" immer wieder erinnern lassen - um uns entsprechend zu wappnen, damit nie wieder solche brutalen Gewalttaten im Namen der "Gesundheit des Volkskörpers" geschehen können. 


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