Am 21.03.1937 (Sonntag Palmarum) wurde meine Tante Erna Kronshage in der Kirche zu Senne II von Pastor Holzapfel konfirmiert. Der Konfirmationsspruch lautete:
"Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm."(1. Joh., 4,16).
Ich habe zu ihrem 70. Todestag am 20.02. von Erna Kronshage berichtet, die als NS-"Euthanasie"-Opfer im Alter von etwas über 21 Jahren ermordet wurde ...
Beim Wahrnehmen dieses Konfi-Spruches und bei der Erforschung ihrer kurzen aber um so heftigeren Opfer-Biographie habe ich mich oft gefragt, ob sich der "Sinn" dieses wahrhaft liebevollen Hinweis-Satzes, der ihr mit 14 Jahren zugedacht wurden, ob sich dieser Sinn eigentlich bei einer derartig für sie erschreckenden Lebensentwicklung nun eigentlich doch noch "bewahrheitet" hat - ob dieser Spruch - trotz allem - ihren weiteren Lebensweg richtig skizziert hat und begleiten konnte und vielleicht "Trost" war oder "Omen", "Wegweisung", "Weissagung" - eben auch im Sinne einer Affirmation ... - oder ob man angesichts dieses Einzelschicksals eigentlich nur mit Marx konstatieren kann: "Religion ist Opium fürs Volk" ...
Bei einem solchen irgendwie ja auch rituell einer bestimmten Person zugedachten und gewidmeten Lebensspruch entstehen für mich ja bei den feststehenden Lebensfakten Fragen betreffend der Kausalität dieser Affirmation und ihren eventuellen koinzidenten Folgen.
Eigentlich lehnen ja beispielsweise fundamentalistisch glaubende Kreise solche an ausgesuchten Bildern oder Zusprüchen gebundene affirmativen Übungen als in der Bibel verbotene "Wahrsagerei" ab - und trotzdem werden sie ja auch in diesen Kreisen unter einer anderen Prämisse benutzt und bewertet - zum Beispiel jeden Tag bei den "Losungen", die ja mit fast esoterisch anmutendem Ritual jedes Jahr erneut für jeden Tag im Kalenderjahr in Herrnhut "gezogen" werden (vgl. dazu auch das Lose-ziehen auf der Kirmes: "Versuche Dein Glück" ...) und die zumindest für den jeweiligen Tag "wegweisend" und "nachdenkenswert" sein sollen ... - oder das berühmte "Bibel-Stechen", bei dem die Bibel ziellos aufgeschlagen und an der solchermaßen, nämlich ohne viel Überlegung, getroffenen Bibelstelle ein Vers oder Kapitel gelesen wird. Vor allem in christlichen Haushalten ist dies ein alter Silvesterbrauch - als Omen für das kommende Jahr ... Des weiteren wird Bibel-Stechen – u. a. von Evangelikalen – verwendet, um im heiligem Geist"weiszusagen" oder Rat einzuholen... Auch hierzu möchte man fast biblisch anmerken: "Wer Ohren hat zu hören, der höre ..." - denn so weit entfernt von dem als vollends esoterisch abgelehnten "Tarot-Orakel" ist dieser Brauch ja nun nicht ...
Original-Eintrag im Kirchenbuch der Kirchengemeinde Senne II: Links in Sütterlin: Kronshage, Erna .... - ganz rechts: 1. Joh. 4,16 |
Also - der jeweils ausgewählte Konfirmationsspruch ist zunächst nur mal und nichts weiter als ein aus dem jeweiligen Zusammenhang des Alten oder Neuen Testaments herausgelöster Spruch, der einer Konfirmandin vom konfirmierenden Pastor "mit auf den Weg" gegeben wird ... - oft auch besonders gestaltet und eingerahmt als "Erinnerung an den Tag der Konfirmation" - ganz nach dem Motto:"Denn was Du Schwarz auf Weiß besitzt, kannst du getrost nach Hause tragen ..." - als Erinnerung und Zuspruch an den Tag des bewussten Taufgedenkens, wobei man als mit 14 Jahren "religionsmündiger Christ" selbst noch einmal "Ja" sagt zu seinem Glauben ... Und inwieweit die konfirmierte Person ihm - diesem Spruch - späterhin eine besondere Beachtung schenkt und Bedeutung zumisst oder ihn als prägend oder profilierend für sich annimmt und empfindet, entscheidet sich nach jeweiligem Glaubensgusto ...
Erna Kronshage hatte in ihrem Schulabschluss-Zeugnis - also damals gerade auch zur Konfirmations-Zeit im Frühjahr 1937 - im Fach "Religionsunterricht" die Benotung "sehr gut" ... - von daher ist anzunehmen, dass ihr dieser Konfi-Spruch nicht einerlei war ... - auch nach sonstigen Zeitzeugenaussagen, die Erna als phantasiebegabtes, helles und nachdenkendes Menschenkind bezeichneten - vielleicht hing der Spruch sogar auch eingerahmt in der Nähe ihres Bettes ...
Aber sie ist auch sicherlich nicht so zu einem Glauben herangeführt worden, als sei dieser Gott ein richtender, strafender, allmächtiger Über-Vater - der einem unüberwindliche Prüfungen auferlegt - um sich ihm letztlich ohne jeden anderen Ausweg ganz und gar unterwerfen zu müssen ...
In der Phase - wo Erna Kronshage sich in den Klauen der NS-Psychiatrie befand - sechs bis sieben Jahre nach ihrer Konfirmation - ab ihrem 20. Lebensjahr bis zu ihrem gewaltsamen Tod 17 Monate später - wird sie diesen Konfi-Spruch, soweit sie sich nach all den dann erlittenen Torturen noch seiner erinnern konnte - bestimmt als Trost und Vermächtnis zumindest in ihrem Herzen mit sich geführt haben - das wenigstens wollen wir ihr heute wünschen ...: Nämlich diese unverbrüchliche Gewissheit, bei allem was geschah und was ihr noch bevorstand, und was ihr zustieß - ehe es dann ganz vorbei war - aber auch noch darüber hinaus: "Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm."
Und fest steht auch, dass dieser Gott der Erna nicht all dieses Ungemach bewusst und geplant per irgendeinem Richterspruch und per Knopfdruck bereitet und extra für sie zusammengemixt hat - und ihr damit nicht etwa eine Prüfung mit abschließendem Todesurteil auferlegt hat - etwa so wie jener Gott im Alten Testament bei Hiob beschrieben ist, als er nach einer Wette mit dem Teufel [!] den Hiob mit allerhand Plagen piesackte, um dessen Glaubenstreue zu prüfen... All diese Beschreibungen, eben auch in der Bibel, sind nichts weiter als letztlich menschliche Formulierungen, die die eigene Verantwortung fürs eigene Tun und für das eigene Schicksal einem höheren Gott in die Schuhe abschieben wollen - die mit dem Gott, wie er von Jesus als liebender "Abba" bezeichnet wird, nichts oder nur wenig zu tun haben ...
Die Kreuzkirche in Senne II - heute BI-Sennestadt, in der Erna Kronshage am 21.03.1937 konfirmiert wurde ... |
Ein Mystiker hat seine Schüler einmal gefragt: „Worin besteht das rechte Verhalten des Menschen Gott gegenüber?“ Sie antworteten: „Darin, dass man Gott liebt.“ Der Meister aber schüttelte den Kopf und sagte: „Nicht darin, dass ihr denkt, wir lieben Gott; wer denkt, ich liebe Gott, der steht noch unter Zwang. So sollt ihr sprechen: Ich glaube fest, dass Gott mich liebt. Das ist das rechte Verhalten Gott gegenüber.“
Die rechte Beziehung zu Gott ist getragen von der Gewissheit der Gegenwart und Liebe Gottes: Christsein beginnt nicht mit einem Imperativ: Du sollst Gott lieben! Sondern mit einem Indikativ: Du bist von Gott geliebt -"Gott ist die Liebe...", wie es im Konfi-Spruch der Erna Kronshage heißt ...: Du bist ein Kind Gottes. Und nicht nur einige von uns: sondern buchstäblich jeder und jede Einzelne. „Wir heißen Kinder Gottes und wir sind es!“
Je älter wir werden, desto größer sollte unsere Glaubenseinsicht werden und desto mehr sollte unser Glaubensmut und unsere Glaubensfreude wachsen. Denn „Glauben“ meint ja nicht in erster Linie Erfüllung von Pflichten, meint eben nicht Alles-Wissen - totaler Durchblick, Halten von Geboten, moralisch einwandfrei leben, damit ich vor einem strengen und strafenden richtenden Gott in seinem gnadenlosen Gericht einmal bestehen kann.
Das alles ist Drohbotschaft. Evangelium aber heißt „Frohe Botschaft“: ..."wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm..." - auch über den Tod hinaus - auch beim erzwungenen Schierlingsbecher in Form der "Gelben Suppe", dieser im Wasserglas aufgelösten Luminal-Überdosis dort im Todeszimmer der Frauenabteilung der Gau-"Heil"-anstalt Tiegenhof in Gnesen/Gniezno - wo man Ernas Leben gewaltsam ein Ende setzte ...:
Dieses tötende NS-Regime - diese verblendete nationalsozialistische menschliche Hybris in der damaligen eugenisch-rassenbiologisch ausgerichteten Ärzteschaft in Psychiatrie und Medizin - die hatte mit diesem Gott nichts mehr gemein - ebenso wie dieser Mob und die römische Besatzungsmacht in Jerusalem 2000 Jahre zuvor, die Gott selbst mit Jesus töteten ...: Das war von diesem einen gütigen liebenden Gott so weit entfernt: dass ja selbst Jesus ihn anrief mit den Worten: "Abba - Abba - warum hast Du mich verlassen ..." - die Ohnmacht und die Schwäche dieses Gottes wurde nie deutlicher als in solchen Situationen wie Karfreitag auf Golgatha - und wie auch zum Beispiel am 20.02.1944 in der "Heil"-anstalt Tiegenhof ...
Die Lehre von der Allmacht Gottes wurde so für die Theologin Dorothee Sölle zum Gegenstand kritischen Nachdenkens. Sie war der Meinung, dass Gottes Wirken in dieser Welt immer abhängig ist von unserem Handeln („Gott hat keine anderen Hände als unsere.“). Kern ihrer Gott-ist-tot-Theologie war der Abschied von einer „Papa-wird’s-schon-richten-Theologie“- dieses "Da kann man nichts machen" - oder "Befehl ist Befehl!" ...
Nein - dieser Gott hat Ernas Martyrium nicht angezettelt - dieser Gott ist mit Erna in Tiegenhof in diesem Sterbezimmer gewesen - dieser liebende Gott ist mit ihr an der Seite abermals mit umgebracht worden - und mit ihr noch weitere 6 Millionen mal bei jedem einzelnen Mordopfer der Nazis in den KZ's des Holocaust und in weiteren "Heilanstalten" im Namen der NS-"Euthanasie" ... - und dieser Gott kann dieses grausame Leid mit uns auch noch nicht fassen ...
Aus der Erfahrung persönlichen Leides kommt der Rabbi Harold S. Kushner in seinem Buch „Wenn guten Menschen Böses widerfährt“ zu dem Schluss, dass Gott zwar gut, aber nicht allmächtig sei. Die Frage nach dem „Warum?“ des Leides führe zu nichts, da sie entweder Wut auf sich selbst (Was habe ich getan, dass mir das passiert?) oder auf Gott (Warum lässt Gott das zu?) zur Folge habe und diese Wut verhindere, dass der Mensch Hilfe von anderen Menschen und/oder von Gott annehmen könne (denn Gott handelt ja durch andere Menschen - aber er begleitet und erleidet mit durch seine unmittelbare Nähe in uns und um uns - eben wie auf Golgatha so auch in "Tiegenhof"...). Da eben Gott durch die Menschen wirke, solle die Frage vielmehr lauten „Wenn mir dieses Leid passiert ist, wer kann mir hier unmittelbar als Mensch helfen?“ Dieser Lösungsansatz ist auch im Rahmen der sogenannten "Theologie nach Auschwitz" verbreitet. Auch Hans Jonas ist der Meinung, dass der Begriff der Allmacht zweifelhaft sei und dass deswegen auf dieses Gottesattribut verzichtet werden müsse. Jonas glaubt, dass Gott deswegen in Auschwitz nicht eingegriffen habe, weil er es schlichtweg nicht konnte (denn "er hat ja nur unsere Hände..."). Jonas schlägt deshalb die Idee eines Gottes vor, der nicht in den Verlauf des Weltgeschehens eingreifen kann - aber sehr wohl durch uns, wenn wir nach seiner Maxime handeln: "Liebe Deinen Nächsten - wie Dich selbst ....!" - mit all den Konsequenzen, die in der Bergpredigt hinzugefügt wurden ...
Dorothee Sölle sagt in einem Interview:“Wenn ich Gott liebe, dann kann ich ihm manchmal auch Wärme spenden. Wenn ich diese Welt ansehe, dann muss ihm ja kalt werden. Gott braucht auch unsere Wärme.” Wenn er die nicht bekommt, dann muss er scheitern, wie damals in Auschwitz - wie damals auf Golgatha und wie damals in Tiegenhof: “Dieser Gott, der so allein war in Deutschland, der so wenige Freundinnen und Freunde hatte, der konnte nichts machen. Die Liebe ist nicht allmächtig. Dieser Begriff der Allmacht ist im Gegenteil zerstörerisch. ...Gott hat nur unsere Hände”, war Sölle überzeugt. Und eine gewichtige Patronin, hat es genau so gesagt: die Mystikerin Teresa von Avila: Gott hat nur unsere Hände ...
An Weihnachten hören wir die Botschaft des Engels:
„Seht, ich verkünde euch eine große Freude! Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren, Christus, der Herr.“
Also: Retter, nicht Rächer!
Jesus ist die latinisierte Form des altgriechisch flektierten Ἰησοῦς mit dem Genitiv „Ἰησοῦ/Jesu“... Damit wurde die aramäische Kurzform Jeschua (oder Jeschu) des hebräischen männlichen Vornamens Jehoschuaübersetzt. Dieser setzt sich aus der Kurzform Jeho- des Gottesnamens JHWH und einer Form des hebräischen Verbs jascha („helfen, retten“) zusammen. Demgemäß deuten Mt 1,21 und Apg 4,12 den Namen als Aussage: „Gott ist die Rettung“ oder „der Herr hilft“. Oder anders übersetzt: "Erlöser" ...
Also: Erlöser, nicht gnadenloser Richter!
Und mit dem Evangelisten Johannes lässt es sich eben auch deshalb sagen - auch und vielleicht gerade im Konfi-Spruch für Erna Kronshage: „Gott ist die Liebe!“– Und diese Liebe ist unermesslich, unerschöpflich und jeden Tag neu. Um diese Liebe Gottes wissen, aus dieser Liebe Gottes leben, sich jeden Tag unter den Regenbogen der Liebe Gottes stellen, diese Liebe Gottes aufnehmen und annehmen, das macht gelassen, das macht frei, das macht froh - auch über jeden noch so grausamen Tod hinaus ...
Ach - übrigens: Mein Konfi-Spruch lautet: "Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar."(Psalm 23,6) ... Also: Nomen est Omen !!!
Und - bekommen Sie noch Ihren Konfi- oder Kommunions-Spruch auf die Reihe ...???
Mit Materialien aus (hier clicken) und WIKIPEDIA sowie aus meinem Post