Am 26. Februar 2012 - also vor gut einem Jahr - hat der Schriftsteller Ingo Schulze im Rahmen der “Dresdner Reden 2012” im Dresdner Schauspielhaus eine Rede unter der Überschrift “Unsere schönen neuen Kleider | Gegen die marktkonforme Demokratie – für demokratiekonforme Märkte” gehalten. Die vollständige Rede gibt es als pdf bei den Nachdenkseiten zum Download. Die 26 Seiten durchzulesen lohnt sich auf jeden Fall. Ingo Schulze übernimmt in diesem Text die Rolle des Kindes aus dem Märchen “Des Kaisers neue Kleider”, das ausruft: “Aber der hat doch nichts an”. Er spricht eine Wahrheit aus, die niemand gern hören will.
Ich werde auch in den nächsten Tagen plakativ einige Kernsätze dieser Rede hier ins Blog posten und mit meinen Möglichkeiten versuchen, sie zu illustrieren ... - einfach um Sie neugierig zu machen - aber auch um Sie aufzuschrecken, denn klammheimlich scheint es unserer noch jungen Demokratie in Deutschland an den Kragen zu gehen ...
Die Feststellung, dass die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert werden, könnte als
Überschrift über die letzten zwanzig Jahre geschrieben werden.
Noch nie war der private Reichtum so groß, noch nie war die öffentliche Verschuldung so hoch. Heute [= Ende 2011/Anfang 2012] sind wir laut Bund der Steuerzahler mit 2030 Milliarden verschuldet, das sind pro Kopf ca. 24.700 Euro.
(Die Verschuldung der DDR betrug nach den Berechnungen der Bundesbank von 1999 20 Milliarden D-Mark, das sind pro Kopf ca. 1.200 D-Mark, die OECD berechnete für die DDR pro Kopf 674 Dollar Schulden. Selbst wenn man das sehr großzügig inflationsbereinigt, kommt man auf nicht mehr als 1.000 Euro pro Kopf.)
Der Bund der Steuerzahler versucht unsere heutige Verschuldung durch ein Beispiel zu veranschaulichen: „Würden ab sofort keine Schulden mehr aufgenommen und würde die öffentliche Hand gesetzlich verpflichtet, neben allen anderen Ausgaben für Personal,
Investitionen, Sozialleistungen, Zinsen etc. jeden Monat auch eine Milliarde Euro an Schulden zu tilgen, so würde dieser Prozess 169 Jahre lang andauern müssen, um den Schuldenberg vollständig abzutragen.“ Jeder achte Euro, der eingenommen wird, muss allein für die Zinsen ausgegeben werden.
Immer wieder wird das Ausgabenverhalten der Staaten als Ursache für die Krise angesehen, denn Länder mit soliden Staatsfinanzen, so die Argumentation, würden Spekulanten gar keine
Möglichkeit bieten, sie in die Enge zu treiben.
Das allein schon ist ein befremdliches Denken. Merkwürdiger Weise wird bei Staaten immer auf die Ausgaben gesehen, die in aller Regel direkt oder indirekt der ganzen Gesellschaft zugute kommen – es sei denn, wir brauchen ein paar hundert Milliarden, um die Banken zu retten. Warum wird eigentlich nicht gefragt, ob es die fehlenden Einnahmen des Staates sind, die ihn in die Verschuldung, in die Krise treiben?
Unser Gemeinwesen wurde und wird von den demokratisch gewählten Volksvertretern
systematisch gegen die Wand gefahren, indem es seiner Einnahmen beraubt wird.
Der Spitzensteuersatz wurde in Deutschland von der Schröder-Regierung von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt, die Unternehmenssteuersätze (die Gewerbesteuer und die Körperschaftssteuer) wurden zwischen 1997 und 2009 fast halbiert, nämlich von 57,5 Prozent auf 29,4 Prozent. Die Steuer auf Kapitalerträge, die sogenannte Abgeltungssteuer, wurde auf 25 Prozent gesenkt. Auch die Erbschaftssteuer wurde teilweise abgesenkt.
Wenn die Kassen leer sind, muss noch mehr Vermögen privatisiert werden, müssen Stellen gestrichen und Dienstleistungen privatisiert werden, müssen Sponsoren gefunden werden,
Schwimmbäder und Bibliotheken geschlossen, die Gebühren in der Musikschule erhöht werden
etc. etc.
Es trifft jene, die jeden Euro umdrehen müssen.
Ingo Schulze in der "Dresdner Rede 2012"
(Fortsetzung folgt)