"Wir sind Erinnerung", konstatiert der Harvard Psychologe Daniel L. Schacter in seinem gleichnamigen Werk und beschreibt darin das komplexe Gebiet der Gedächtnisfunktionen des Gehirns. Zudem entschlüsselt er darin die Vielfalt prägender Ereignisse im Leben eines Menschen. Sein Fazit: Erst durch Erinnerung werden wir zu dem, was wir sind und er behauptet weiter, dass das Erinnern zum großen Teil ohne unser Zutun geschieht und unser Handeln bestimmt.
Die Erinnerung sei, schrieb Jean Paul, "das einzige Paradies, woraus wir nicht vertrieben werden können". Für andere dagegen ist die Erinnerung der Speicher im Hirn die Hölle, der sie nicht entfliehen können. Pascal resümierte kühl: "Das Gedächtnis ist für alle Tätigkeiten der Vernunft notwendig." Der Gefühle dito.
Mindestens eine dringende Frage stellt Kris Kristofferson auf seiner neuen Platte «Closer To The Bone»: Was ist der Mensch? Und das Schöne und Praktische ist: Er beantwortet sie sogleich und so schlicht: "Der Mensch ist die Summe seiner Erinnerungen".
Als "kapriziöses und launiges Wesen" empfand der alte Arthur Schopenhauer das Gedächtnis, "einem jungen Mädchen zu vergleichen": Bisweilen nämlich verweigere es ganz unerwartet, was es hundertmal geliefert habe, und "bringt es dann später, wenn man nicht mehr daran denkt, ganz von selbst entgegen".
Ich fand diese "Erinnerunges-Definitionen" äußerst spannend - habe ich doch hier im Blog schon öfters auch über Erinnerungsarbeit und die Notwendigkeit von Ritualen und Symbolen für ein unverfälschtes Erinnern und für eine Gedenkkultur geschrieben.
Hier nun wird mir die Dimension dieses Erinnerns nochmals klar - dass sie zum größten Teil die menschliche Identität überhaupt ausmacht.
Schon früh wurde der Grundsatz:"Cogito ergo sum" formuliert: (eigentl. lat. ego cogito, ergo sum) „Ich denke, also bin ich.“Das ist der erste Grundsatz , den der Philosoph René Descartes nach radikalen Zweifeln an der eigenen Erkenntnisfähigkeit als nicht weiter kritisierbares Fundament (lat. fundamentum inconcussum, „unerschütterliches Fundament“) in seinem Werk Meditationes de prima philosophia (1641) formuliert und methodisch begründet: „Da es ja immer noch ich bin, der zweifelt, kann ich an diesem Ich, selbst wenn es träumt oder phantasiert, selber nicht mehr zweifeln.“ Von diesem Fundament aus versucht Descartes dann, die Erkenntnisfähigkeit wieder aufzubauen.
Auch in religiöser Hinsicht ist diese Erinnerungs- und Denkfähigkeit spannend: Schon über 2000 Jahre lang erinnert man sich an Jesus - und bringt mit der Bibel immer wieder all diese Erkenntnisse und Erinnerungen der Alten Väter in ihrem uralten Sinn und in ihrer ewigen Gültigkeit aber auch inzwischen in der Sprache von heute in Erinnerung...
Und all diese Wunder, Auferstehungen, Erweckungen, Geistesblitze, Begleiterscheinungen, Zusprüche und Tröstungen usw. sind ja mit Hilfe des Phänomens der "Erinnerungen" auch "aufgeklärten" Menschen näher zu bringen - denn diese Funktion, dieser Umstand eines plötzlich wie aus dem Nichts auftauchenden Gedankenfetzens, ist ja auch von den kritischsten Geistern einigermaßen plausibel nachzuempfinden - auch wenn keine "objektiven" Beweise dafür geliefert werden können: Alle Autoren, Künstler, Maler, Komponisten - eigentlich alle kreativ tätigen Menschen - leben ja von diesen "genialen" "Geistesblitzen" zu Formulierungen oder Gestaltungen.
Eigene Erinnerungen oder Teile davon - kollektive Gedächtnisleistungen (Teamleistungen) mehrerer an einer Aufgabenstellung Beteiligter - aber auch die von C.G. Jung formulierten Phänomene aus dem "Kollektiven Unbewussten" können sich jeweils auch zu "handfesten" aber durchaus noch nicht pathologischen Visionen verdichten - als wären sie "tatsächlich" schon geschehen...(da "erinnere" ich, wie der inzwischen uralte Kanzler Schmidt im Bundestagswahlkampf 1980 ja mal gesagt hat: "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen" ...).
s!NEdi|photo|graphy: rückerinnernde vorausschau im jetzt & hier | innere pluralität |
Die unterschiedlichsten Zeugenaussagen - z.T. sogar unter Eid - zu ein- und demselben Vorgang zum Beispiel vor Gericht zeigen die unterschiedlich individuell gefärbte Wahrnehmungs- und - nach einer gewissen Frist - Erinnerungsleistungen eines jeden einzelnen Menschen - und die ebenso individuell gefärbte Beschreibung einer jeweiligen"Wirklichkeit" ...
Wenn man dann noch konstatiert, dass ein- und derselbe Mensch aus mehreren "Ichs", aus einem pluralen Innenleben bestehen kann - siehe dazu der Begriff des Psychologen Friedemann Schulz von Thun: "Mein inneres Team" zur Organisation und Ordnung der Pluralität des Innenlebens (diagnostisch stark umstritten in der Psychiatrie ist der Begriff einer "multiplen Persönlichkeit" - Joan Frances Casey:"Ich bin Viele") - oder auch mit dem etwas esoterisch angehauchten Begriff des "Inneren Kindes" in mir - vervielfältigen sich ebenso die Wahrnehmungs- und Erinnerungs"fakten" und inneren "Dialoge" - aber auch mit den in diesem Zusammenhang zu nennenden in der Bibel immer wieder auftauchenden Zuordnungen und Attributen: Gott - Jesus - ganz gewiss aber der Heilige Geist - IN MIR - in meinem Herzen ... - und letztlich sogar das Gebet - oder das "Gespräch", der Dialog, mit Gott ...
Und auch der moderne atheistisch "überzeugte" "Freigeist" kann ja nicht aus seiner natürlichen und gottgegebenen Haut - und wird ebenso "objektiv" - also subjektiv - "seine" Welt deuten und "seine" Wahrheit verkünden - und seine "inneren Stimmen" hören und Folge leisten - an die (Er oder Andere) dann wieder glauben könnten ... - oder auch nicht ... (vielleicht kollidiert das dann ja auch mit den ureigensten oder den kollektiven Erfahrungen aus der [Rück-Er-]Innerung und Vorausschau im Jetzt & Hier ...).
Mit Anregungen und Materialien von
Adam Olschewski in: http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/summe-der-erinnerungen-1.3909945
http://angelikawende.blogspot.de/2011/02/wir-sind-erinnerung.html
Fritz Rumler in: DER SPIEGEL 41/1999
WIKIPEDIA ("Cogito ergo sum")