"Liebe Leute - lasst Euch sagen - die Uhr hat schon vor langer Zeit 12 geschlagen ..."
Und nun ist es schon beträchtlich nach 12: Es ist aus - Es ist vorbei: Nach dem Kommunismus in seiner der Welt überkommenen Form ist heute auch der Kapitalismus in seiner bisher der Welt überkommenen Form zu Grabe getragen worden... Jakob Augstein schreibt in seinem Kapitalismus-Abgesang: "Die unsichtbare Hand des Markts ist nur deshalb unsichtbar, weil sie nicht existiert. Wir haben inzwischen gelernt: Der Markt klärt gar nichts. Nur Institutionen und Gesetze klären den Abgleich der Interessen"... - So ist das also mit Angie's Politik einer "marktkonformen Demokratie" - Und die gute alte deutsche Tugend einer "freien(und sozialen)Marktwirtschaft" - "...der Markt wirds schon richten ..." hat ihren Geist in Frankfurt ausgehaucht ...
Ja - wir müssen aufhören, unser System als Kapitalismus zu bezeichnen - denn diese Bezeichnung beruht ja darauf, dass das Kapital seinen Preis hat und auch in risikofreien Anlageformen vor allen Dingen Rendite abwerfen soll. Doch ab nun gibt es nennenswerte Gewinnchancen im neuen Postkapitalismus nur noch für diejenigen, die mit ihrem Geld auch Verlustrisiken eingehen - so ungefähr wie der legendäre Uli Hoeneß bis neulich herumgezockt hat: Etwa, indem griechische Staatsanleihen gekauft werden oder man sich an Unternehmen beteiligt, die plötzlich pleitegehen können. Das ist die schlechte Nachricht für die ängstlichen Sparer. Aber auch für alle Superreichen und Großbanken...: "Die Reichen werden immer reicher" - na ja - das kommt jetzt auf das Gespür an - auf den richtigen Riecher ... Daher kommt wahrscheinlich diese Wortverwandtschaft: Riechen - Reich ... Und Omas Sparstrumpf kommt wieder in Mode - auch Schatzkästchen vergraben - gar nicht schlecht - und einfach mal abwarten ...
Nun müssen einige Lehrbücher zur Volkswirtschaft sicherlich aus dem Verkehr gezogen - bzw. umgeschrieben werden ... - und - liebe BWL-Studenten - aufgepasst: Eure auswendig gelernten Multiple-Choice-Tests müssen alle abgeändert werden: Das alles bringt ein paar Verlagen richtig Kohle - und ihr müsst auf der Hut sein vor alten Tests im Netz...: Denn die Kombination aus niedrigen Zinsen, niedrigem Wachstum und niedriger Inflation, die weite Teile Europas seit 2008 ebenso im Griff hält wie die USA und Japan, ist die neue Normalität und nichts "Vorübergehendes" mehr ... Das seit Jahrzehnten praktizierte westliche Wirtschaftsmodell, sich immer niedrigere Wachstumsraten mit immer höheren Staatsschulden zu erkaufen, ist an seinem endgültigen Schlusspunkt angelangt! Der olle Party-Song: "Auf und nieder - immer immer wieder" - ist ausgeröchelt und die Platte hat sich abgeschaltet: Jetzt ist "Augen zu - und durch" angesagt ...
Ja - und wahrscheinlich deshalb auch dieses ganze Gezerre um Jean-Claude - und die deutschtümelnde Wahlwerbeaussage der SPD zur €uropa-Wahl: "Martin Schulz. - Aus Deutschland. - Für €uropa." Bla - bla - blupp ...
Und wie rief doch Herbert Zimmermann 1954, als das Endspiel gegen Ungarn in Bern abgepfiffen wurde: " Aus - Aus - Es ist aus ...: Deutschland ist Weltmeister ..." (= Dax über 10.000 Punkte)...
Umbrüche in Europa
Es ist vorbei, bye-bye!
Eine SPIEGEL-ONLINE-Kolumne von Jakob Augstein | "Im Zweifel links" ...
Frankfurt macht Minus-Zins-Politik, und London denkt über den Austritt aus der EU nach. Das zeigt: Der angelsächsische Kapitalismus ist nicht zu retten. Europa braucht weniger Markt und mehr Brüssel.
Eine Revolution hat begonnen. Sind wir uns dessen bewusst? Es ist die Revolution Europas und seines Wirtschaftssystems. Wir sind von Geschichtszeichen umgeben. Wenn wir die Augen öffnen, können wir sie sehen. Kant hat dieses Wort im Zusammenhang mit der Französischen Revolution benutzt.
Die Europäische Wahl war so ein Zeichen. Auch die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank ist eins.
Wer dabei vom Ende Europas träumt, egal ob in London oder in Moskau, der wird enttäuscht sein. Europa schreitet voran. Das Europäische Parlament ermächtigt sich selbst. Das ist - noch mal Kant - der Beweis: Jeder echte Fortschritt ist immer ein Rechtsfortschritt. Nicht Europa ist am Ende - sondern der Kapitalismus, so wie wir ihn kennen.
In Frankfurt hat Zentralbankpräsident Mario Draghi mit seiner spektakulären Minus-Zins-Politik den klassischen Kapitalismus beerdigt: Nicht nur wer Geld fälscht, wird künftig bestraft, sondern auch wer es bei der Zentralbank parkt. Diese Paradoxie entlarvt den modernen Kapitalismus. Er ist mit all seinen Sicherheiten am Ende angekommen. Die unsichtbare Hand des Markts ist nur deshalb unsichtbar, weil sie nicht existiert. Wir haben inzwischen gelernt: Der Markt klärt gar nichts. Nur Institutionen und Gesetze klären den Abgleich der Interessen. Das ist die Stunde Europas. Wer weniger Brüssel will, leugnet die Lehren der Bankenkrise.
Londons Wirtschaftspolitik ist das Gegenteil von pragmatisch
Es ist darum kein Zufall, dass die Briten ausgerechnet jetzt über den Austritt aus der EU nachdenken. Derzeit lahmen nämlich alle Pferde, auf die sie gesetzt haben - und das waren wahrhaftig nicht die Pferde des Pragmatismus.
Es ist ja nur ein Stück Folklore, dass die nüchternen Briten sich lieber an den Pragmatismus halten als an die Prinzipien. Die britische Wirtschaftspolitik ist das genaue Gegenteil von pragmatisch, sie gehorcht einer gefährlichen Mischung aus Ideologie und Interessen: Immer geht es um die Symbolwirtschaft, um Währungswerte, Geldmengen, Inflationsraten, Kapitalanlagen und viel zu wenig um die Produktion. Lord Cockfield, "One Man Think Tank" von Margaret Thatcher, vertrat vor dreißig Jahren die Ansicht, je eher Großbritannien aufhöre, eine Industrieproduktion zu besitzen, desto besser. Dem Ziel ist die Insel ein gutes Stück näher gekommen.
Auf dem Weg dorthin haben die Briten ihre Gewerkschaften zerstört, ihren Geheimdienst GCHQ Milliarden E-Mail-Daten abfischen lassen und den Spekulanten aus der City eine nie dagewesene Machtfülle zukommen lassen. Im angelsächsischen Finanzkapitalismus wachsen die Vermögen der Reichen und stagnieren die Einkommen der anderen.
Das Wesen der Revolution: Sie schreibt sich ihre Gesetze selbst
Mit Absicht missversteht der britische "Economist" darum das Geschichtszeichen der Europawahl. Diese Wahl sei, heißt es, die Absage an das Europäische Projekt: die "Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas." Das ist falsch. All jene, die für die sogenannten "populistischen" Parteien gestimmt haben, wenden sich doch nicht gegen Europa - sondern gegen das ungerechte Wirtschaftssystem, das ihre Lebensgrundlage gefährdet.
Der Weg des Kontinents muss ein anderer sein. Indem das Europäische Parlament gegenüber dem Rat darauf beharrte, dass der Sieger der Europa-Wahl auch Präsident der Kommission wird, fordert es in einem revolutionären Akt sein Recht ein. Die Europakritiker waren entsetzt. In der "FAZ" schreibt der Brite Charles Grant: "In den Verträgen steht nichts über Spitzenkandidaten, sondern dass der Europäische Rat bei seiner Entscheidung das Wahlergebnis berücksichtigen solle." Das ist das Wesen der Revolution: Sie schreibt sich ihre Gesetze selbst.
Martin Schulz wäre dann der neue Comte de Mirabeau. Drei Wochen vor dem Sturm auf die Bastille hatte der den Zeremonienmeister des Königs mit seinem berühmten "Donnerkeil" abgefertigt, als die Nationalversammlung aufgelöst werden sollte.
Kleist hat die berühmte Szene in seinem Essay "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" festgehalten. Und man kann sich übrigens gut vorstellen, dass auch die Fraktionschefs des Europäischen Parlaments noch keinen fertigen Plan im Kopf hatten, als neulich das Wahlergebnis feststand und sie sich aufmachten, den Rat zu konfrontieren. Wie damals Mirabeau.
Ob alle den Befehl des Königs vernommen hätten, fragte der Gesandte am 23. Juni 1789. "Ja", antwortete Mirabeau, "wir haben des Königs Befehl vernommen. Ja, mein Herr, wir haben ihn vernommen. Doch was berechtigt Sie, uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation. Die Nation gibt Befehle und empfängt keine. Und damit ich mich Ihnen ganz deutlich erkläre: So sagen Sie Ihrem Könige, dass wir unsere Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden."
Daran sollten die Europarlamentarier denken.
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