Absturzstelle | Multipolarität |
Eine Rakete trifft ein Flugzeug. Menschen sterben. So viele Leben sind zerstört. Familien zerrissen. Freundschaften vernichtet. Die ganze Welt fühlt mit. Jeder von uns hätte sein Leben auf Flug MH17 verlieren können.
Wo so viel Leid ist, muss es Schuld geben. Wo Schuld ist, muss es einen Täter geben. Und der Täter muss bestraft werden.
Es wird Zeit, dass wir uns der unangenehmen Wahrheit stellen: Eine multipolare Welt bringt auch eine multipolare Moral mit sich. Wir sind keine neutralen Beobachter, die einem spannenden Experiment beiwohnen, bei dem es um die Beurteilung von Gut und Böse geht. Wir stecken bis über beide Ohren mit drin. Auch in der Ukraine.
Es ist für die Angehörigen der Opfer unmöglich zu akzeptieren und für uns andere schwierig: Die Frage nach der Schuld ist sinnlos - unentscheidbar ...
Wie sähe denn eine "angemessene Antwort" auf den Tod dieser 298 Menschen aus? In den Niederlanden mehren sich Stimmen, die eine Ausweisung von Putins Tochter Maria fordern. Stellt das die Angehörigen der Opfer zufrieden? Welche Wirtschaftssanktion könnte ihr Leid lindern oder westliche Kommentatoren zufriedenstellen? Wäre denn mit der Absage der Fußball-WM 2018 in Russland irgend etwas geradegerückt ...??? Wäre ein "Schuldiger" bestraft ???
Aber - Rache liegt in der Luft. Wo sonst Vernunft herrscht, ist jetzt Wut. Aber Rache ist ein gefährliches Spiel und Wut kein guter Ratgeber...
MH17, diese Flugnummer wird der Westen sich merken. Die Russen und der Rest der Welt werden sie vergessen. Jeder merkt sich nur das, was für ihn wichtig ist. Darum hat sich Iran das Kürzel IR655 gemerkt - das in der Berichterstattung der vergangenen Tage keine Rolle spielte.
Aber IR655 war die Flugnummer des Airbus der Iran Air, der am 3. Juli 1988 von zwei Flugabwehrraketen des Typs SM-2 getroffen wurde. Die Raketen waren vom amerikanischen Lenkwaffenkreuzer U.S.S. "Vincennes" abgefeuert worden.
An diesem Tag töteten die Amerikaner über dem Persischen Golf 290 Menschen, darunter 66 Kinder. Es war ein Unfall. Jahre später haben die USA dafür 61,8 Millionen Dollar bezahlt.
Entschuldigt haben sie sich nie.
Und da ist er dann wieder, dieser kluge Spruch unseres Alt-Bundespräsidenten Heinemann: "Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den oder die vermeintlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte daran denken, dass in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen."- (Fernsehansprache von Gustav Heinemann am 14. April 1968 nach den gewalttätigen Ausschreitungen gegen den Springer-Verlag, die dem Attentat auf Rudi Dutschke folgten. Die ZEIT 19. April 1968).
Blumen am Rande der Rollbahn in den Niederlanden, wohin die Särge der Opfer überführt wurden ... |
Moral, Pietät, Trauerbezeugungen und Gesten menschlichen Mitgefühls sind in Anbetracht dieser Katastrophe also wesentlich eher und auch naheliegender vonnöten: 16,5 Millionen Menschen leben gleich nebenan in den Niederlanden. Weniger als in NRW. Sie haben einen fürchterlichen Verlust zu beklagen. 193 Angehörige, Freunde, Bekannte, Partnerinnen, geliebte Menschen sind unschuldig in dem völlig unsinnigen Krieg in der Ostukraine ums Leben gekommen. Sie wollten einfach nur nach Asien fliegen. Ihr Flugzeug wurde abgeschossen. Wahnsinn. Das Leid ist mit Worten nicht zu beschreiben.
In Deutschland scheint das Leben einfach so weiterzugehen. Wir verfolgen unsere Geschäfte, diskutieren über die Zukunft des Bundestrainers, gehen einkaufen. Als ginge uns das Leid des nächsten Nachbarn nichts an. Was wäre wohl im deutschen 80-Millionen-Volk los, wenn 200 unserer Mitbürger auf diese Weise umkämen?
Die Holländer gehen würdevoll mit ihrer Trauer um. Deutschland stünde es gut an, ein Zeichen des Mitgefühls zu senden: Wir stehen an eurer Seite. Eine Schweigeminute, Flaggen auch hier auf Halbmast wären zumindest ein Symbol.
Und gestern abend war ich von der Unflexibilität der ARD und des ZDF tief enttäuscht: Sonst wird um jeden Puuups ein "Brannpunkt" nach der Tagesschau installiert - doch wenn im Nachbarland buchstäblich die Zeit stehengeblieben ist, weist man auf Kommentare "gegen 22.45 Uhr" hin ...
mit Materialien vom 24.07.2014 aus einem Kommentar der NEUEN WESTFÄLISCHEN von Carsten Heil - und aus der S.P.O.N.-Kolumne "Im Zweifel links": "Malaysia Airlines Flug MH17: Warum die Schuldfrage nicht weiterführt" - von Jakob Augstein ...