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Fotografie-Schätze von Sven Fennema
Die Schönheit der vergessenen Orte
Stillgelegte Krematorien, verfallene Theater, vermoderte Psychiatrien: Auf seiner Suche nach vergessenen Orten entdeckte Fotograf Sven Fennema architektonische Juwelen - einestages zeigt die schönsten und erzählt ihre Geschichte.
Von Katja Iken | einestages | SPIEGEL-ONLINE
Wie viele Waisenkinder dort einst schliefen? Wie viele kleine Mädchen und Jungen dort einst zusammengepfercht lebten - ohne Eltern, ohne Privatsphäre, ohne Geborgenheit? Der große Saal offenbart nichts von alledem. Weiße Laken sind über die Betten gebreitet, von einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt. Hier und da rieselt der Putz von Decke und Wänden, die Fenster sind von windschiefen Jalousien verschlossen.
Ein Kalender an der Wand des Waisenhauses, gelegen in einem Hügelland in Norditalien, deutet darauf hin, dass seit gut 30 Jahren kein Mensch mehr das Gebäude betreten hat. Bis Sven Fennema kam.
2012 entdeckte der Krefelder Self-Made-Fotograf das verlassene Gebäude bei seinem Streifzug durch Europa, historische Postkarten des Heims hatten ihn auf die richtige Spur gebracht.
Auf der Suche nach sogenannten "Lost Places" reiste Fennema quer durch Italien, Deutschland, Frankreich, Polen, Belgien, Luxemburg und die Schweiz. Die Ergebnisse seiner fotografischen Recherche hat er in dem jetzt erschienenen, beeindruckenden Bildband "Tales of Yesteryear" (Living Pictures 2014, 49,90 Euro) veröffentlicht.
Schatzsuche per Internet, Zeitungsartikel, Satellitenkarte
Fennema lichtete verfallene Villen, Theatersäle, Treppenhäuser und Kirchenschiffe ebenso ab wie alte Weingüter und Industrieruinen, Krankenhäuser und Krematorien. "Es fasziniert mich immer wieder, wie die Natur sich ihren Weg bahnt, langsam aber unaufhaltsam die Kontrolle übernimmt, wenn der Mensch nicht dagegenwirkt - und am Ende mächtiger ist", sagt der 32-Jährige im Gespräch mit einestages.
Fennema, der ursprünglich aus Essen stammt, war schon als Kind fasziniert durch die verlassenen Industrieruinen des Ruhrgebiets gestromert. Der gelernte Informatiker fand 2007 autodidaktisch zur Fotografie. Zwei Jahre später begann er, systematisch nach verlassenen Orten zu suchen. Eine rastlose Passion für aufgegebene Bauwerke machte sich in ihm breit, die ihn bis heute nicht loslässt.
Um die "Lost Places" aufzustöbern, sichtet er Postkartenarchive und alte Zeitungsartikel. Er studiert Satellitenkarten, recherchiert im Internet, stellt eine Reiseroute zusammen - und fährt los.
Melancholie des Verfalls
In den meisten Fällen steht er vor verschlossener Tür und muss aufgeben. Doch immer wieder, gerade in seinem Lieblingsland Italien, wird Fennema bei seiner mühsamen Schatzsuche fündig. Mit den alten Gebäuden entdeckt er vergessene Geschichten und Schicksale.
Wie etwa das grausige Exempel der italienischen "Manicomi": psychiatrische Anstalten in Italien, in denen kranke Menschen bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein unter den unwürdigsten Zuständen an den Betten festgeschnallt, in eiskalte Bäder getaucht, weggesperrt wurden.
1978 setzte sich der Psychiater Franco Basaglia dafür ein, zahlreiche der menschenverachtenden Einrichtungen zu schließen. Einige von ihnen, mittlerweile verwittert und marode, hat Fennema aufgesucht und abgelichtet. Wer sich die Bilder näher anschaut, den übermannt die Melancholie des Verfalls - aber auch Faszination für die Erhabenheit zeitlos schöner Architektur.
Gefangen gehaltene Geschichte
Zahlreiche Fragen drängen sich auf, etwa im Fall eines noch immer bestuhlten, seit Jahrzehnten verlassenen Raumes, der in einem Außenflügel einer abseits gelegenen Villa im Piemont liegt: Welcher Künstler, Schauspieler, Musiker trat dort, in dem heute von Spinnweben überzogenen, von Farn überwucherten Saal, einst auf? Wer saß damals auf den Stühlen und applaudierte?
Oftmals ist es nicht möglich, die Historie genau zu rekonstruieren: "Manchmal betrete ich Gebäude, die wirken wie eine Zeitkapsel, die ihre Geschichte geradezu gefangen halten", sagt Fennema. Der Fotograf zeigt verlassene Orte, die stark verfallen sind, ebenso wie Gebäude, die mittlerweile bereits abgerissen wurden.
Doch immer wieder gibt es auch positive Überraschungen: Bauwerke, die in letzter Sekunde gerettet werden, weil sich Geldgeber zur Finanzierung gefunden haben. Dies gilt etwa für die grandiose, aber komplett verfallene evangelische Kirche im polnischen Zeliszow (deutsch: Giersdorf): Ende des 18. Jahrhunderts nach Plänen des Brandenburger-Tor-Baumeisters Carl Gotthard Langhans errichtet, ließen die Kommunisten das Gotteshaus nach 1945 langsam verrotten.
"Da klaut man den alten Gebäuden die Seele"
Die Kirche wurde als Schafstall genutzt, Privatleute bedienten sich ihrer als Bausteinlager. Als Fennema 2012 auf die Kirche stieß, klafften gigantische Löcher im Dach, der Boden war von Schutt übersät. Mittlerweile hat sich eine Stiftung gegründet, kürzlich begannen die bitter nötigen Renovierungsarbeiten. Fennema hofft auf originalgetreue Rekonstruktion - von einem modernen Wiederaufbau will der Fotograf nichts wissen: "Da klaut man den alten Gebäuden die Seele."
Weil er immer wieder mitansehen muss, wie aufgespürte "Lost Places" mit Graffiti besprüht und zerstört werden, vermeidet Fennema es zumeist, die genaue Lage der verfallenen Bauwerke preiszugeben. Der Autodidakt sieht es seit Beginn seiner Recherche als Pflicht an, "die Objekte zu schützen", wie er sagt.
So bleibt es dem Betrachter und seiner Fantasie überlassen, auf eigene Faust die Zeitreise zu Fennemas längst vergessenen Schätzen anzutreten - zu spekulieren, zu träumen, berührt zu werden. "Man muss sich nur die Zeit nehmen und genau hinhören", sagt der Fotograf. "Mit der nötigen Ruhe fangen die Gemäuer an zu erzählen."
(c) Sven Fennema |
Fotografie-Schätze von Sven Fennema
Die Schönheit der vergessenen Orte
Stillgelegte Krematorien, verfallene Theater, vermoderte Psychiatrien: Auf seiner Suche nach vergessenen Orten entdeckte Fotograf Sven Fennema architektonische Juwelen - einestages zeigt die schönsten und erzählt ihre Geschichte.
Von Katja Iken | einestages | SPIEGEL-ONLINE
Wie viele Waisenkinder dort einst schliefen? Wie viele kleine Mädchen und Jungen dort einst zusammengepfercht lebten - ohne Eltern, ohne Privatsphäre, ohne Geborgenheit? Der große Saal offenbart nichts von alledem. Weiße Laken sind über die Betten gebreitet, von einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt. Hier und da rieselt der Putz von Decke und Wänden, die Fenster sind von windschiefen Jalousien verschlossen.
Ein Kalender an der Wand des Waisenhauses, gelegen in einem Hügelland in Norditalien, deutet darauf hin, dass seit gut 30 Jahren kein Mensch mehr das Gebäude betreten hat. Bis Sven Fennema kam.
2012 entdeckte der Krefelder Self-Made-Fotograf das verlassene Gebäude bei seinem Streifzug durch Europa, historische Postkarten des Heims hatten ihn auf die richtige Spur gebracht.
Auf der Suche nach sogenannten "Lost Places" reiste Fennema quer durch Italien, Deutschland, Frankreich, Polen, Belgien, Luxemburg und die Schweiz. Die Ergebnisse seiner fotografischen Recherche hat er in dem jetzt erschienenen, beeindruckenden Bildband "Tales of Yesteryear" (Living Pictures 2014, 49,90 Euro) veröffentlicht.
Schatzsuche per Internet, Zeitungsartikel, Satellitenkarte
Fennema lichtete verfallene Villen, Theatersäle, Treppenhäuser und Kirchenschiffe ebenso ab wie alte Weingüter und Industrieruinen, Krankenhäuser und Krematorien. "Es fasziniert mich immer wieder, wie die Natur sich ihren Weg bahnt, langsam aber unaufhaltsam die Kontrolle übernimmt, wenn der Mensch nicht dagegenwirkt - und am Ende mächtiger ist", sagt der 32-Jährige im Gespräch mit einestages.
Sven Fennema |
Um die "Lost Places" aufzustöbern, sichtet er Postkartenarchive und alte Zeitungsartikel. Er studiert Satellitenkarten, recherchiert im Internet, stellt eine Reiseroute zusammen - und fährt los.
Melancholie des Verfalls
In den meisten Fällen steht er vor verschlossener Tür und muss aufgeben. Doch immer wieder, gerade in seinem Lieblingsland Italien, wird Fennema bei seiner mühsamen Schatzsuche fündig. Mit den alten Gebäuden entdeckt er vergessene Geschichten und Schicksale.
Wie etwa das grausige Exempel der italienischen "Manicomi": psychiatrische Anstalten in Italien, in denen kranke Menschen bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein unter den unwürdigsten Zuständen an den Betten festgeschnallt, in eiskalte Bäder getaucht, weggesperrt wurden.
1978 setzte sich der Psychiater Franco Basaglia dafür ein, zahlreiche der menschenverachtenden Einrichtungen zu schließen. Einige von ihnen, mittlerweile verwittert und marode, hat Fennema aufgesucht und abgelichtet. Wer sich die Bilder näher anschaut, den übermannt die Melancholie des Verfalls - aber auch Faszination für die Erhabenheit zeitlos schöner Architektur.
Gefangen gehaltene Geschichte
Zahlreiche Fragen drängen sich auf, etwa im Fall eines noch immer bestuhlten, seit Jahrzehnten verlassenen Raumes, der in einem Außenflügel einer abseits gelegenen Villa im Piemont liegt: Welcher Künstler, Schauspieler, Musiker trat dort, in dem heute von Spinnweben überzogenen, von Farn überwucherten Saal, einst auf? Wer saß damals auf den Stühlen und applaudierte?
Oftmals ist es nicht möglich, die Historie genau zu rekonstruieren: "Manchmal betrete ich Gebäude, die wirken wie eine Zeitkapsel, die ihre Geschichte geradezu gefangen halten", sagt Fennema. Der Fotograf zeigt verlassene Orte, die stark verfallen sind, ebenso wie Gebäude, die mittlerweile bereits abgerissen wurden.
Doch immer wieder gibt es auch positive Überraschungen: Bauwerke, die in letzter Sekunde gerettet werden, weil sich Geldgeber zur Finanzierung gefunden haben. Dies gilt etwa für die grandiose, aber komplett verfallene evangelische Kirche im polnischen Zeliszow (deutsch: Giersdorf): Ende des 18. Jahrhunderts nach Plänen des Brandenburger-Tor-Baumeisters Carl Gotthard Langhans errichtet, ließen die Kommunisten das Gotteshaus nach 1945 langsam verrotten.
"Da klaut man den alten Gebäuden die Seele"
Die Kirche wurde als Schafstall genutzt, Privatleute bedienten sich ihrer als Bausteinlager. Als Fennema 2012 auf die Kirche stieß, klafften gigantische Löcher im Dach, der Boden war von Schutt übersät. Mittlerweile hat sich eine Stiftung gegründet, kürzlich begannen die bitter nötigen Renovierungsarbeiten. Fennema hofft auf originalgetreue Rekonstruktion - von einem modernen Wiederaufbau will der Fotograf nichts wissen: "Da klaut man den alten Gebäuden die Seele."
Weil er immer wieder mitansehen muss, wie aufgespürte "Lost Places" mit Graffiti besprüht und zerstört werden, vermeidet Fennema es zumeist, die genaue Lage der verfallenen Bauwerke preiszugeben. Der Autodidakt sieht es seit Beginn seiner Recherche als Pflicht an, "die Objekte zu schützen", wie er sagt.
(c) Sven Fennema |
So bleibt es dem Betrachter und seiner Fantasie überlassen, auf eigene Faust die Zeitreise zu Fennemas längst vergessenen Schätzen anzutreten - zu spekulieren, zu träumen, berührt zu werden. "Man muss sich nur die Zeit nehmen und genau hinhören", sagt der Fotograf. "Mit der nötigen Ruhe fangen die Gemäuer an zu erzählen."