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Mahnmal für Opfer der NS-"Euthanasie"-Morde eröffnet | Ein "Euthanasie"-Opfer war Erna Kronshage

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Gedenkstätte für Opfer der "Euthanasie"-Morde eröffnet

Wo die Berliner Philharmonie steht, planten die Nazis ab 1940 die Ermordung von Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung, sogenanntem "lebensunwerten Leben". Eine Gedenkstätte erinnert nun an die "Aktion T 4".


Der Euthanasie-Denk- und Informationsort, im Hintergrund die Philharmonie | DW




Die Sprache der Täter war verharmlosend und verschleiernd, manchmal sogar verniedlichend. Als "Endlösung" ist die fabrikmäßige Ermordung der europäischen Juden verklausuliert worden. Für die systematische Vernichtung körperlich und geistig Behinderter oder sogenannter Asozialer und angeblich psychisch kranker Personen verwendeten die Nationalsozialisten das Wort "Euthanasie". Die alten Griechen verstanden darunter einen "schönen Tod". In der Nazi-Zeit war "Euthanasie" praktisch gleichbedeutend mit Massenmord. Auf das Konto der selbst ernannten Herrenmenschen gehen geschätzt 300.000 Morde an sogenanntem "lebensunwerten Leben". An das Schicksal der Opfer wird seit Dienstag mit einem Gedenk- und Informationsort vor dem Eingang der Berliner Philharmonie erinnert.

Der Ort ist keineswegs willkürlich gewählt. Exakt an dieser Stelle befand sich in einer prachtvollen Villa die "Zentraldienststelle T 4". Das Kürzel steht für die Postadresse: Tiergartenstraße 4. Hinter der schönen Fassade organisierten und koordinierten mehr als 60 Schreibtischtäter das von 1940 bis Kriegsende umgesetzte "Euthanasie"-Programm, an dem sich auch zahlreiche Wissenschaftler und Ärzte beteiligten. 

Heute steht an diesem authentischen Ort des Schreckens das Konzerthaus der Berliner Philharmoniker, Anfang der 1960er Jahre errichtet nach Plänen Hans Scharouns. Das Foyer der Spielstätte des weltberühmten Orchesters war die Kulisse für den Festakt zur Übergabe des neuen Gedenkortes.

EINSCHUB: 
ERNA KRONSHAGE 
geboren am 12.12.1922 | ermordet am 20.02.1944  
Vor gut 70 Jahren endete das unaufhaltsam rasche aber heftige insgesamt 17 Monate währende NS-"Euthanasie"-Martyrium meiner Tante Erna Kronshage durch den dann gewaltsam herbeigeführten Tod - "durch Erschöpfung" - am 20.02.1944 ...
Meine Tante selbst habe ich leider nie kennengelernt: ich wurde erst 1947 geboren. Fast 30 Jahre lang sammele ich Informationen zur Opferbiographie meiner Tante - und ich kann heute bruchstückhaft zusammengesetzt - peu à peu - ein ziemlich genaues Bild von ihrem viel zu kurzen Lebensweg nachzeichnen.

Aus insgesamt ebenso fragmentarischen und teilweise zwischendurch (un)bewusst verdrängten Erinnerungen und Mitteilungen meiner Mutter (einer Schwester Ernas), der weiteren Familie, ehemaliger Nachbarn, von Freunden und Verwandten, sowie aus einschlägigen Urkunden und Akten konnte ich nach und nach die Geschichte der Erna Kronshage zusammensetzen, die das elfte und jüngste Kind der Familie Kronshage war und die plötzlich, erst 19 Jahre alt, in ein unaufhaltsam rasches aber heftiges insgesamt 17 Monate währendes NS-"Euthanasie"-Martyrium zwischen Herbst 1942 und Frühjahr 1944 geriet - als eine zunächst gesunde aufgeweckte junge Frau, die plötzlich als "schizophren" diagnostiziert, dadurch dann zwangssterilisiert, und zum Abschluss in einer sogenannten Gau-"Heil"anstalt im damals besetzten Polen vorsätzlich ermordet wurde: Auf einer immer schiefer geratenen Ebene gab es für sie keinen Halt mehr ...
Gedenkblog (anclicken)
Ich habe viele Belege gesammelt, diesen plötzlichen gnadenlos tödlich konsequenten Leidensweg meiner Tante zu dokumentieren, und habe ihre Geschichte in einem Gedenkblog im Internet (Link anclicken) mit eingebauten 15-min.-YOUTUBE-Videos (siehe unten) veröffentlicht, die an das grausame und maßlos brutale Unrecht erinnern - auch um besonders die jüngere Generation zu erreichen und aufzuklären. Ich habe schon mehrfach in Schulklassen und in Themenveranstaltungen der relevanten Erzählcafés bzw. Geschichtswerkstätten mit interessiertem Publikum darüber berichten können (siehe dazu auch die Vermerke in der rechten Sidebar dieses Blog-Layouts...).

Das Gedenkblog wurde seit Ende 2009 bis dato rund 65.000 mal angeklickt - und die Besucher kamen im gleichen Zeitraum aus mittlerweile mindestens 133 verschiedenen Staaten der Erde - das Video klickte man bisher rund 25.000 mal an - wobei die Anzahl der "Klicks" natürlich nichts von der Qualität und Intensität der Kontaktaufnahmen aussagt ...

In welchem Dilemma sich Erna Kronshage befand - eine hochintelligente, wache, junge, sensible Frau, die die damalige Volksschule mit einem Notendurchschnitt von 1,78 abgeschlossen hatte - ein Wert, dem allerdings damals noch keinerlei Bedeutung zugemessen wurde - verdeutlicht ihr weiterer Lebenslauf:

Als das letzte Kind ihrer Eltern wird sie im Heranwachsen immer stärker innerlich zerrissen: Denn als ihre zehn älteren Geschwister zum Teil verheiratet aus dem Haus gehen bzw. ihre Brüder zum Arbeitsdienst oder an die Front zur Wehrmacht eingezogen werden (ab ca. 1939 - da ist Erna erst 17 Jahre alt ...), schrumpft diese ursprüngliche 13-köpfige Großfamilie - in der sie als das jüngste Kind hineingeboren wurde - und dadurch ganz natürlich entsprechende Verwöhnungen erhält und Privilegien hat - zu einer völlig überforderten und durch Krankheit, Kriegswirren und Kriegsängsten instabilen 3-köpfigen Kleinstfamilie ...

Allein auf Erna Kronshage lastet nun immer mehr die Pflicht, den schwächelnden Eltern auf dem landwirtschaftlichen Anwesen bei der täglichen Arbeit zu helfen - in ihrer damals völlig normalen beruflichen Anstellung als "Haustochter im elterlichen Betrieb"... Aber gleichzeitig hat sie sicherlich als lebenslustig Heranwachsende auch allmählich auf eigenen Füßen stehen und sich vom Elternhaus lösen wollen...

Die so für eine "normale" jugendliche Entwicklung damals äußerst perspektivlose Kriegszeit sowie der erste nächtliche Bombenabwurf eines englischen Fliegers im 2. Weltkrieg in Ostwestfalen - ausgerechnet in Senne II - plötzlich und unerwartet wie "aus heiterem Himmel" bereits am 2. Juni 1940 (Kriegsbeginn war ja am 1.09.1939) - bei dem in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Hofgebäude, in dem Erna wohnte und arbeitete, im gegenüber gelegenen Gutshof Westerwinter (in ca. 80-120 m Entfernung) eine Bekannte ums Leben kommt, hat Erna sicherlich entsprechend verunsichert und wahrscheinlich sogar traumatisiert. Durch diese innere Verunsicherung und durch dieses erschreckende Bomben-Traumata in nächster Nähe ist der äußere Krieg auch zu einem inneren Krieg für Erna Kronshage geworden.

Diese innere Zerrissenheit hat dann eine spontane akute Arbeitsverweigerungshaltung im Herbst 1942 ausgelöst: Erna Kronshage kommt plötzlich ihren Aufgaben nicht pünktlich nach und geht gegenüber den Eltern in den aktiven und passiven Widerstand (heute würde man sagen: "Null-Bock-Phase" und "aufmüpfig sein" - "Burn-out-Phase" - oder aber "posttraumatische Belastungsstörung") weshalb damals ihre Mutter die sogenannte "Braune Schwester" als damalige Gemeindeschwester und Fürsorgerin von der NS-Volkswohlfahrt um Rat fragt...

Auf Grund dieses eingeholten Ratschlages begibt sich Erna Kronshage mit einer polizeilichen Einweisung als "sich und die Allgemeinheit gefährdende Person" (= "gemeingefährlich") am 24.10.1942 auf Anraten dieser NS-"Fürsorgerin" und dem Gutachten eines Amtsarztes, den sie zuvor aufgesucht hat, schließlich in die Hände der Ärzte der Provinzialheilanstalt Gütersloh, weil sie sich dort professionelle Hilfe ausrechnet. Von der Verstrickung der damaligen NS-Psychiatrie in die nationalsozialistisch propagierte Doktrin eines "gesunden arischen Volkskörpers" und den eventuellen Konsequenzen daraus für sich hat Erna damals keine Ahnung - sie hat auch keine Diagnose erwartet, die sie irgendwie "unheilbar" und "erbkrank" belastet auf diese tödlich endende schiefe Ebene katapultiert hätte - entsprechende Gerüchte um sie herum hat sie sicherlich zurückgewiesen, hatte man doch just einer ihrer Schwestern dort nach einem "vorübergehenden Erregungszustand" in nur einem 4-wöchigen Kurzaufenthalt 1939 adäquat helfen können - ohne irgendwelche Konsequenzen daraus - und so hatte sich das Erna Kronshage wohl für sich auch gedacht - als eine Art Kurzkur-Aufenthalt in einer Art "Sanatorium" - was zu jener Zeit - auch von seiten der NS-Propaganda in Bezug auf eine "gesunde Volksgemeinschaft" (dazu auch die Organisation "Kraft durch Freude" - KdF) - fast synonym mit (Provinzial-)"Heilanstalt" im Sprachgebrauch der damaligen Zeit verwendet wurde ... In diesem Zusammenhang ist es erstaunlich, wieviel NS-Ärzte nach dem Krieg unbehelligt Kursanatorien oder "Lungenheilstätten" eröffneten oder leiteten ...

Aber anstatt die von einer "Heilanstalt" - mit modernen jungen "studierten Ärzten und Psychiatern" und modernen "Therapieeinrichtungen" ausgestattet - zu erwartende Zustandsverbesserung einzuleiten - ging es - ganz im Gegenteil - von nun ab - gnadenlos - bergab ...

Bereits am ersten Aufenthaltstag haben die dort tätigen NS-Psychiater Ernas akuten Zustand nämlich als "Schizophrenie" diagnostiziert, obwohl zuvor nie demgemäße Symptome - "endogen= von innen heraus" - zu beobachten waren ... Aber nun hat man ganz "zeitgemäß" im Blut- und Boden-Denken sich aufgrund der "Sippen- und Ahnentafel" der Familie - und auch eben dieses 4-wöchigen Kurzaufenthaltes der Schwester dort - auf diese Diagnose einer "Schizophrenie" unumstößlich festgelegt ... - mit heute nicht mehr nachvollziehbaren Begründungen ...

Damals ganz modern - wurde diese im Schnellschuss-Verfahren diagnostizierte "Schizophrenie" mit der gerade in Gütersloh eingesetzten "aktivierenden Krankenbehandlung" mit Arbeitstherapie (Gartenkolonne, Kartoffelschälen, Hauswirtschaft, einfache Handwerks-Verrichtungen) und "Cardiazol"-Schocks (Vorläufer-Therapie der späteren Elektroschocks) behandelt. Alle zwei bis drei Tage löste man mit einem Kampfer-Medikament epileptische Anfälle aus – 15- bis 30 mal pro Behandlungsserie - bei 3-4 so provozierten Anfallsgeschehen in der Woche, so wird es wenigstens in der damaligen Literatur von den Fachärzten empfohlen.

Mit dieser Tortur ist Erna Kronshage eher ruhig gestellt, diszipliniert und in ihrem Willen gebrochen worden, als dass das "Krankheitsbild" einer Schizophrenie nach heutigen Maßstäben tatsächlich adäquat behandelt worden wäre.

Weitere "Therapiemaßnahmen" im Zuge der damals modernen Behandlung in Gütersloh sind für Erna Kronshage nachweislich eben das Kartoffelschälen und die Gartenarbeit, die sie ja aber genauso auch schon zu Hause als "Haustochter" zu verrichten hatte.

Da "Schizophrenie" als Erbkrankheit im Sinne des damaligen NS-Gesetzes "zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses" gilt, soll Erna Kronshage nun auf Antrag des Direktors der Provinzialheilanstalt Gütersloh, Dr. Werner Hartwich, zwangssterilisiert werden.

Bis zuletzt versucht ihr Vater dieses Schicksal abzuwenden - leider erfolglos. Am 04.August 1943 wird sie in Gütersloh nach Beschluss in 2. Instanz des Erbgesundheitsobergerichtes in Hamm tatsächlich - gerade einmal etwas über 20,5 Jahre alt - zwangssterilisiert.

Am 12. November 1943 wird Erna Kronshage angeblich „aus Luftschutzgründen“ - aber auch zur notwendigen Freistellung von Pflegebetten für den Lazarettbedarf in der Provinzialheilanstalt Gütersloh aufgrund der zunehmend verheerenden Bombardierungen der Städte und der schweren Verletzungen von Frontsoldaten im Rahmen einer nach dem Leibarzt Hitlers, Dr. Karl Brandt, sogenannten "Sonderaktion Brandt" zu einer Gauheilanstalt im seit 1939 besetzten Polen, 630 km von Gütersloh entfernt, mit 99 anderen Schicksalsgenossinnen verlegt.

Diese Anstalt trug im Besatzerdeutsch den willkürlich "verballhornten" Namen "Tiegenhof/Gnesen" - zuvor und auch noch heutzutage heißt sie polnisch: Dziekanka/Gniezno ...

In Wirklichkeit ist dieser Massen-Transport eine von vielen Maßnahmen zu letztlich getarnten "wilden" NS-"Euthanasie"-Aktionen - nachdem die zentral gesteuerte erste "Euthanasie"-Welle auf Befehl Adolf Hitlers wegen der wachsenden Kritik aus der Bevölkerung (z.B. Kardinal Graf v. Galen aus Münster) bereits 1941 nach gut 70.000 Mordopfern vorübergehend eingestellt wird - nun aber "heimlich" unter Ausschluss der Öffentlichkeit und dezentral organisiert weitergemordet wird.

Bereits 99 Tage nach der Ankunft aus Gütersloh in der Anstalt "Tiegenhof" in Gnesen/Gniezno, am 20. Februar 1944, erleidet Erna Kronshage angeblich wegen "vollkommener Erschöpfung" einen gewaltsamen Tod...

Inzwischen weiß die Forschung zweifelsfrei, auch belegt durch Zeugenaussagen in verschiedenen Nachkriegsprozessen, dass diese Anstalt Tiegenhof ab 1939 unter dem "volksdeutschen" Direktor Dr. Victor Ratka zu einer regelrechten Vernichtungsanstalt umgewidmet wurde, zuerst für die polnischen Patienten durch das berüchtigte SS-Mordkommando unter dem Hauptsturmführer Herbert Lange mittels Gaswagen - und dann für die "Verlegungspatienten" aus dem deutschen Reichsgebiet durch Hungerkost oder Todesspritze, verabreicht vom inzwischen ausgetauschten deutschen Personal ...

Zum Todeszeitpunkt Erna Kronshages werden dort, wie in mehreren anderen Anstalten gerade im Osten (z.B. auch Meseritz-Obrawalde), und jetzt eben dezentral auf lokaler Ebene von Anstalt zu Anstalt geplant, die Patiententötungen durch eine von NS-Ärzten (besonders Prof. Dr. med. Nitsche) ausgeklügelte Kombination von "Hungerkost" bei Fettentzug, einhergehend mit hohen Beigaben sedierender Medikamente, z.B. des Schlafmittels "Luminal", weiter durchgeführt, die nach einer gewissen Zeit zur Auszehrung des Körpers und zur allgemeinen Erschöpfung oder auch zu einer Lungenentzündung und anderen Infektionen aufgrund der drastisch herabgesetzten oder fehlenden Abwehrkräfte des Körpers führen.

Die auch "amtlich" so genannte Todesursache in Erna Kronshages Sterbeurkunde (="Allgemeine Erschöpfung") ist die damals übliche Umschreibung einer geplanten und konsequent durchgeführten Tötung, die mehrmals täglich, oft im Stundentakt, in den ("sonder"-)standesamtlichen Urkunden der betreffenden Anstalten immer wieder so benannt wird.

Die Leiche Erna Kronshages wird dann auf Antrag der Eltern in die Heimat nach Senne II (heute BI-Sennestadt) rücküberführt und nach 600 km langem Rücktransport per Reichsbahn-Güterwagen auf dem Alten Friedhof in Senne II am 05.März 1944 beigesetzt - nachdem die Familie zuvor den angekommenen Sarg mit der Leiche aus Misstrauen heimlich inspiziert und laienhaft untersucht hat...
Am 06.12.2012 - 6 Tage vor der 90. Wiederkehr des Geburtstages von Erna Kronshage - legt der Künstler Gunter Demnig auf dem Gehweg genau an der Ecke Verler Straße/Krackser Straße - unweit ihres Geburtshauses - auf dem Weg zum "Krackser Bahnof" Sennestadt - in diesem Ortsteil den ersten sogenannten "Stolperstein", einen mit Namen und Daten eingravierten mit Messing belegten Pflasterstein - zur Erinnerung an Erna Kronshage. 


Menschen mit Behinderung und psychisch Erkrankte starben als Erste diese grauenvollen Tode, die man im NS-Sprachgebrauch so leichthin als "Euthanasie" und "Erlösung" apostrophierte ... Für diese Opfer gibt es an zahlreichen Orten des Schreckens dezentrale Mahnmale. Dort, wo ihr Tod geplant wurde, kann man sich nun unter freiem Himmel an elf anschaulichen Metallkästen über die "Aktion T 4" informieren und der Opfer gedenken. Audio- und Videoaufnahmen ergänzen die Texte. Eine blau leuchtende Glaswand lenkt schon von Weitem den Blick auf das Denkmal.

Wenige Schritte davon entfernt ist eine unauffällige Gedenkplatte in den Boden eingelassen. Sie liegt dort schon seit 1989. "Ehre den vergessenen Opfern" ist der kurze Text überschrieben. Am Ende steht ein Satz, der nicht nur auf die "Euthanasie"-Morde der Nazis zutrifft: "Die Zahl der Opfer ist groß, gering die Zahl der verurteilten Täter." Gelesen wurden diese Zeilen in den zurückliegenden 25 Jahren wohl nur von wenigen Konzert-Besuchern der Philharmonie. Ab sofort wird niemand mehr an der "Aktion T 4" vorbeikommen, wenn er sich dem golden glänzenden Scharoun-Bau nähert. Dafür gesorgt haben federführend die Architektin Ursula Wilms, der Künstler Nikolaus Koliusis und der Landschaftsarchitekt Heinz Hallmann.


Kulturstaatministerin Grütters (vorne) und
Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit (hinten) legen Blumen nieder. 
Den Beschluss für den zentralen Gedenk- und Informationsort hatte der Deutsche Bundestag 2011 gefasst, 71 Jahre nach dem Beginn des "Euthanasie"-Programms. Die Nazis hätten sich angemaßt, das einzelne Leben nach "Nützlichkeit" und "Brauchbarkeit" zu beurteilen, sagte Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Festakt in der Philharmonie. Die Christdemokratin nutzte die Gelegenheit zu einer tagespolitischen Anmerkung. Unter Verweis auf die menschenverachtende Ideologie der Nazis warnte sie davor, in der Diskussion über aktive Sterbehilfe das Tötungsverbot leichtfertig infrage zu stellen.




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Gedenkort für Opfer der NS-Euthanasie

Jahrzehntelang kamen sie im offiziellen Gedenken für die Opfer des NS-Regimes nicht vor: Menschen mit Behinderung, die von den Nazis ermordet wurden. Nun wurde in Berlin ein Gedenkort für sie eröffnet.

"Schöner oder leichter Tod" - so lautet die Übersetzung des griechischen Begriffs Euthanasie. Im Nationalsozialismus bedeutete er vor allem die Vernichtung von sogenanntem unwertem Leben. In dem Mordprogramm "T4", benannt nach dem Standort der Organisationszentrale in Berlin, der Tiergartenstraße 4, wurden zwischen Januar 1940 und August 1941 rund 70.000 Menschen getötet. Europaweit starben nach Schätzungen 300.000 Menschen, weitere 400.000 Frauen und Männer wurden zwangssterilisiert.

Um an diese Menschen zu erinnern, wurde jetzt in Berlin ein Denkmal eingeweiht. Die Erinnerungsstätte besteht aus einer transparenten blauen Glaswand, die 24 Meter lang ist, entworfen und gestaltet von der Architektin Ursula Wilms, dem Künstler Nikolaus Koliusis und dem Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann. Eine dazugehörige multimediale Freiluftausstellung neben der Berliner Philharmonie informiert über die Geschichte der Euthanasie-Morde mit ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart.

Nach öffentlichen Protesten hatten die Nazis die Massentötungen ab August 1941 offiziell eingestellt. Danach wurden Patienten umgebracht, indem man sie verhungern ließ oder ihnen Medikamente wie Schlafmittel oder Morphium verabreichte.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters erinnerte zur Eröffnung an die "unfassbar menschenverachtende Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben" durch die Nazis und sprach von einer "Deformierung moralischen Empfindens". Von dem Ort Tiergartenstraße gehe die Botschaft aus, dass jedes menschliche Leben es wert sei, gelebt zu werden.

"Der Gedenkort T4 konfrontiert uns heute mit der grauenvollen NS-Ideologie, die sich anmaßte, das einzelne Leben nach "Nützlichkeit" und "Brauchbarkeit" zu beurteilen", sagte Grütters weiter. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit wies in seiner Ansprache darauf hin, dass etwa zehn Prozent der Deutschen mit einer körperlichen oder geistigen Einschränkung leben.

Seit 1989 erinnerte am Ort des neuen Denkmals lediglich eine Bodenplatte an die Opfer der NS-Euthanasie. 2007 bewirkte eine Bürgerinitiative einen Runden Tisch zur Gestaltung eines Denkmals, 2011 beschloss dann der Bundestag einen Gedenkort.

Video:  - DW alu / az (epd, afp)

Mit Materialien von -  und (anclicken)



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