Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde
BLUES oder: Die blaue Glaswand -
Eine erste Bewertung
In der Berliner Tiergartenstraße 4 befand sich ab April 1940 die Zentrale für die Organisation, die unter dem Decknamen »T 4« – oder schlicht »Aktion« – den Massenmord an Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich initiierte, koordinierte und durchführte. Über 70.000 Menschen fielen ihm zum Opfer, bis die Aktion am 24. August 1941 aufgrund öffentlicher Unruhe zunächst unterbrochen wurde. Das Morden begann bereits mit Kriegsbeginn im September 1939 und wurde sowohl nach dem sogenannten »Euthanasiestopp« im August 1941 im gesamten Deutschen Reich und in vielen besetzten Gebieten, insbesondere im Osten mit extra aus dem Reich dorthin deportierten Insassen aus "Heil"anstalten und Heimen, unvermindert bis Kriegsende fortgesetzt. Die Erfassung, »Selektion« und Tötung der Anstaltspatienten war die erste zentral organisierte und systematische Massenvernichtung von Menschen durch die Nationalsozialisten. Dabei stellt die aktive »T 4«-Aktion von 1939 - 1941 nur einen Teilkomplex des Gesamtverbrechens gegen Anstaltsbewohner dar: Unter maßgeblicher Teilbeteiligung und mit "Hilfe" der eingeschliffenen Netzwerke aus der Tiergartenstraße 4 wurden nun die sogenannten dezentralen "wilden" Tötungsaktionen zumeist in den besetzten Anstalten im Osten geplant, eingeleitet und durchgeführt, die dazu zu regelrechten und durchorganisierten Tötungseinrichtungen mit einer geradezu perfiden Perfektion umfunktioniert wurden (z.B. Meseritz-Obrawalde und Tiegenhof/Gnesen u.a.) ... Die Forschung geht derzeit von insgesamt 300.000 Opfern des sogenannten »Euthanasie«-Programms in Europa aus.
Im November 2011 beschloss der Deutsche Bundestag, einen »Gedenkort für die Opfer der NS-›Euthanasie‹-Morde« am historischen Ort der Planungszentrale zu errichten. Das Land Berlin lobte daraufhin einen Gestaltungswettbewerb aus. Der Siegerentwurf der Architektin Ursula Wilms sowie des Künstlers Nikolaus Koliusis und des Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann umfasst eine transparente blaue 24 Meter lange Glaswand, die auf einer zur Mitte leicht geneigten dunklen Fläche aus anthrazitgefärbtem Betonbelag verläuft. Eine begleitende Freiluftausstellung informiert über die Geschichte der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde mit ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein. Der Gedenkort wurde am 2. September 2014 der Öffentlichkeit übergeben.
Stephan Speicher von der sueddeutschen.de hat nun bereits dieses Mahnmal unter dem Titel "Ausrufezeichen aus blauem Glas" bewertet. Und seine Wertung lese ich erst einmal mehr als ein "Fragezeichen" denn als "Ausrufezeichen" ...
Zunächst einmal stellt Speicher fest, dass ja bereits eine umgewidmete Serra-Plastik am Ort installiert war, um das Gedenken an diesen schrecklichen Ort aufrecht zu erhalten - jedoch sei dieses Werk (Titel: Berlin Junction) für einen ganz anderen Ort und eine ganz andere Funktion erschaffen worden - und man habe es etwas lieblos vielleicht sicherlich aber in guter Absicht einfach umgewidmet, weil der Berliner Senat dieses Kunstwerk seinerzeit angekauft hatte ...
Es habe immer irgendwie gewirkt wie ein Objekt "Kunst am Bau" für die ganz in der Nähe platzierte Berliner Philharmonie ...
Wenige Meter entfernt hat nun eben die Architektin Ursula Wilms zusammen mit dem Künstler Nikolaus Koliusis und dem Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann auf einer sanft geneigten Fläche eine Wand aus blauem Glas errichtet.
Nachdem eben die Skulptur Serras kritisiert wurde als zu unspezifisch für diesen Anlass des Gedenkens stellt sich Stephan Speicher aber jetzt die Frage, was das neue Kunstwerk denn dazu zu leisten vermag ...
Ersehnt war hier ein genauerer ästhetischer Ausdruck - aber was drückt nun diese blaue Glaswand mit seinem "Durchblick" aus ...???
Ursula Wilms, die Architektin nennt als erstes Kriterium: "Ganz klar, dass das auffallen soll...". Das Publikum soll erkennen, "da steht was Enormes"...
Okay - die Aufmerksamkeit wird erregt, ein Ausrufezeichen ist die Glaswand sicherlich - aber was ist es, was dieses Ausrufezeichen markiert?
"Wir wollten immer beides", sagt Wilms, nämlich die "Täter- und die Opferseite zum Ausdruck bringen."
Das war für die alte Kunst kein Problem, merkt nun Speicher an, den leidenden Märtyrer und die Folterknechte symblisch oder figürlich darzustellen. Aber wie kann das in einem abstrakten Objekt gelingen, dessen eingesenkte Grundfläche, so heißt es, für den "negativen Eindruck" stehe, den die Euthanasie des NS-Staates in der Geschichte hinterlassen habe. Das blaue Glas aber soll Assoziationen von Himmel, Luft, Leben freisetzen wie von "Ferne, Kühle und damit Sehnsucht, Hoffnung, Traurigkeit"...
Stephan Speicher lässt nicht locker: "Himmel, Hoffnung, Traurigkeit - daran lässt sich auch denken, wenn der Bruder bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Mit den Massentötungen 'lebensunwerten Lebens' haben diese ästhetischen Mittel seiner Meinung nach wenig zu tun, schreibt er ...
Die neue Glaswand in ihrer Glätte weise selbst Assoziationen einfach ab: Wie solle man da an die Opfer in ihrer Verlassenheit - an die "fähig-ungerührten Täter" - die Idee vom "endlich ertüchtigten Volkskörper" denken ... ???
Eins lässt Speicher dennoch unmissverständlich gelten: Als "Zeichen im Stadtraum" weise die Wand auf die hinzugefügten Dokumentationen hin, die sich vor dieser Wand erstrecken, in einem langgezogenen Pult, auf dem das Publikum über die Aktion T4 und die Phasen der NS-"Euthanasie" unterrichtet wird: Dieses kleine Freilichtmuseum mit Erläuterungen und Quellen zum Thema sei jedenfalls vorzüglich gelungen. Vor allem würde nicht verschwiegen, dass die Verbrechen eine nichtnationalsozialistische Vorgeschichte hätten... - und führt dann ein Beispiel an: In dem Buch "Das Problem der Abkürzung ,lebensunwerten' Lebens" des Arztes Ewald Meltzer, Leiter einer Erziehungsanstalt für behinderte Kinder, hatte der sich 1925 gegen jede Form der "Euthanasie" ausgesprochen - aber gleichzeitig notiert, dass die Eltern seiner Schützlinge das oft anders sahen: Etwa drei Viertel von ihnen meinten nämlich, ein schmerzloser Tod sei sicherlich das beste für ihre Kinder ...
Mit Materialien aus - und - und
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Da ich mich intensiv mit dem "Euthanasie"-Opfer-Schicksal meiner Tante Erna Kronshage (1922-1944) (Link anclicken) seit über 30 Jahren auseinandersetze und dazu viel gelesen und geforscht habe, fühle ich mich persönlich mit "angesprochen" bei einem solchen neuen Denkmal in der Berliner Tiergartenstraße - gerade auch weil Erna Kronshage nicht Opfer der direkten "Aktion T4" (1939-1941) wurde - sondern im Zuge einer der sogenannten dezentralen "wilden""Euthanasie"-Aktionen schließlich 1944 ermordet wurde, die unter dem Arbeitstitel "Sonderaktion Brandt" weiterhin erforscht wird - und bei der unter der Vorgabe und Tarnung einer Luftschutz-Evakuierung ausgesuchte Insassen nord- und westdeutscher Heilanstalten zur Tötung in die Vernichtungsanstalten in den östlichen Besatzungsgebieten bei Nacht und Nebel jeweils nach erfolgter Einschätzung der "wirtschaftlich verwertbaren Arbeitsleistung" selektiert und abtransportiert wurden ...
Nun - ich kenne das neue Mahnmal nicht persönlich - und habe eben nur die Informationen aus den Medien dazu - und habe nun ein paar aufschlussreiche Fotos dazu bisher gesehen - und den Tagesschau-Beitrag vom 02.09.2014 - in dem zu der Symbolik der "Blauen Transparent-Wand" aber auch schon ausgeführt wurde, sie solle die
"Trennung darstellen zwischen 'wertem' und 'unwertem' Leben" - oder wie bei Erna Kronshage zwischen brauchbarer oder ungenügender wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung - ein Kriterium, womit in der NS-Zeit maßgeblich die Menschen unterschieden und eingeteilt wurden - und sicherlich hier und da in manchen Köpfen immer noch werden... (siehe dazu auch die gesamte "Inklusions"-Debatte...).
Ich bin diesem Aspekt mal weiter nachgegangen - und habe mich in die Qualitätsaspekte und die Aussagekraft eines "Blauen Glases" hineingedacht: Bei dieser Wand ist ja wohl die Frage immer im jeweiligen Moment: Wer steht auf welcher Seite:
Wer ist "Topdog" - wer ist "Underdog" - wer ist "wert" - wer ist "un-wert" - und da ich "drüben" - auf der anderen Seite - ja auch Personensilhouetten und Schatten "wie Du und Ich" hindurchscheinen sehe und wahrnehme - bleibt diese Wertung somit "gleichberechtigt" und "unentscheidbar": Fritze Perls - der olle "Gestalt"-Papst - sagt in seinem sogenannten "Gestalt-Gebet" zu solch einer Dialog- und Bewertungsform in der Begegnung auf Distanz mit dem "Anderen" - dem "Anderssein" - "mit der anderen Seite":
"Ich lebe mein Leben - und du lebst dein Leben.
Ich bin nicht auf dieser Welt, um deinen Erwartungen zu entsprechen –
und du bist nicht auf dieser Welt, um meinen Erwartungen zu entsprechen.
ICH BIN ich und DU BIST du –
und wenn wir uns zufällig treffen und finden, dann ist das schön,
wenn nicht, dann ist auch das gut so"...
Mit diesem inneren Wert-Grundsatz wird das eigene Ich und Selbstbewusstsein gestärkt und in seinem Sosein akzeptiert - und dabei wird ebenso (!) der Andere - das "Anderssein""auf gleicher Augenhöhe""face to face" akzeptiert - und so belassen/toleriert wie er/es ist ...
Und wenn die Denkmal-Architektin ihrer Absicht Ausdruck verleiht: "Wir wollten immer beides, nämlich die Täter- und die Opferseite zum Ausdruck bringen" ... - mit der "blauen Wand" - dann stellt sich bei einer Glaswand eben die Frage: Auf welcher dieser alternativ polarisierenden Seiten stehe ich gerade: Bin ich Opfer - bin ich Täter - wer beurteilt das - wer bewertet das ... - oder wechselt meine imaginäre Rolle andauernd - auch je nach Selbst- oder Fremdeinschätzung: eben noch Opfer - jetzt Täter - und umgekehrt???
Denn - es kommt ja noch der Aspekt der Spiegelung hinzu - gerade bei einem solchen Blau-Glas - das ist ja wie bei einer spiegelnden Sonnenbrille - wie bei einer Seifenblase - wie das auch deutlich schon in den Fotos zu erkennen ist ...: Ich stehe auf der einen Seite - und werde zurückgespiegelt - die optische Wirkung ist fast so "wie von der anderen Seite" - wo aber eben auch noch "Andere" als Silhouetten und Schatten zu erkennen sind - und zwischen denen sich mein Spiegelbild erkennbar einordnet und einjustiert ...: Ich stehe auf "dieser Seite" - und spiegele mich so - als stünde ich auf der "anderen Seite" ...
Mit dem "Gespiegelt-Werden" in der blauen Wand erschließt sich in diesem Zusammenhang ein weiteres für ein Denk-mal bedeutsames Phänomen - nämlich das der "Reflexion" ...:
Und ein weiterer Aspekt, den die Architektin auch kurz in ihrem Interview anreißt - und der wohl auch dem mitbeteiligten Künstler Nikolaus Koliusis geschuldet ist: ist das BLAU - die Farbe als solche - der Charakter - ihre Farbpsychologie und die Assoziationen zu BLAU und dem blauen Licht, das durch die Glaswand erzeugt wird: Mit "Himmel, Luft, Leben und Ferne, Kühle und damit Sehnsucht, Hoffnung, Traurigkeit" - ist es da ja auch - aber noch nicht vollständig - getan ...
In einigen Kulturen soll gerade blaues Glas - das "Böse" abhalten ... - aber es gibt auch die emotionalen Verstrickungen mit dem "blue feeling", das die Engländer gern dem flauen Gefühl im Magen oder dem "Kloß im Hals" andichten - wenn längst noch nicht alles in Ordung ist ... - und mit dem "blue feeling" kommt mir natürlich das breite Aussagespektrum der Musikform "Blues" in den Sinn: Auch die Ambivalenz der Blues-Texte, die oft von den Schwarzen Amerikas als verschlüsselte Sprache gegenüber den Weißen verwendet wird ...
Alle diese hier nur angedeuteten Blauglas-Inhalte zu übertragen auf die Thematik der vergangenen NS-"Euthanasie" und der vielleicht immer noch gegenwärtigen latenten "Euthanasie" - z.B. das jemanden "In-den-Tod-wünschen", das "Ist-mir-doch-egal", die "Empfindungslosigkeit", die "Rache", die "Vernichtung", das "Was-habe-ich-damit-zu-tun-?" usw. sind schon spannend genug - und ich glaube - man muss sich in diese Thematik der Farbe BLAU bei dieser "Trennwand" des Denkmals noch emotional ein wenig tiefer hineinarbeiten - auch bei der Ambivalenz im Blau von "grenzenloser Freiheit" des "Azzurro" bei gleichzeitiger "Blues"-Bedrückung bis hin zur Depression ...
Das Team der Architektin Ursula Wilms zusammen mit dem Künstler Nikolaus Koliusis und dem Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann hat uns da auf den ersten Blick ein fast geradezu simples Mahnmal in die Gedenkkultur Berlins in Bezug auf die NS-Zeit hingestellt ("Was soll das denn sein ...") mit einer gleichzeitig tiefgründigen ambivalenten Mehrbödigkeit - und einem kaum unterscheidbaren "Entweder-Oder" ... - einem kaum zu ertragenen Spannungsbogen - irgendwie zwischen "Tod und Leben" - zwischen "Mord" und "Lebenlassen":
Es ist das, was ich auch oft zurückgespiegelt bekomme von den Gruppen und Schulklassen, denen ich von der Opferbiographie meiner Tante Erna Kronshage berichte: Bitterkeit, Anerkennung, "ein Glück - wenigstens schon lange her" - und manchmal vor lauter Betroffenheit albernes Herumgekichere - um etwas nicht in und an sich herankommen zu lassen ... - und zum Glück geht jeder Vortrag ja auch mal zu Ende ...
dpa |
BLUES oder: Die blaue Glaswand -
Eine erste Bewertung
In der Berliner Tiergartenstraße 4 befand sich ab April 1940 die Zentrale für die Organisation, die unter dem Decknamen »T 4« – oder schlicht »Aktion« – den Massenmord an Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich initiierte, koordinierte und durchführte. Über 70.000 Menschen fielen ihm zum Opfer, bis die Aktion am 24. August 1941 aufgrund öffentlicher Unruhe zunächst unterbrochen wurde. Das Morden begann bereits mit Kriegsbeginn im September 1939 und wurde sowohl nach dem sogenannten »Euthanasiestopp« im August 1941 im gesamten Deutschen Reich und in vielen besetzten Gebieten, insbesondere im Osten mit extra aus dem Reich dorthin deportierten Insassen aus "Heil"anstalten und Heimen, unvermindert bis Kriegsende fortgesetzt. Die Erfassung, »Selektion« und Tötung der Anstaltspatienten war die erste zentral organisierte und systematische Massenvernichtung von Menschen durch die Nationalsozialisten. Dabei stellt die aktive »T 4«-Aktion von 1939 - 1941 nur einen Teilkomplex des Gesamtverbrechens gegen Anstaltsbewohner dar: Unter maßgeblicher Teilbeteiligung und mit "Hilfe" der eingeschliffenen Netzwerke aus der Tiergartenstraße 4 wurden nun die sogenannten dezentralen "wilden" Tötungsaktionen zumeist in den besetzten Anstalten im Osten geplant, eingeleitet und durchgeführt, die dazu zu regelrechten und durchorganisierten Tötungseinrichtungen mit einer geradezu perfiden Perfektion umfunktioniert wurden (z.B. Meseritz-Obrawalde und Tiegenhof/Gnesen u.a.) ... Die Forschung geht derzeit von insgesamt 300.000 Opfern des sogenannten »Euthanasie«-Programms in Europa aus.
Im November 2011 beschloss der Deutsche Bundestag, einen »Gedenkort für die Opfer der NS-›Euthanasie‹-Morde« am historischen Ort der Planungszentrale zu errichten. Das Land Berlin lobte daraufhin einen Gestaltungswettbewerb aus. Der Siegerentwurf der Architektin Ursula Wilms sowie des Künstlers Nikolaus Koliusis und des Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann umfasst eine transparente blaue 24 Meter lange Glaswand, die auf einer zur Mitte leicht geneigten dunklen Fläche aus anthrazitgefärbtem Betonbelag verläuft. Eine begleitende Freiluftausstellung informiert über die Geschichte der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde mit ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein. Der Gedenkort wurde am 2. September 2014 der Öffentlichkeit übergeben.
Stephan Speicher von der sueddeutschen.de hat nun bereits dieses Mahnmal unter dem Titel "Ausrufezeichen aus blauem Glas" bewertet. Und seine Wertung lese ich erst einmal mehr als ein "Fragezeichen" denn als "Ausrufezeichen" ...
WIKIPEDIA |
Es habe immer irgendwie gewirkt wie ein Objekt "Kunst am Bau" für die ganz in der Nähe platzierte Berliner Philharmonie ...
Wenige Meter entfernt hat nun eben die Architektin Ursula Wilms zusammen mit dem Künstler Nikolaus Koliusis und dem Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann auf einer sanft geneigten Fläche eine Wand aus blauem Glas errichtet.
Nachdem eben die Skulptur Serras kritisiert wurde als zu unspezifisch für diesen Anlass des Gedenkens stellt sich Stephan Speicher aber jetzt die Frage, was das neue Kunstwerk denn dazu zu leisten vermag ...
Ersehnt war hier ein genauerer ästhetischer Ausdruck - aber was drückt nun diese blaue Glaswand mit seinem "Durchblick" aus ...???
Ursula Wilms, die Architektin nennt als erstes Kriterium: "Ganz klar, dass das auffallen soll...". Das Publikum soll erkennen, "da steht was Enormes"...
Okay - die Aufmerksamkeit wird erregt, ein Ausrufezeichen ist die Glaswand sicherlich - aber was ist es, was dieses Ausrufezeichen markiert?
"Wir wollten immer beides", sagt Wilms, nämlich die "Täter- und die Opferseite zum Ausdruck bringen."
Das war für die alte Kunst kein Problem, merkt nun Speicher an, den leidenden Märtyrer und die Folterknechte symblisch oder figürlich darzustellen. Aber wie kann das in einem abstrakten Objekt gelingen, dessen eingesenkte Grundfläche, so heißt es, für den "negativen Eindruck" stehe, den die Euthanasie des NS-Staates in der Geschichte hinterlassen habe. Das blaue Glas aber soll Assoziationen von Himmel, Luft, Leben freisetzen wie von "Ferne, Kühle und damit Sehnsucht, Hoffnung, Traurigkeit"...
Stephan Speicher lässt nicht locker: "Himmel, Hoffnung, Traurigkeit - daran lässt sich auch denken, wenn der Bruder bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Mit den Massentötungen 'lebensunwerten Lebens' haben diese ästhetischen Mittel seiner Meinung nach wenig zu tun, schreibt er ...
Die neue Glaswand in ihrer Glätte weise selbst Assoziationen einfach ab: Wie solle man da an die Opfer in ihrer Verlassenheit - an die "fähig-ungerührten Täter" - die Idee vom "endlich ertüchtigten Volkskörper" denken ... ???
Eins lässt Speicher dennoch unmissverständlich gelten: Als "Zeichen im Stadtraum" weise die Wand auf die hinzugefügten Dokumentationen hin, die sich vor dieser Wand erstrecken, in einem langgezogenen Pult, auf dem das Publikum über die Aktion T4 und die Phasen der NS-"Euthanasie" unterrichtet wird: Dieses kleine Freilichtmuseum mit Erläuterungen und Quellen zum Thema sei jedenfalls vorzüglich gelungen. Vor allem würde nicht verschwiegen, dass die Verbrechen eine nichtnationalsozialistische Vorgeschichte hätten... - und führt dann ein Beispiel an: In dem Buch "Das Problem der Abkürzung ,lebensunwerten' Lebens" des Arztes Ewald Meltzer, Leiter einer Erziehungsanstalt für behinderte Kinder, hatte der sich 1925 gegen jede Form der "Euthanasie" ausgesprochen - aber gleichzeitig notiert, dass die Eltern seiner Schützlinge das oft anders sahen: Etwa drei Viertel von ihnen meinten nämlich, ein schmerzloser Tod sei sicherlich das beste für ihre Kinder ...
Mit Materialien aus - und - und
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Da ich mich intensiv mit dem "Euthanasie"-Opfer-Schicksal meiner Tante Erna Kronshage (1922-1944) (Link anclicken) seit über 30 Jahren auseinandersetze und dazu viel gelesen und geforscht habe, fühle ich mich persönlich mit "angesprochen" bei einem solchen neuen Denkmal in der Berliner Tiergartenstraße - gerade auch weil Erna Kronshage nicht Opfer der direkten "Aktion T4" (1939-1941) wurde - sondern im Zuge einer der sogenannten dezentralen "wilden""Euthanasie"-Aktionen schließlich 1944 ermordet wurde, die unter dem Arbeitstitel "Sonderaktion Brandt" weiterhin erforscht wird - und bei der unter der Vorgabe und Tarnung einer Luftschutz-Evakuierung ausgesuchte Insassen nord- und westdeutscher Heilanstalten zur Tötung in die Vernichtungsanstalten in den östlichen Besatzungsgebieten bei Nacht und Nebel jeweils nach erfolgter Einschätzung der "wirtschaftlich verwertbaren Arbeitsleistung" selektiert und abtransportiert wurden ...
Nun - ich kenne das neue Mahnmal nicht persönlich - und habe eben nur die Informationen aus den Medien dazu - und habe nun ein paar aufschlussreiche Fotos dazu bisher gesehen - und den Tagesschau-Beitrag vom 02.09.2014 - in dem zu der Symbolik der "Blauen Transparent-Wand" aber auch schon ausgeführt wurde, sie solle die
"Trennung darstellen zwischen 'wertem' und 'unwertem' Leben" - oder wie bei Erna Kronshage zwischen brauchbarer oder ungenügender wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung - ein Kriterium, womit in der NS-Zeit maßgeblich die Menschen unterschieden und eingeteilt wurden - und sicherlich hier und da in manchen Köpfen immer noch werden... (siehe dazu auch die gesamte "Inklusions"-Debatte...).
Ich bin diesem Aspekt mal weiter nachgegangen - und habe mich in die Qualitätsaspekte und die Aussagekraft eines "Blauen Glases" hineingedacht: Bei dieser Wand ist ja wohl die Frage immer im jeweiligen Moment: Wer steht auf welcher Seite:
Wer ist "Topdog" - wer ist "Underdog" - wer ist "wert" - wer ist "un-wert" - und da ich "drüben" - auf der anderen Seite - ja auch Personensilhouetten und Schatten "wie Du und Ich" hindurchscheinen sehe und wahrnehme - bleibt diese Wertung somit "gleichberechtigt" und "unentscheidbar": Fritze Perls - der olle "Gestalt"-Papst - sagt in seinem sogenannten "Gestalt-Gebet" zu solch einer Dialog- und Bewertungsform in der Begegnung auf Distanz mit dem "Anderen" - dem "Anderssein" - "mit der anderen Seite":
"Ich lebe mein Leben - und du lebst dein Leben.
Ich bin nicht auf dieser Welt, um deinen Erwartungen zu entsprechen –
und du bist nicht auf dieser Welt, um meinen Erwartungen zu entsprechen.
ICH BIN ich und DU BIST du –
und wenn wir uns zufällig treffen und finden, dann ist das schön,
wenn nicht, dann ist auch das gut so"...
dpa |
Mit diesem inneren Wert-Grundsatz wird das eigene Ich und Selbstbewusstsein gestärkt und in seinem Sosein akzeptiert - und dabei wird ebenso (!) der Andere - das "Anderssein""auf gleicher Augenhöhe""face to face" akzeptiert - und so belassen/toleriert wie er/es ist ...
Und wenn die Denkmal-Architektin ihrer Absicht Ausdruck verleiht: "Wir wollten immer beides, nämlich die Täter- und die Opferseite zum Ausdruck bringen" ... - mit der "blauen Wand" - dann stellt sich bei einer Glaswand eben die Frage: Auf welcher dieser alternativ polarisierenden Seiten stehe ich gerade: Bin ich Opfer - bin ich Täter - wer beurteilt das - wer bewertet das ... - oder wechselt meine imaginäre Rolle andauernd - auch je nach Selbst- oder Fremdeinschätzung: eben noch Opfer - jetzt Täter - und umgekehrt???
Denn - es kommt ja noch der Aspekt der Spiegelung hinzu - gerade bei einem solchen Blau-Glas - das ist ja wie bei einer spiegelnden Sonnenbrille - wie bei einer Seifenblase - wie das auch deutlich schon in den Fotos zu erkennen ist ...: Ich stehe auf der einen Seite - und werde zurückgespiegelt - die optische Wirkung ist fast so "wie von der anderen Seite" - wo aber eben auch noch "Andere" als Silhouetten und Schatten zu erkennen sind - und zwischen denen sich mein Spiegelbild erkennbar einordnet und einjustiert ...: Ich stehe auf "dieser Seite" - und spiegele mich so - als stünde ich auf der "anderen Seite" ...
"Reflexion" = Beispiel in einer Seifenblase ... |
- Reflexion ist ein mehrdeutiger Begriff aus der Physik (= Widerspiegelung, Zurückgeworfenwerden),
- aber damit quasi modellhaft auch aus der Philosophie und Psychologie (= vertieftes Nachdenken - was löst das Phänomen der Widerspiegelung in mir aus ... - "Selbstreflexion" = eine "Introspektion" - eine Innenschau|Meditation|Kontemplation)
- aus der Systemischen Nomenklatur (Selbstreferentialität: Fähigkeit eines Programms, seine eigene Struktur zu kennen und diese, wenn nötig, zu modifizieren - auch in Bezug auf: Autopoiesis oder Autopoiese = der Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems ...) ...
Und ein weiterer Aspekt, den die Architektin auch kurz in ihrem Interview anreißt - und der wohl auch dem mitbeteiligten Künstler Nikolaus Koliusis geschuldet ist: ist das BLAU - die Farbe als solche - der Charakter - ihre Farbpsychologie und die Assoziationen zu BLAU und dem blauen Licht, das durch die Glaswand erzeugt wird: Mit "Himmel, Luft, Leben und Ferne, Kühle und damit Sehnsucht, Hoffnung, Traurigkeit" - ist es da ja auch - aber noch nicht vollständig - getan ...
In einigen Kulturen soll gerade blaues Glas - das "Böse" abhalten ... - aber es gibt auch die emotionalen Verstrickungen mit dem "blue feeling", das die Engländer gern dem flauen Gefühl im Magen oder dem "Kloß im Hals" andichten - wenn längst noch nicht alles in Ordung ist ... - und mit dem "blue feeling" kommt mir natürlich das breite Aussagespektrum der Musikform "Blues" in den Sinn: Auch die Ambivalenz der Blues-Texte, die oft von den Schwarzen Amerikas als verschlüsselte Sprache gegenüber den Weißen verwendet wird ...
Alle diese hier nur angedeuteten Blauglas-Inhalte zu übertragen auf die Thematik der vergangenen NS-"Euthanasie" und der vielleicht immer noch gegenwärtigen latenten "Euthanasie" - z.B. das jemanden "In-den-Tod-wünschen", das "Ist-mir-doch-egal", die "Empfindungslosigkeit", die "Rache", die "Vernichtung", das "Was-habe-ich-damit-zu-tun-?" usw. sind schon spannend genug - und ich glaube - man muss sich in diese Thematik der Farbe BLAU bei dieser "Trennwand" des Denkmals noch emotional ein wenig tiefer hineinarbeiten - auch bei der Ambivalenz im Blau von "grenzenloser Freiheit" des "Azzurro" bei gleichzeitiger "Blues"-Bedrückung bis hin zur Depression ...
Das Team der Architektin Ursula Wilms zusammen mit dem Künstler Nikolaus Koliusis und dem Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann hat uns da auf den ersten Blick ein fast geradezu simples Mahnmal in die Gedenkkultur Berlins in Bezug auf die NS-Zeit hingestellt ("Was soll das denn sein ...") mit einer gleichzeitig tiefgründigen ambivalenten Mehrbödigkeit - und einem kaum unterscheidbaren "Entweder-Oder" ... - einem kaum zu ertragenen Spannungsbogen - irgendwie zwischen "Tod und Leben" - zwischen "Mord" und "Lebenlassen":
Es ist das, was ich auch oft zurückgespiegelt bekomme von den Gruppen und Schulklassen, denen ich von der Opferbiographie meiner Tante Erna Kronshage berichte: Bitterkeit, Anerkennung, "ein Glück - wenigstens schon lange her" - und manchmal vor lauter Betroffenheit albernes Herumgekichere - um etwas nicht in und an sich herankommen zu lassen ... - und zum Glück geht jeder Vortrag ja auch mal zu Ende ...
Rosen am neuen Dekmal vor der "Blauen Wand" - dpa |