Boston – Die Fotografie zeigt den 8-jährigen Jungen Martin Richard, auf der er ein Plakat hält."Hört auf, Menschen weh zu tun", steht da in krakeliger Schrift. Und darunter groß: "Peace."Am Montag hat ihn eine Bombe zerrissen.
Eine halbe Million Menschen säumt die Straße am Zieleinlauf des Boston-Marathons. Die Zuschauer applaudieren den erschöpften, aber erfolgreichen Sportlern. Auch Martin Richard (8) bejubelt die Läufer.
Dann explodiert plötzlich eine Bombe im Papierkorb und reißt den fröhlichen Jungen in den Tod. Zwei weitere Menschen sterben, viele andere werden schwerst verletzt.
Mit seiner Familie stand Martin am Straßenrand. Martin stirbt, Vater Bill bleibt unverletzt. Der kleinen Schwester (6) reißt die Explosion ein Bein ab. Martins Mutter Denise soll mit schweren Hirnverletzungen im Krankenhaus liegen, twitterte die TV-Reporterin Nancy Chen vom Nachrichtenportal „WHDH.com“.
Irgendjemand hat "Peace" in weißen Buchstaben auf den Bürgersteig geschrieben. Autofahrer bremsen ab, bekreuzigen sich, beschleunigen wieder, manche haben Tränen in den Augen. Nachbarn legen Stofftiere und Blumen an dem blauen Haus im Bostoner Stadtteil Dorchester ab, in dem Martin Richard wohnte.
Ähnlich wie Martins Bild ist diese Gegend mit ihren meist blauen Holzhäusern zum Symbol geworden. Am Abend treffen sich mehrere tausend Menschen auf dem Sportplatz nebenan zur Mahnwache. Sie tragen kleine US-Flaggen, recken Kerzen in die Dunkelheit. Natürlich spricht dort der Pfarrer von Gottes mutmaßlicher Allmacht, aber eigentlich geht es ihm doch mehr um die Solidarität der Menschen: Wie erschöpfte Marathonteilnehmer direkt ins Krankenhaus liefen, um Blut zu spenden. Wie die Leute nach den Explosionen nicht weggelaufen, sondern in die Rauchwolke hineingerannt sind, um zu helfen. Es ist eine zutiefst amerikanische Erzählung. Und sie ist sehr treffend.
Der achtjährige Martin ist eines von drei Todesopfern des Anschlags beim Boston-Marathon - und das erste, dessen Identität öffentlich wurde. Erst später wurde die 29-jährige Restaurantmanagerin Krystle Campbell als weiteres Opfer identifiziert. Die Identität des dritten Toten blieb zunächst unbekannt.
Martin Richard wurde zum Symbol für die Tragödie. "Wir trauern um den kleinen Jungen aus Dorchester", sagte Bostons Bürgermeister Thomas Menino. Martins Mutter Denise und seine siebenjährige Schwester Jane wurden bei dem Anschlag schwer verletzt.
Vater Bill Richard wandte sich am Dienstag an die Öffentlichkeit. "Mein lieber Sohn Martin ist an den bei dem Anschlag erlittenen Verletzungen gestorben", schrieb er in einer E-Mail. "Meine Frau und Tochter erholen sich von schweren Verletzungen. Wir danken unserer Familie und unseren Freunden, denen, die wir kennen, und denen, die wir nie getroffen haben, für ihre Gedanken und Gebete." Richard bat darum, die Familie nicht zu stören, "während wir gleichzeitig trauern und gesunden".
Anders als zunächst berichtet, lief Vater Richard offenbar nicht beim Marathon mit, wie ein Familiensprecher erklärte. Die Eltern und ihre drei Kinder waren demnach im Zielbereich des Rennens, als die Sprengsätze explodierten. Der jüngste Sohn blieb unverletzt.
MARTIN RICHARD | s!NEdi-Bildbearbeitung nach einem Foto von REUTERS |
Dan Aguilar, Nachbar der Familie Richard, sagte dem "Boston Globe", Martin und sein Bruder hätten sehr oft im Garten Fußball, Hockey oder Baseball gespielt. In einer Woche sollte die Baseball-Saison für Martin Richards Nachwuchsteam losgehen. Sein Trainer sagte, der Achtjährige sei sehr reif für sein Alter gewesen.
"Dieser kleine Junge wird nie mehr nach Hause kommen", sagt Nachbar Aguilar. "Ich habe keine Worte. Ich habe keine Worte."
In den vergangenen Stunden ist Martin zum Gesicht des Geschehens von Boston geworden, der Tragödie mit ihren drei Toten und mehr als 170 Verletzten. Sein Foto hat sich über die sozialen Netze verbreitet, das Haus der Familie in Bostons Vorort Dorchester wurde zur Pilgerstätte für Trauernde und Journalisten gleichermaßen. Irgendjemand hat mit Kreide "PeacE" auf die Einfahrt geschrieben. Am Dienstag musste der gesamte Straßenzug von der Polizei gesperrt werden, um der Familie wenigstens ein bisschen Ruhe zu ermöglichen.
In Boston macht zumindest die Vermutung die Runde, es könne vielleicht um die Geschichte der Stadt gehen, weil der Anschlag doch am "Patriot's Day" geschah; weil doch von Boston aus die amerikanische Republik ihren Aufstieg zur Supermacht begann. "Das hier ist Amerika", sagt Tom Nee, Chef der National Association of Police Officers, einer Polizeigewerkschaft: "Und sogar mehr als das: Es ist Boston."
"Diese Feiglinge haben sich den falschen Ort ausgesucht"
Diese Stadt als Essenz Amerikas. Und so lobt Nee am Mittag, nur ein paar hundert Meter vom Tatort entfernt, 50.000 Dollar für Hinweise zur Ergreifung des Täters aus. Eigentlich, sagt er, würde er jetzt heulen: "Aber wenn ich das tue, spiele ich dem Idioten in die Hände, der dieses Verbrechen begangen hat." Nee weint nicht.
Später, bei der Mahnwache auf dem Sportplatz von Dorchester, sagt Anwohnerin Carol Morucci: "Das ist meine Stadt, meine Nachbarschaft, das sind meine Leute." Wenn es darauf ankomme, dann halte man zusammen. Eigentlich, sagt Morucci, würde sie jetzt heulen: "Aber von uns wird das jetzt nicht erwartet - wir sind stark, wir sind Bostoner". Morucci weint nicht.
Boston steht auf, keine 24 Stunden nach dem Attentat. "Wenn diese Feiglinge glaubten, sie könnten diese Stadt in Angst und Schrecken versetzen, dann haben sie sich den falschen Ort ausgesucht", schreibt Ex-Präsidentenberater David Gergen in seinem CNN-Blog über den oder die Täter.
Tatsächlich machen die Bürger den ganzen Tag über in Solidarität. Eine Kaffeekette verteilt Freigetränke für Helfer; ein paar Jugendliche bieten den Polizisten kartonweise Pizza und Wasser an: "Hey, fragt bitte auch alle eure Buddys!" Schon in den ersten Stunden wird derart viel Blut gespendet, dass das Rote Kreuz mitteilt, "dank der Hochherzigkeit" der Bürger seien genügend Reserven vorhanden. Auf Twitter reiht sich unter dem Hashtag #BostonHelp ein Hilfsangebot ans andere, Restaurants bieten kostenloses Essen an, Hunderte offerieren per Google-Sammeldokument private Übernachtungsplätze für Teilnehmer des Marathons.
Zur Mahnwache für den achtjährigen Martin am Abend hat auch Bostons Gesundheitsamt einen Vertreter geschickt. Man müsse füreinander einstehen, sagt der Mann. Wer infolge des Attentats körperliche oder psychische Probleme habe, könne sich jederzeit melden. "Wir als Gemeinschaft", sagt der Mann, "wir sind stark."
Mit Materialien aus SPIEGEL-ONLINE | ulz/Reuters und BILD.DE