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Boston: Die Hatz nach den Tätern - und mein wachsendes Unbehagen ...

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Wachsendes Unbehagen

Gewiss - da hat es ein schreckliches Attentat in Boston gegeben. Es ist furchtbar, dass dabei 3 Menschen ums Leben kamen und fast 200 verletzt wurden. Ja - der lustige Blick des achtjährigen friedliebenden Jungen, der dann am Montag von einer dieser schrecklichen mit Metallsplittern bestückten Bombe zerrissen wurde, den werden wir so schnell nicht vergessen.
Und es ist richtig und wichtig, dass die Welt innehält - es ist richtig, dass die Flaggen in den USA auf Halbmast gesetzt werden - auf dem Capitol-Gebäude und anderswo.

Das alles ist die eine Seite - die andere Seite ist diese öffentliche und stundenlange mediale Berichterstattung und all die völlig überzogenen und unangemessenen Maßnahmen und Kommentare bei der Jagd auf den einen noch übriggebliebenen vermeintlichen Täter, der bis jetzt diese längst an Lynchjustiz erinnernde Hatz überlebt hat.


S!NEdi-photo|graphy



Sein Name ist längst bekannt - und wird völlig ungeschützt weltweit und unauslöschlich angeprangert: Vater, Onkel, Tante, Schwester, Mitstudenten, Nachbarn - alle werden öffentlich zu Stellungnahmen aufgefordert.


Bis zu 10.000 schwerbewaffnete Polizisten jagen diesen einen Verdächtigen, auch mit Hubschraubern und gepanzerten Fahrzeugen. Sein Bruder wurde bereits "auf der Flucht" erschossen. Und der diensthabende Arzt, der dessen Tod festzustellen hatte - und natürlich auch öffentlich interviewt wurde (Stichwort: Ärztliche Schweigepflicht), sprach von "unzählbaren" Schussverletzungen, mit denen dieser verdächtige Bruder und vermeintliche Mittäter "erlegt" wurde.


Fahndungsplakat FBI Boston - Quelle: SPIEGEL-ONLINE



Eine Stadt mit 653.000 Bewohnern erhält Stubenarrest und Ausgangsverbot und der öffentliche Nahverkehr wird gekappt - die Grundrechte all dieser Menschen werden einfach mal so außer Kraft gesetzt - in diesem "freiheitlichsten Staat der Welt".
Ein Stadtteil mit 35.000 Bewohnern wird geradezu hermetisch abgeriegelt - und wird Wohnung für Wohnung durchsucht und durchkämmt - (Stichwort: Durchsuchungsbeschluss / Gefahr im Verzug ? - Stichwort: Unverletzlichkeit der Wohnung) ...

Ich habe mir das auch heute nachmittag so 1-2 Stunden auf n-tv angeschaut: Aber dann wuchs mein Unbehagen ...

Gewiss - man darf Gewalttaten nicht gegenseitig miteinander vergleichen und aufrechnen - das wäre auch unredlich - aber ich spüre in diesem wachsenden Unbehagen auch den Wunsch, an die "Verhältnismäßigkeit der Mittel" zu erinnern - gerade beim Anblick dieser sensationslüsternen Berichterstattung aus Boston und der Sondersendungen auch aller regierungsnahen "seriösen" TV-Programme wie ARD und ZDF, bei denen es auf die Einschaltquote ja gar nicht so sehr ankäme - aber die der "Informationspflicht" aus ihrer Sicht genüge zu leisten haben: 

Warum geben wir bzw. unsere Medien diesem Anschlag solch einen breiten Raum. Haben wir nicht ganz andere, tatsächlich unsere Existenz bedrohende Probleme. Inwieweit ist diese überzogene Berichterstattung wieder ein Teil dessen, was ich mit "Brot & Spiele" in diesem Blog schon so oft beschrieben habe - wenn ich nämlich das Gefühl nicht los werde, als solle damit von etwas anderem - vielleicht viel näherliegenden - "offiziell" abgelenkt werden: 

  • In Europa liegen die Südstaaten wirtschaftlich am Boden. 
  • Die Krise hat schon längst ihre Toten gefordert und wird es weiter tun. 
  • Wie wirkt sich wohl das zusammengebrochene Gesundheitssystem in Griechenland aus? 
  • Wie ist der dramatische Anstieg der Selbstmordraten in Ländern wie Griechenland oder Italien seit Beginn der Krise zu bewerten? 
  • Die EU hat die höchste Arbeitslosenquote seit ihrem Bestehen zu verkraften. 
  • In Deutschland arbeitet ca. ein Viertel der Arbeitnehmer am Rande des Existenzminimums, während die Einkommensspitze in obszöner Weise zulegt usw. 

Und es gibt noch weitere Aspekte, die das Leid der US-Bevölkerung und unsere Betroffenheit darüber in Relation setzen sollte zu anderen Brennpunkten des Leidens in der Welt: 

Hier zum Beispiel der Irak. Dort wurden seit Januar 2013 folgende Anschläge laut SPIEGEL-ONLINE (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) verübt:

  • 15.04.2013: Bei Anschlägen in mehreren irakischen Städten sind mindestens 13 Menschen getötet worden. Zudem wurden bei den Attentaten in der Hauptstadt Bagdad, in Kirkuk, Tus Churmatu, Samarra und Nassirija nach Angaben der Behörden mehrere Dutzend Menschen verletzt.
  • 06.04.2013: Bei einem Anschlag auf eine Wahlveranstaltung im Irak sind nach Polizeiangaben am Samstag mindestens 25 Menschen getötet worden. Rund 60 weitere Menschen seien verletzt worden.
  • 29.03.2013: Drei Autobomben in Bagdad, eine in Kirkuk: Bei einer Anschlagsserie starben mindestens 18 Menschen, etwa 160 Menschen wurden verletzt.
  • 19.03.2013: Bei einer Serie von Bombenanschlägen im Irak sind mindestens 50 Menschen ums Leben gekommen – Ärzten zufolge gab es mehr als 150 Verletzte.
  • 14.03.2013: Schwer bewaffnete Extremisten griffen das Regierungsviertel in Bagdad an. Insgesamt starben bei der Attacke auf das Justizministerium und umliegende Straßensperren am Donnerstag mindestens 18 Menschen. Die Nachrichtenagentur dpa sprach von 23 Toten.
  • 17.02.2013: Bei einer Serie von Bombenanschlägen in der irakischen Hauptstadt Bagdad sind am Sonntag mindestens 28 Menschen getötet und mehr als 80 verletzt worden.
  • 11.02.2013: Bei der Detonation einer Autobombe sind in Mossul mindestens acht Menschen getötet worden. Zugleich erlitten 18 Menschen, darunter Zivilisten, teilweise schwere Verletzungen.
  • 08.02.2013: Bei sechs Bombenanschlägen kamen mindestens 35 Menschen ums Leben.
  • 04.02.2013: Ein Selbstmordattentäter riss nördlich von Bagdad über 20 Milizionäre der Regierung mit in den Tod, als sie ihren Lohn abholen wollten. Mehr als 40 Menschen seien bei dem Attentat in der Stadt Tadschi nördlich von Bagdad verletzt worden.
  • 03.02.2013: Bei einem Anschlag auf das Polizeihauptquartier in der nordirakischen Stadt Kirkuk sind Sicherheitskreisen zufolge mindestens 33 Menschen getötet worden.
  • 23.01.2013: Bei einem Selbstmordanschlag im Norden des Irak sind mindestens 25 Menschen getötet worden, Dutzende wurden verletzt.
  • 16.01.2013: In der Stadt Kirkuk im Norden des Irak haben zwei Selbstmordattentäter 23 Menschen getötet und 220 verletzt.
  • 03.01.2013: Ein Selbstmordattentäter hat am Donnerstag bei einem Anschlag nach Polizeiangaben mindestens 20 schiitische Pilger mit in den Tod gerissen.

Natürlich könnte man darüber diskutieren, inwieweit die USA und ihre Verbündeten (also auch wir) mit ihren Kriegen das blutige Chaos im Irak und in Afghanistan mit befördern oder inwiefern diese Kriege den Terror erst recht in die Welt tragen. 



s!NEdi|photo|montage


Aber vielleicht sollten wir einfach n-tv und die Sondersendungen "Boston-Special" auch einmal abschalten - und innehalten - und mit den friedliebenden Bürgern dieser Länder trauern, die ebenfalls ihr Ausmaß an Gewalt und Tod zu verarbeiten haben - ganz ohne ARD-Brennpunkt - und ZDF-Spezial - und Halbmast auf dem Capitol ...

(mit Materialien aus einer "Anmerkung" zum Boston-Attentat von Orlando Pascheit auf den NachDenkSeiten)


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