aufgedröselt ... |
Die Bahn ist winterfest…
…verkündete der damals gerade aktuelle Bahn-Chef. Das war wie immer vor dem Schnee. Ja, früher war doch etwas besser: Die Züge fuhren auch im Tiefschnee und die Weichen funktionierten sogar bei Minustemperaturen. Vermutlich sind wir alle nur Opfer der alljährlichen Marketing-Kampagne der Deutschen Bahn. Demnach ist Winter ein Ausnahmezustand, der manchmal urplötzlich und unvorhersehbar über uns herein bricht, wenn vereinzelte Schneefälle ein derart gewaltiges Ausmaß annehmen, dass einfach alles vollständig zum Erliegen kommt. Das Erstaunliche daran: Ausfälle im Zugverkehr gab es damals praktisch nie.
Können Sie sich noch an diese Eisenbahnwerbung der Deutschen Bundesbahn erinnern?
"Alle reden vom Wetter - Wir nicht!"
Damals - als der Winter eine ganz normale Jahreszeit und noch keine Katastrophe war ... Früher halt - wovon die älteren Leute heute sagen:"Früher - da hatten wir Winter ... - ich weiß noch als der Bodensee zugefroren war - der Rhein - Schneeberge von November bis April in einem 'Rutsch' - aber die Eisenbahn fuhr ... - es gab praktisch keine Zugausfälle oder Verspätungen ..." ...
Nun - einiges davon muss man sicherlich ins Reich der Fabel verbannen: Es gab auch nach historischen Wetteraufzeichnungen belegt in den Wintern immer - seit vielen Jahrhunderten - ein unregelmäßiges oft extremes Auf und Ab: Wer sich da erinnern möchte - oder überprüfen, kann das im Netz natürlich heutzutage zweifelsfrei: hier und auch hier ...und hier ...
Schnee"chaos" auf der A2 am "Bielefelder Berg" - nach einem Foto von bigge-online.de |
Richtige Winter – Schnee von gestern?
Lassen Sie uns also mal einen Blick auf die Fakten werfen: In den Jahren 1980 bis 1990 hatten wir beinahe ebenso viele Winter mit negativen Durchschnittstemperaturen wie mit positiven (6:5). In den Jahren 2000 bis 2010 waren es fast genauso viele (4:7). Hier einige Beispiele:
Temperaturen
Alle Angaben in ° Celsius, Quelle
Anfang 2011 titelten die Medien: „Werden die Winter in Deutschland immer strenger und härter?“ Der Winter 2010/2011 war tatsächlich einer der kältesten seit der exakten Wetteraufzeichnung überhaupt - überboten nur von einer Kältewelle in den Jahren 1969/1970 (-4,7° C). Der Februar 2012 war im Mittel um 8,2° C zu kalt, der gesamte Winter aber ein durchschnittlicher und eher milder. Insgesamt zeigt die Statistik: Die Winter des vergangenen Jahrzehnts waren denen von früher durchaus ebenbürtig. Und auch der Trend, dass die Winter in den 90ern etwas mildere Temperaturen aufwiesen, scheint in den letzten 10 Jahren gebrochen.
Gehen wir noch weiter zurück: Die Winterstatistik der 1950er Jahre kann die Theorie von den angeblich so strengen Wintern von früher nicht wirklich stützen. Wiederum weisen lediglich vier Winter negative Durchschnittstemperaturen auf, zum Beispiel der von 1955/1956 mit -2,3 Grad. Und auch da war wie so oft nur ein einziger Monat für die niedrigen Durchschnittswerte verantwortlich, nämlich der extrem kalte Februar 1956. So auch in den Jahren 1984/1985 (Durchschnittstemperaturen im Januar: -5,9° C) und 1986/1987 (Januar: -5,5° C). In beiden Wintern wirkte sich ein ganz besonders kalter Januar drastisch auf die Gesamtstatistik aus. Übrigens kam der Winter 1985/1986 trotz eines überaus eisigen Monats Februar (-6,4 Grad) insgesamt durchschnittlich nur auf -0,7° C. Und das lässt Schlüsse auf die milden Temperaturen der übrigen Wintermonate zu.
nach einem NW-Foto von Andreas Frücht |
Die Winter unserer Kindheit
Wenn es also nicht die Winter sind, die schlechter geworden sind, dann vielleicht unser Gedächtnis? Ja, wie war das eigentlich damals? Ich erinnere mich doch noch ganz genau an die Winter meiner Kindheit: Monatelang bibberten wir bei klirrender Kälte in unseren ausgekühlten Wohnstuben und wärmten unsere klammen Hände bei Kerzenlicht am knisternden Herdfeuer. Die Fenster waren mit bizarren Eisblumen verziert und der Schnee wurde überhaupt erst erwähnenswert, wenn er sich hoch aufgetürmt hatte. Morgens, wenn man dick eingemummelt das Haus verließ um mit der Bahn in die Schule zu fahren, musste man sich in Acht nehmen, um nicht von herabfallenden Eiszapfen erschlagen zu werden und so manche gewaltige Schneelawine, die vom Dach polterte, begrub die auf der Straße parkenden Autos unter sich. Nicht selten war gar das öffentliche Leben fast gänzlich zum Stillstand gekommen. Zum Glück hatten wir uns rechtzeitig bevorratet.
Die Erinnerung ist ein starker Filter und sehr subjektiv, will heißen: von Emotionen geprägt. Was uns gerade in der Kindheit besonders bewegt und beeindruckt bekommt im Gehirn eine Größenordnung, die mit den trockenen Fakten am Ende nicht mehr allzu viel zu tun hat. Und extreme Erlebnisse werden gerne verallgemeinert. Es ist ein wenig wie beim Jäger- und Angler-Latein: Die Beute wird mit jeder Erzählung imposanter, die Herausforderung größer. Wir speichern nicht das Schmuddelwetter an 75 Wintertagen, sondern die 15 frostigen Eistage des Jahres mit den gewaltigen Schneemassen ab. Wir erinnern uns an Schneeburgen, Schneeballschlachten und Schneemänner, an die Freuden des Wintersports und unsere ersten vorsichtigen Schritte auf dem knirschenden Eis.
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Auch ein NDR|Kultur-NachDenker-Kommentar befasst sich mit den alltäglich von den Medien durchs globale Dorf getriebenen "Katastrophen":
Unsere tägliche Katastrophe
Von Alexander Solloch | NDR|kultur-NachDenker
Vor einigen Jahren war die Lage schon einmal so schlimm, da schneite es in Nordrhein-Westfalen. Das Fernsehen brachte ständig Sondersendungen und schaltete zu aufgeregten Reportern, die irgendwo waren, wozu man "vor Ort" sagen konnte und wo sich jedenfalls schreckliche Dinge abspielten.
Der dramatische Höhepunkt war die Schalte zu einem Korrespondenten am Kölner Hauptbahnhof, der vor Ort feststellte, die Schneeflocken wüteten so verheerend, dass heftige Verspätungen im Zugverkehr die Folge seien. Der Kameraschwenk zur Anzeigetafel sollte die Dramatik der Situation verdeutlichen: Regionalbahn nach Emmerich - 10 Minuten verspätet, ICE nach Hamburg-Altona - 15 Minuten verspätet, S-Bahn nach Leverkusen-Mitte - 5 Minuten verspätet. Wie an jedem anderen Tag auch. Aber dramatisch war's, kein Zweifel. Ein Monster-Schneefall, gewissermaßen.
Unsere tägliche Katastrophe gib uns heute
Diese Woche war's also der "Monster-Blizzard", der, wie uns die Nachrichten vorsorglich ankündigten, zunächst New York verwüsten und dann, mit einstweilen noch unbekanntem Ziel, anderswo weitermachen würde. Man wüsste gern, ob die Sondersendungsmacher - und ihre potentiellen Zuschauer - hinterher nicht im allertiefsten Inneren ein ganz kleines bisschen enttäuscht darüber waren, dass sich der Monster-Schneesturm dann doch eher nur als so bösartig wie ein Krümelmonster erwies.
S!NEDi|photo|graphic nach einem Videostill von faz-net |
Dass gleichzeitig aber Babys in eingeschneiten, völlig vereisten libanesischen Flüchtlingslagern erfrieren - Libanon, genau, das ist das Land, das seit Jahren, obwohl es komplett überfordert damit ist, Hunderttausende von syrischen Flüchtlingen aufnimmt, ohne den Untergang des Morgenlands zu beklagen -, dass diese armen Geschöpfe keine Rettung finden, macht uns nicht so arg schaudern, weil wir ja ganz in Beschlag genommen sind von unserer großen lustvollen Angst vor den Katastrophen, die unser geliebtes Abendland bedrohen.
Griechenland im Bankrott, Europa in Währungsturbulenzen
Letztes Wochenende, am Tag vor der griechischen Parlamentswahl, zeichnete die "Süddeutsche Zeitung" ein eindringliches Bild vom bevorstehenden Ungemach. Neuerdings will die "Süddeutsche Zeitung" am Wochenende keine Tageszeitung mehr sein, sondern eher ein süffiges Meinungs- und Einordnungs-Blatt, dergestalt dass man vor lauter Einordnung die Nachricht nicht mehr erkennt. So wiesen die Einordner schaurig-wohlig auf die katastrophalen Konsequenzen eines Wahlsiegs der griechischen Linken von Alexis Tsipras hin: Griechenland würde in den Bankrott taumeln, Europa in unabsehbare Währungsturbulenzen, in Deutschland wäre die Machtergreifung der AfD gleichsam nur noch eine Frage der Zeit, und Europa würde unter einem gewaltigen Schneesturm für immer versinken. Nein, stimmt nicht… das mit dem Schnee stand da nicht, dafür war kein Platz mehr.
Klugheit der Kinder
Und nun? Nun haben die Griechen nicht das von ihnen erwartete Wohlverhalten gezeigt, weil sie es komischerweise nicht ganz so befriedigend fanden, dass ein großer Teil der einst gesunden Mittelschicht inzwischen völlig verarmt ist und die Reichen munter reich bleiben dürfen. Während Europa kein Problem damit hat, dass EU-Mitglied Ungarn von Rassisten regiert wird - jedenfalls kein Problem, das irgendwie zum Handeln zwänge - , schimpft man die Griechen nach dem unerwünschten Wahlergebnis "infantil" und beweist damit doch nur, wie wenig man von der Klugheit der Kinder versteht.
Wir leben in Frieden und in Freiheit und haben ganz schön dicke Bäuche. Braucht's da zur Abwechslung immer mal wieder ein kleines bisschen Katastrophe? Oder wollen wir uns nicht ausnahmsweise von der Literatur besänftigen lassen? Zum Beispiel von Alan Alexander Milne:
Eines Tages gingen Pu der Bär und sein Freund Ferkel durch den sturmumtosten Wald. "Angenommen, ein Baum fällt um, Pu, wenn wir direkt darunter stehen?" fragte Ferkel besorgt. Nach gründlichem Nachdenken antwortete Pu: "Angenommen, er fällt nicht um."
Mit Materialien aus: Link und Link
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... und noch ein Kommentar "zum Thema" - diesmal aus der taz:
Kommentar Blizzard-Aufregung USA
Die UNO hat zu
Wenn der Schnee kommt in den USA, läuft der Live-Ticker. In den Bergen des Libanon liegen Babys erfroren am Boden. Ohne Live-Bilder.
Und wieder schlägt die Natur mit alttestamentarischer Grausamkeit zu. Ein Blizzard bedroht die amerikanische Ostküste. Die Basketball-Partie zwischen den Brooklyn Nets und den Portland Trail Blazers wurde abgesagt. Andrew Cuomo, der sich als Gouverneur mit dem Wagemut eines Scholl-Latour gepaart mit dem Kameradengeist eines Luis Trenker wild entschlossen den Flocken am Times Square entgegenstellt, verkündet: „Es könnte eine Frage von Leben und Tod sein.“
Die USA haben den Kommunismus besiegt, Saddam Hussein verjagt, Osama bin Laden gekillt, aber wenn der Schnee kommt, kann der Navy Seal nur hilfslos zuschauen. Die schlimmsten Ahnungen des Nostradamus werden wahr: „Wenn der Schnee kommt, schneit es.“ Oder so ähnlich.
Zwei Babys, denen die Eiseskälte die Haut zerfetzt hat, liegen tot am Boden. Die Leiche einer Zehnjährigen kann nur mit Mühe geborgen werden, weil sie am Boden festgefroren ist. Im Zelt. Diese Schreckensbilder stammen aber nicht von der amerikanischen Ostküse, sondern aus den Bergen des Libanon. Live-Bilder sehen wir davon nicht. Denn es sind nur Flüchtlinge aus Syrien. Hilfslos im Kampf gegen einen echten harten Winter mit meterhohem Schnee.
aus einem (c) ovb-Foto |
Hilfsgüter kommen nicht an. Denn Hilfsgüter waren auch gar nicht vorgesehen. Die Welt hat sie vergessen. Zwei Millionen Menschen im Libanon. Und weitere 8 Millionen, die verstreut sind als Binnenflüchtlinge innerhalb Syriens und in den Anrainerstaaten, schlimmstenfalls auf einem führerlosen Schlauchboot zwischen Beirut und Lampedusa. Denn die UNO hat zu.
Windstärke 7. Abartig
Als am Montag am obersten Fenster im UN-Wolkenkratzer in New York eine Schneeflocke angeklatscht ist, wurde schnellstens das Gebäude geschlossen. Seitdem läuft der LIVE-Ticker. Sekündlich die Schneehöhe an der Ostküste, als rote Eilmeldung über den Flachbildschirm rasend. Blizzard, das heißt: Sichtweite unter 400 Meter. Hui! Dauer drei Stunden. Irr! Windstärke 7. Abartig. Und Flüge fallen aus, was sich auf die Börsenkurse auswirkt. Wenn noch Hagel kommt, ist die Welt sicher vernichtet. Ja, in den USA könnte man sich schützen mit Soft Shell Jackets und Flexitex mit Innenfütterung. Dazu Mütze, Schal und Winterstiefel. Und wenn es ganz arg stürmt und pfeift, geht man eben heim.
Syrische Flüchtlinge können das nicht. Seit 2011 herrscht Elend in unvorstellbarem Ausmaß. Helfer vor Ort sind verzweifelt: eine humanitäre Katastrophe hätten sie vor zwei Jahren gehabt. Für den jetzigen Zustand gäbe es in der menschlichen Sprache keine Ausdrücke mehr. Es ist aber auch zuviel verlangt, bei Aleppo an Schneesturm zu denken. Die zerbombte Wirtschaftsmetropole Syriens hat gefälligst, wenn überhaupt, unter Sandsturm zu leiden. Hitzschlag, nicht der Schneetod, steht für das Syrien-Klischee.
Ein junger Mann fragt: „Hey, wollt Ihr Stalingrad drehen? Das ist in Aleppo perfekt.“ Die Menschen hausen in Kellern, es hat unter Null Grad, und der Hunger ist quälend. Draußen schlagen Granaten ein, Faßbomben und Mittelstreckenraketen. Die Kinder erschrecken schon lange nicht mehr. Achja, Fleecejacken und Fellstiefel sind gerade nicht verfügbar.
Nicht mal ein humanitärer Trampfelpfad
Auf jeder deutschen Autobahn mahnt man zur „Rettungsgasse", für die Menschen in Syrien gibt es nicht einmal einen humanitären Trampelpfad. Ein belagertes Stadtviertel in Homs wird seit acht Monaten von jeglicher Hilfe abgeschnitten. Betroffen sind alleine dort über 200.000 Menschen. Keine Islamisten, Mörder, kriminelle Kaukasier. Syrische Normalos.
Eine Frau schaut im Libanon auf ihr Flüchtlingszelt, das unter der Schneelast gerade zusammen gebrochen war. Einen Nachbarn hat der Balken in seinem Zelt erschlagen. Sie sagt, früher hat sie in Syrien auch oft Schnee geschaufelt. Vor der Anwaltskanzlei ihres Mannes. Wenn sie aus der Uni kam, wo sie unterrichtet hatte. Jetzt hat sie nichts mehr. Keinen Mann, keine Arbeit, keine Heimat.
Ein Kind hat sie noch. Das hält ängstlich ihre Hand umklammert. Sie stehen im tiefen Schnee, das Kind ist barfuß. Syrische Flüchtlinge sagen: „Wir beten jeden Tag zu Gott, dass er uns ein Erdbeben schickt. Dann hätten wir morgen Hilfe. Aber wir haben nur einen Krieg.“
Skulptur vorm UNO-Gebäude - nach einem Foto von chris-on-the-bike.de/ |