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Sarah Kirsch ist tot
Die Schriftstellerin, Malerin und "Lyrikerin der großen Gefühle" starb bereits am 5. Mai im Alter von 78 Jahren nach kurzer, schwerer Krankheit in Schleswig-Holstein. Das teilte die Deutsche Verlags-Anstalt am Mittwoch in München mit.
Kirschs rätselhaft einfache Naturgedichte waren alles andere als naive Landschaftslyrik. Sie schildern Seelenzustände, waren voller hintergründiger Finesse und politischer Anspielungen. Auf Grammatik und Zeichensetzung pfiff Kirsch und bot Spott und Trotz im Schnodderton.
Die Natur findet sich auf der einen Seite in ihrem Hervorbringen des Lebens und die menschliche Gesellschaft im Hervorbringen von Bedrohung und Vernichtung. Bezeichnend ihr Gedicht "Bäume", auch für ihren widerständigen Humor:
„Mit ihrem poetisch trockenen Stil wird die Trägerin des Georg-Büchner-Preises von 1996 auch über ihren Tod hinaus eine moderne Klassikerin der Literatur bleiben”, würdigte Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) die Lyrikerin. Kirsch habe nicht nur mit ihrer Sprache für Demokratie und Menschenrechte gekämpft. Als Beispiel nannte er etwa ihren „mutigen Protest” gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR.
Bäume
Früher sollen sie
Wälder gebildet haben und Vögel
Auch Libellen genannt kleine
Huhnähnliche Wesen, die zu
Singen vermochten, schauten herab.
„Mit dem Tod Sarah Kirschs verlieren wir, verliert die deutschsprachige Literatur eine ihrer wichtigsten, eigenwilligsten und poetisch kraftvollsten Stimmen”, sagte DVA-Verlagsleiter Thomas Rathnow.
„Sarah Kirsch war eine der großen Lyrikerinnen unserer Zeit und eine ausdrucksstarke Persönlichkeit. Ihre Poesie und ihr Leben waren geprägt von emotionalen Momenten und großer Leidenschaft”, erklärte Thüringens Kulturminister Christoph Matschie (SPD) in Erfurt. Als wortstarke Schriftstellerin habe sie diese Leidenschaft zu DDR-Zeiten genutzt, um offen gegen die Willkür des SED-Regimes zu protestieren. „Sarah Kirsch und ihre gefühlsbetonte Poesie bleiben fest in unserer Erinnerung.”
"Zaubersprüche" hieß der Gedichtband, der Sarah Kirsch in der DDR 1973 zu einer mächtigen Lyrikerin machte.
"Nachricht aus Lesbos" hieß einer der bekanntesten Texte darin:
Die Distanzierung einer Frau von den in ihrer Welt herrschenden Überzeugungen bezog jeder Leser sofort von der Antike auf die sozialistische Gegenwart.
Ich weiche ab und kann mich den Gesetzen
Die hierorts walten länger nicht ergeben:
Durch einen Zufall oder starren Regen
Trat Wandlung ein in meinen grauen Zellen
Ich kann nicht wie die Schwestern wollen leben.
Kirsch wurde 1935 in Limlingerode/Harz als Tochter eines Fernmeldemechanikers geboren, studierte Biologie und Literatur. Als sie sich 1976 in der DDR den Protesten gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann anschloss, wuchs der staatliche Druck und Kirsch siedelte 1977 von Ost- nach West-Berlin über.
Anfang der 80er Jahre zog sie in ein altes Schulhaus hinterm Deich in Tielenhemme in Dithmarschen (Schleswig-Holstein). Dort lebte sie bis zu ihrem Tode sehr zurückgezogen als freie Schriftstellerin und Malerin. Kirsch habe die Schönheit und den Reiz ihrer Wahlheimat in die Welt hinausgetragen, sagte Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig (SPD).
Interviews gab Kirsch nur selten: „Die Leute sollen meine Gedichte gern haben und mich möglichst in Ruhe lassen”, sagte sie 1996 den „Stuttgarter Nachrichten”. Die Themen Liebe, Trennung und Einsamkeit bestimmten ihr Werk. „Meine Grundhaltung ist wohl doch die Melancholie”, erklärte Kirsch einmal über sich selbst. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki pries einst ihre „Lyrik der großen Gefühle und der mächtigen Leidenschaften” - und nannte sie "Drostes jüngere Schwester"...
Eines ihrer bekanntesten Gedichte gilt der Droste. Ihr hat sie die schönste Hommage gewidmet, die dem westfälischen Fräulein, der Naturdichterin und der Liebenden je zuteil wurde.
Der Droste würde ich gern Wasser reichenhebt Sarah Kirschs Gedicht an. Ein Gedicht, das wie vom Widerschein des Meersburger Turmzimmers durchglänzt ist.
In alte Spiegel mit ihr sehen, Vögel
Nennen ...
Für ihr dichterisches Werk wurde Kirsch mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Georg-Büchner-Preis, dem Jean-Paul-Preis, dem Peter-Huchel-Preis sowie dem Johann-Heinrich-Voß-Preis.
„Einen besonderen, einen einzigartigen Platz” habe sich Kirsch in der deutschen Literatur verdient, stellte der Literaturwissenschaftler Joachim Kaiser schon vor vielen Jahren fest. Zu Kirschs Veröffentlichungen zählten der erfolgreiche Lyrik-Band „Katzenleben” (1984), die von ihr als „Chronik” bezeichnete Prosa „Allerlei-Rauh” (1988) und der selbst bebilderte Band „Spreu” (1991). Noch im vergangenen Jahr erschien „Märzveilchen”.
Geboren wurde Kirsch am 16. April 1935 als Ingrid Hella Irmelinde Bernstein. 1960 nannte sie sich aus Protest gegen die Massenvernichtung der Juden in der Nazi-Zeit Sarah.
Im gleichen Jahr heiratete sie den Lyriker Rainer Kirsch und publizierte 1965 mit ihm gemeinsam den ersten Gedichtband „Gespräche mit dem Saurier”. Die Ehe hielt nur bis 1968. Vater ihres 1969 zur Welt gekommenen Sohnes Moritz war der Schriftsteller Karl Mickel.
Die Hamburger Autorenvereinigung würdigte Kirsch als „hervorragende Schriftstellerin”. Die deutsche Literaturszene müsse in Zukunft auf eine Frau verzichten, die Zeit ihres Lebens im besten Sinne streitbar gewesen sei, vor allem gegen Diktaturen, sagte der Sprecher Peter Schmidt. Der Lyriker Uwe Kolbe erklärte im Deutschlandradio Kultur, Kirsch sei „DIE große Stimme des Gedichts” gewesen. Diese Stimme sei aber nicht verstummt, sondern werde jetzt einfach auf eine andere Art gelesen.
Drachensteigen. Spiel für große EbenenIn solchen Versen erkannten sich auch im Westen all jene wieder, die den Verlust der Utopien beklagten und in der Kunst und der Poesie einen Ausweg aus allzu prosaischen Verhältnissen suchten.
ohne Baum und Wasser.
Im offenen Himmel
Steigt auf
Der Stern aus Papier, unhaltbar
Ins Licht gerissen, höher, aus allen Augen
Und weiter, weiter
Uns gehört der Rest des Fadens, und daß wir dich kannten.
Mit dem Boom an schlechter Seelenbeichtenpoesie jener Jahre hatte Sarah Kirsch zugleich rein gar nichts zu tun. Sie kam aus der handwerklich höchst kompetenten "Sächsischen Dichterschule" rund um den heute fast vergessenen Georg Maurer, eine lose Gemeinschaft hoch talentierter Lyriker wie Volker Braun, Heinz Czechowski, Bernd Jentzsch, Helga M. Novak, oder ihre zeitweiligen Lebensgefährten Rainer Kirsch und Karl Mickel. Die Auseinandersetzung mit der Tradition gehörte hier ohnehin zum Standard.
Die Mehrdeutigkeit, zwangläufig eingeübt unter den Bedingungen der Zensur, blieben Markenzeichen dieser Gedichte, ein unverwechselbarer Sound, in dem Naturzyklen, Seelen- und Weltzustand eine untrennbare Verbindung eingehen. Dazu eine unverrätselte, scheinbar schlichte, manchmal fast lakonische Sprache, die ohne Zeilensprünge und mit ihren seltenen Reimen kaum als Gedicht wahrzunehmen ist, obwohl sie äußerst rhythmisiert ist.
Von Sarah Kirsch stammen einige der schönsten und ausgelassensten Liebesgedichte deutscher Sprache, das frühe "Dann werden wir kein Feuer brauchen" etwa oder "Die Luft riecht schon nach Schnee", das mit den Zeilen endet:
Der Winter war zweifellos ihre Jahreszeit, immer wieder beschreibt Sarah Kirsch die bedrohliche Erstarrung des Lebens, die doch den Keim der Erneuerung schon in sich trägt. Dazu passen die von ihr oft bereisten Landschaften Nordeuropas, nachzulesen etwa in den Skandinavien-Gedichten des Bandes "Erlkönigs Tochter" von 1992 oder dem Prosaband "Islandhoch". In den letzten Jahren erschienen fast nur noch, aber dafür mit schöner Regelmäßigkeit, Tagebuchnotizen, zuletzt 2012 "Märzveilchen", wie fast alle ihre Werke in der Deutschen Verlags-Anstalt.
Schnee fällt uns
mitten ins Herz, er glüht
Auf den Aschekübeln im Hof Darling flüstert die Amsel.
Sarah Kirsch | Abschiednehmen | Aquarell | 1995 | 13 x 12 | Galerie Hoeppner, Essen |
Ein Gedicht aus Sarah Kirschs Sammlung "Erlkönigs Tochter":
Nördlicher Juni (1982)
Die Nächte haben ihre..................................................
Eigenschaften verloren:
Weiße Stufen die
Horizonte mit
Rostroten Tüchern.
Wer hier hinaufspringt
Kann glücklich werden.
Dreimal rufe ich dich aber
Du bist nicht
Auf Erden.
Ein Gedicht aus Sarah Kirschs Band "Katzenleben"
Die Entrückung (1984)
Die Sonne schleudert unbarmherzige Hitze
Dem Grabenden auf den gebeugten Rücken
Flüche hört er verschollner Gestalten
Den uralten Kuckuck und das Gewese
Der frommen einfältigen Lerchen er sieht
Im weißen brechenden Licht
Wolkenlos Gottes Thron, auf den Stufen
Die heiligen Ackerpferde stehn
Die nun allerorts fehlen.
Mit Materialien aus: BILD.de | SPIEGEL-ONLINE|sha und http://www.zeit.de/kultur/literatur/2013-05/nachruf-sarah-kirsch-kuhlbrodt, Galerie Hoeppner, Essen,
http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article116428366/Sarah-Kirsch-die-Erneuerin-deutscher-Naturlyrik.