Zum Tode von Sarah Kirsch:
Legende über Lilja (1966)
Sarah Kirschs „Legende über Lilja“ erzählt von dem polnischen Mädchen, das sich weigert, die anderen KZ-Insassen zu verraten. Das Gedicht entstand vor dem Hintergrund der Auschwitz-Prozesse.
Mich erinnert es vom Duktus her an Paul Celans "Todesfuge" - mit diesen ab und zu auftretenden eigenartig stakkatohaften Rhythmen in den Zeilen und den kurzen zackigen Befehlen (z.B. der Mann mit dem Hund und dem Totenkopf am Kragen: ... "Schlag mit der Peitsche: den Namen!" ... "brüllte befahl: genug!"...) - so wie ich mir wenigstens die klackernden marschierenden Stiefelabsätze und das Gebaren und Gebrüll der SS-Schergen dort im KZ vorstelle ...
Ansonsten ist der Ton in der "Legende" unterkühlt, kommentierend, beobachtend - aber wechselt dann plötzlich unvermittelt die Perspektive in einen inneren Monolog Liljas ("nun brauch deine Augen Lilja - befiehl den Muskeln dem Blut Sorglosigkeit - hier bist du oft gegangen - kennst du jeden Stein jeden Stein") - Aber insgesamt wird auch klar, dass die Gerichte bei den NS-Prozessen recht großzügig vorgehen: Was 20 Jahre nach dem Horror bei den Zeugenaussagen nicht mehr 100-prozentig zusammenpasst - und "unsachlich/unjuristisch" - eben fast lyrisch und emotional von den späten Zeugen formuliert wird ("ihr Gesicht ging vorbei - sie hätten gezittert") - wird vor solcher Art Gerichte eben als "Legenden" abgetan, wird aus den Anklagen gestrichen ...
Sarah Kirsch komponiert diese "Legende" noch zu ihrer DDR-Zeit - und neben der Kritik an der laschen Anklage-Praxis bei den NS-Prozessen in der BRD - wird da ja gleichzeitig die DDR mitkritisiert, die es ja mit der Aufarbeitung der NS-Zeit nicht so sehr genau nahm - und eigentlich grandios schwieg - bei doch sonst so gekonnten Klassenkampf-Parolen ...
1
ob sie schön war ist nicht zu verbürgen zumal
die Aussagen der überlebenden Lagerbewohner
sich widersprechen schon die Farbe des Haars
unterschiedlich benannt wird in der Kartei
sich kein Bild fand sie soll
aus Polen geschickt worden sein
2
im Sommer ging Lilja barfuß wie im Winter und schrieb
sieben Briefe
3
sechs drahtdünne Röllchen wandern
durch Häftlingskittel übern Appellplatz kleben
an müder Haut stören den Schlaf erreichen
den man nicht kennt(er kann nicht
Zeuge sein beim Prozeß)
4
das siebente gab einer gegen Brot
5
Lilja in der Schreibstube Lilja unterwegs Lilja im Bunker
Schlag mit der Peitsche den Namen warum sagt sie nichts
wer weiß das
warum schweigt sie im August wenn die Vögel
singen im Rauch
6
einer in Uniform Totenkopf am Kragen Liebhaber
alter Theaterstücke (sein Hund mit klassischem Namen) er fand
man sollte ihre Augen reden lassen
7
Durch die gefangenen Männer wurde eine Straße gemacht
eine seltsame Allee geplünderter Bäume tat sich da auf
hier sollte sie gehen und einen verraten
8
nun brauch deine Augen Lilja befiehl
den Muskeln dem Blut Sorglosigkeit hier bist du oft gegangen
kennst du jeden Stein jeden Stein
9
ihr Gesicht ging vorbei
sagten die Überlebenden sie
hätten gezittert Lilja wie tot ging ging
bis der Mann dessen Hund Hamlet hieß
brüllte befahl genug
10
seitdem wurde sie nicht mehr gesehen
11
andere Zeugen sagten sie habe auf
ihrem Weg
alle angelächelt sich mit den Fingern gekämmt
sei gleich ins Gas gekommen - das war
über zwanzig Jahr her -
12
alle sprachen lange von Lilja
13
die Richter von Frankfurt ließen im Jahr 65 protokollieren
offensichtlich
würden Legenden erzählt dieser Punkt
sei aus der Anklage zu streichen
14
in dem Brief soll gestanden haben wir
werden hier nicht rauskommen wir haben
zu viel gesehen
....................................................
Legende über Lilja - Gedichtvisualisierung - YouTube - unterwaterfish - Clip von Michelle & Nadine 9G1