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erinnerungsgespür

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Holocaust-Stelenfeld in Berlin - Foto: Bundesregierung


Muss Erinnerung Pflicht sein?

Angesichts der antisemitischen Vorfälle in Deutschland wird über Pflichtbesuche von Schülern in KZ-Gedenkstätten debattiert

Der Zentralrat der Juden in Deutschland fordert es schon länger. Doch die meisten Bundesländer möchten die Entscheidung über den Besuch in Gedenkstätten weiterhin den Lehrern überlassen.

RICARDO TARLI, BERLIN | NZZ

Kurz nachdem Felix Klein, der neue Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, sein Amt Anfang Mai angetreten hatte, äusserte er sich in einem Fernsehinterview zustimmend zur Forderung nach Pflichtbesuchen von Schülerinnen und Schülern in KZ-Gedenkstätten. Damit hat der Antisemitismusbeauftragte die Diskussion um verpflichtende Besuche von KZ-Gedenkstätten neu entfacht. Die Debatte war Anfang Jahr von der Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli angestossen worden. Jeder, der in Deutschland lebe, solle verpflichtet werden, mindestens einmal eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen, sagte die Sozialdemokratin im Januar in einem Zeitungsinterview. Das gelte auch für Zuwanderer. Chebli, Tochter palästinensischer Flüchtlinge, schlug vor, Gedenkstättenbesuche zum Bestandteil von Integrationskursen zu machen.

Mit dieser Forderung verbunden ist die berechtigte Hoffnung, dass antijüdisch gesinnte Einwanderinnen und Einwanderer als auch geschichtsvergessene Deutsche die katastrophalen Folgen eines ungehemmten und mörderischen Rassenwahns und Antisemitismus ungeschönt und authentisch vor Augen geführt bekommen. Das Verständnis für die historische Verantwortung Deutschlands, die Erinnerung an den Völkermord an den europäischen Juden wachzuhalten, würde so gefestigt.

Die Forderung nach Pflichtbesuchen in KZ-Gedenkstätten für Schülerinnen und Schüler ist nicht neu; der Zentralrat der Juden in Deutschland fordert dies seit mehreren Jahren. Angesichts der in jüngster Zeit in Deutschland zu beobachtenden Häufung antisemitischer ­Vorfälle hat das Anliegen wieder mehr Beachtung gefunden.

Blumen an der "Blauen Wand" - Mahnmal für die Opfer der "Euthanasie" in Berlin


Gründliche Vorbereitung

In den meisten Bundesländern und in Fachkreisen stösst der Vorschlag jedoch auf Ablehnung. Besuche von Gedenkstätten werden zwar generell als sinnvolle Ergänzung des Unterrichts betrachtet. Trotzdem will die grosse Mehrheit der Bundesländer die Entscheidung weiterhin den Schulen und den Lehrerinnen und Lehrern überlassen und setzt auf Freiwilligkeit, wie eine im Januar durchgeführte Umfrage des Evangelischen Pressedienstes bei den Bildungs- und Kultusministern der Länder ergeben hat.

Auch Günter Morsch, Direktor der Stiftung Brandenburgischer Gedenkstätten, hegt Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit von verpflichtenden Besuchen von KZ-Gedenkstätten. Viel entscheidender sei eine gründliche Vor- und Nachbereitung im Unterricht: «Ich stelle immer wieder fest, dass viele Schüler mit einem sehr geringen Vorwissen KZ-Gedenkstätten besuchen», sagt der Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen. «Dies kommt einer Überforderung gleich und kann dazu führen, dass sich die Schüler dem Thema in Zukunft verschliessen.»

Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, teilt diese Ansicht. Freiwilligkeit sei eine Voraussetzung dafür, dass sich die Jugendlichen mit Motivation und innerer Bereitschaft mit diesem schwierigen Thema auf eine fruchtbare Weise auseinandersetzen könnten. Alles andere würde erfahrungsgemäss eine Abwehrhaltung erzeugen, ist der Gymnasiallehrer und Schulleiter überzeugt.

Schlussstrich ziehen?

Die Frage nach der richtigen Form des gemeinsamen Erinnerns erhitzt mitunter die Gemüter, nicht nur wenn der Thüringer AfD-Chef Björn Höckes eine «erinnerungspolitische Wende um 180 Grad» fordert. In Niedersachsen soll auf der ehemaligen NS-Propagandastätte am Bückeberg bei Hameln ein Gedenk- und Lernort errichtet werden. An diesem Ort feierten die Nationalsozialisten die sogenannten Reichserntedankfeste. Im März gab der Kreistag des Landkreises Hameln-Pyrmont zwar grünes Licht. Zuvor hatte eine örtliche Bürgerinitiative mit einer Unterschriftensammlung aber versucht, das Projekt zu Fall zu bringen. Rund 2000 Bürgerinnen und Bürger der betroffenen 10 000-Seelen-Gemeinde Emmerthal hatten sich gegen das Vorhaben ausgesprochen.

«Da Antisemitismus und 
Rechtspopulismus eine neue Qualität 
erreicht haben, müssen nun auch 
Gedenkstätten ihre Stimme erheben.»

Günter Morsch
Leiter von mehreren Gedenkstätten

Die grosse Koalition hat sich die Unterstützung von Gedenkstätten im In- und Ausland auf die Fahne geschrieben, ausdrücklich unter Hinweis auf das Gedenken an beide Diktaturen auf deutschem Boden, das Dritte Reich und das SED-Regime. Ein Schwerpunkt liege auf der Förderung pädagogischer Arbeit, um dem wachsenden Antisemitismus entgegenzuwirken, heisst es im Koalitionsvertrag. Gleichzeitig geht es darum, die Toleranz und das Demokratieverständnis zu stärken, dies auch im Zusammenwirken mit Zeitzeugen. Bei den Grünen und der SPD gibt es Bestrebungen, eine bundesweite Stiftung zur Förderung von NS-Gedenkstätten und Erforschung des Nationalsozialismus ins Leben zu rufen. Als Vorbild dazu dient die 1998 gegründete Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Doch wie sollen die rund 300 NS-Gedenkstätten als zentrale Orte einer kritischen nationalgeschichtlichen Erinnerungskultur auf den zunehmenden Antisemitismus sowie auf geschichtsrevisionistische Tendenzen in Politik und Gesellschaft reagieren? Die Forderung nach einer stärkeren Einmischung in die politische Debatte steht im Raum. In der Vergangenheit haben sich Gedenkstätten bei aktuellen Fragen eher zurückgehalten, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, dass die Geschichte als Argumentationshilfe für politische Auseinandersetzungen herangezogen wird und die Opfer dadurch instrumentalisiert werden.

Licht-/Namensband der 1.017 Deportationsopfer der Gauheilanstalt Gütersloh in der Klinikkirche


Eine offensivere Rolle?

Nun zeichnet sich ein Paradigmawechsel ab. «Da wir erleben müssen, dass Antisemitismus und Rechtspopulismus eine neue Qualität erreicht haben, sind alle aufgefordert, dagegen ihre Stimme zu erheben, auch und gerade die Gedenkstätten», sagt Günter Morsch, der altershalber abtretende Leiter von ­mehreren Gedenkstätten. Gedenkstätten sollten die Debatte darüber mitgestalten, was Menschenwürde heutzutage angesichts von Flucht und Terror bedeute, fordert Habbo Knoch. Er ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Köln und war Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische ­Gedenkstätten. «Gedenkstätten erinnern daran, wohin es führen kann, wenn ein rassistisch definiertes ‹Volk› zum alleinigen Massstab der Politik wird.» Daraus erwachse für diese Orte und ihre Leitung eine besondere Verantwortung, öffentlich Stellung zu nehmen, wenn die ethischen Grundlagen unseres politischen Bewusstseins angegriffen würden.

Harald Schmid, Vorstandsmitglied im Forum der Landesarbeitsgemeinschaften der Gedenkstätten, Erinnerungsorte und -initiativen in Deutschland, plädiert generell für mehr Gegenwartsbezug in der Bildungsarbeit, um die Rolle und Bedeutung der Gedenkstätten als gesellschaftlichen Akteur aufzuwerten. So könne einer «Musealisierung» der Gedenkstätten entgegengetreten werden. Angesichts wachsender antisemitischer Tendenzen gibt es in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz Überlegungen, Gedenkstättenbesuche in den Lehrplänen verbindlich festzuschreiben.

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schullehrkräfte legen gern den besuch von gedenkstätten - wenn es denn schon sein muss - an den schluss eines schuljahres - oft sogar direkt vor die ferien - eben wenn der "eigentliche" unterrichtsstress abgeschlossen ist - und man sich selbst auch nicht mehr auf jede stunde vorbereiten muss und will ...

das jedoch ist mir ein zu "profihafter" umgang mit diesen themen ns-"euthanasie" und "holocaust". 

um schüler dafür sensibel zu machen, muss man als lehrer sicherlich selbst eine gute vorbereitung durchführen - und auch eine "haltung" dazu entwickeln und einnehmen und sich eindeutig profilieren lernen. das fällt sicherlich nicht vom himmel - und man darf sich dabei ruhig die hilfe der tatsächlichen profis in den dokumentations- und gedenkstätten suchen ...


günter jauch putzt einen stolperstein in berlin
auch im alltag - zuhause in kleinkleckersdorf - darf man mit schülern mal ein paar von gunter demnigs "stolpersteinen" in der nachbarschaft aufsuchen - und vielleicht die opferbiografie der dort genannten menschen regelrecht nachrecherchieren in den archiven und standesämtern und durch zeitzeugen-interviews - und die ergebnisse dazu vortragen lassen - mit powerpoint und video - damit die schüler diese zeit vor 80 - 70 jahren wieder fühlen lernen - und diesen muff unter den talaren riechen - jetzt auch im hinblick auf pegida und afd. man darf sie auch ruhig fragen, was sie von großeltern und urgroßeltern aus dieser zeit mitbekommen haben ... - bei allem "datenschutzgetöse" ... - sonst schütten wir uns datenmäßig nämlich allmählich unsere eigene geschichte und vergangenheit zu - doch das scheint mir nicht gemeint beim stichwort: "leben im hier & jetzt" ...

geschichte - auch "familien"- und "orts"geschichte - besteht aus "ge-schichten", die (weiter)erzählt werden müssen, um erhalten zu bleiben als kulturell-narratives vermächtnis - geschichten, die sich schicht auf schicht bei allen verdrängungsversuchen eingebrannt haben ins kollektive gedächtnis oder sich im bauchhirn vernetzt und aufgeschichtet haben - wir müssen diese ge-schichten nur manchmal wie archäologen oft ebenso behutsam schicht um schicht wieder freikratzen - frei legen ... - und das ist oft spannender als ein sonntagabend-"tatort" ... S!

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