pressebild. höhle thailand |
Höhlenrettung versus Flüchtlinge
Zweierlei Maß von Mitleid
Es fällt uns leicht, mit den in der Höhle eingeschlossenen thailändischen Jungen mitzuleiden. Für Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer steht die Empathie dagegen infrage. Das ist ein gefährlicher Zivilisationsverlust.
Kommentar von Matthias Drobinski | sueddeutsche.de
Man muss mit ihnen hoffen und bangen, den Jungs in der Höhle in Thailand, darf alle irdischen und überirdischen Kräfte um Beistand für die Taucher bitten, soll sich freuen über jeden Geretteten. Dass so viele Menschen das tun, ist ein wunderbares Zeichen. Wie immer die Rettung ausgehen mag: Sie ist, inmitten aller Angst und des Leids, auch eine Geschichte über die Kraft der Menschlichkeit und des Mitleids, der Fähigkeit von Menschen also, die Not und das Leid anderer zumindest zeit- und teilweise zur eigenen Not und zum eigenen Leid zu machen.
Die äußeren Gründe, warum die Eingeschlossenen in der Höhle Menschen in aller Welt berühren, sind schnell gefunden. In der Erde gefangen, vom Ertrinken bedroht - das trifft menschliche Urängste. Die Sorge der Eltern fühlt mit, wer selber Kinder hat; die Taucher, die ihr Leben für andere riskieren, stehen für Mut, Tapferkeit, Solidarität. Das verbindet Menschen, die sonst wenig verbinden mag. Die Welle der Empathie führt aber tiefer, zu einer der zentralen Fähigkeiten des Menschen: Er kann seine Artgenossen als Menschheit denken, so verschieden sie auch sein mögen. Das ist eine der großen kulturellen und geistigen zivilisatorischen Errungenschaften des Homo sapiens: Menschen können mit fremden Menschen fühlen. Sie sind zur Empathie fähig.
Doch warum fällt es so leicht, Mitleid mit den thailändischen Jungs zu haben und sich über jeden Geretteten zu freuen - und warum gibt es gerade diesen Verlust an Empathie mit den Flüchtlingen im Mittelmeer? Manche von ihnen sind im Alter der in der Höhle gefangenen Jungs, auch sie haben Angst vorm Ertrinken, auch hier gibt es selbstlose Helfer.
Vor drei, vier Jahren gab es auch noch ein vergleichbares Mitleid mit den Erschöpften in den Schlauchbooten. Linke und Konservative, Zuwanderungsoptimisten und -pessimisten stritten darüber, welche politischen Konsequenzen dieses Mitleid haben müsse. Jetzt hat sich die Skala des Diskutierbaren verschoben, jetzt steht das Mitleid infrage. Es wird als naiv und gefährlich selbstzerstörerisch diffamiert, das Mitleidlose dagegen als das wahrhaft Menschliche hingestellt: Lasst doch mal ein paar ertrinken, dann wissen alle anderen, was Sache ist. Man stelle sich vor, es würde einer sagen: Gut, dass da welche in der Höhle hocken - jetzt wissen alle, wie gefährlich solche Exkursionen in der Monsunzeit sind. Er müsste sich zu Recht als herzloser Zyniker beschimpfen lassen.
Warum das Mitleid mit den Flüchtlingen verdampft, ist so schnell erklärt wie die Empathie für die thailändischen Fußball-Jungs. Die Flüchtlinge sind den Europäern nahegerückt mit ihrem Elend und ihrer Not; die thailändischen Jungs sind ihnen unschuldig fern geblieben. Und aus der Nähe betrachtet, verlieren Elend und Not schnell ihre Unschuld. Mancher der Elenden will das schnelle Geld, der traumatisierte Verfolgte wird viel Unterstützung brauchen, vielleicht kommt gar ein Terrorist ins Land. Und wer da an den Küsten Europas landet, erinnert die Europäer daran, dass die Globalisierung, von der sie so sehr profitieren, auch ihren Preis haben könnte.
Das alles muss man diskutieren. Doch dem Ertrinkenden das Mitleid zu entziehen, ist ein gefährlicher Zivilisationsverlust. Es hat genug Ideologien gegeben, die das Mitleid beschränken wollten auf die eigene Gruppe, die eigene Klasse, die eigene Nation - sie alle endeten in der Unmenschlichkeit und im Untergang. Mit jedem Menschen mitleiden zu können, auch mit dem, der seine Unschuld verloren zu haben scheint, ist keine Schwäche - sondern eine wahre Stärke des Abendlands. Man darf, soll, muss sich mit jedem geretteten thailändischen Jungen freuen. Und kann dies als gute Übung für die größeren Aufgaben fürs Mitgefühl sehen.
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pressefotos: flüchtlingsschicksale (montage) |
Warum Mitgefühl keine Frage der Moral ist
Von Carla Baum | welt.de
Die Höhlenrettung der Jungen in Thailand hat eine Debatte entfacht: Warum wird ihnen vermeintlich mehr Mitleid entgegengebracht als den Flüchtlingen? Der Empathie-Forscher Fritz Breithaupt erklärt, warum diese Frage nicht ethisch zu beantworten ist.
Die ganze Welt verfolgt mit angehaltenem Atem die Rettung der zwölf Jungen und ihres Fußballtrainers aus einer Höhle im Norden Thailands. Als am Wochenende die ersten Meldungen über gerettete Kinder die Runde machten, löste der Kommentar eines „Spiegel“-Journalisten eine Debatte aus. Das Schicksal der Jungen in Thailand bewege weltweit Millionen von Menschen, hieß es darin. Das erneute Kentern eines Flüchtlingsboots im Mittelmeer mit vielen Toten hingegen nicht.
Auch die „Süddeutsche Zeitung“ griff das Thema am Montag auf. In dem Kommentar mit der Überschrift „Höhlenrettung versus Flüchtlinge: Zweierlei Maß von Mitleid“ heißt es, den Ertrinkenden im Mittelmeer das Mitleid zu entziehen sei ein „gefährlicher Zivilisationsverlust“.
„Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt sprach dagegen von einem „diffusen, kollektiven Vorwurf“ und einem „neuen bitteren Höhepunkt“: „Wie kann man nur ohne Beleg implizieren, dass das Schicksal welcher Kinder auch immer irgendwie zu wichtig genommen wird?“, schrieb er im Kurznachrichtendienst Twitter.
Die Frage, wem Mitgefühl gilt und wem nicht, wird in der Debatte vor allem als eine der Moral behandelt. Doch können wir eigentlich steuern, für wen wir Mitleid empfinden? Der Kultur- und Kognitionswissenschaftler Fritz Breithaupt von der Indiana University hat vergangenes Jahr ein Buch veröffentlicht, es heißt „Die dunklen Seiten der Empathie“. Darin setzt er sich intensiv mit dem Gefühl der Empathie, seinem Entstehen und seinem Nutzen auseinander.
WELT: Warum ist es so, dass den thailändischen Jungs in der Höhle vermeintlich mehr Mitleid zuteil wird als den Flüchtlingen auf dem Mittelmeer?
Fritz Breithaupt: Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer ist, dass wir uns als mitfühlende Menschen gerne in andere hineinversetzen, aber am Ende gerne wieder zu uns selbst zurückkommen. Das Anziehende am Schicksal dieser Jungen besteht genau darin, dass sie wieder zurückwollen – aus der Höhle raus, an die Oberfläche. Die sind in einer Situation, die wir verstehen. Wenn sie da rauskommen, ist es zu Ende – dann brauchen sie uns und unser Mitgefühl nicht mehr. Das ist bei den Flüchtlingen natürlich ganz anders.
WELT: Inwiefern?
Breithaupt: Ihr Schicksal endet nicht mit dem Ende der Überfahrt. Sie wollen weiter, sie wollen zu uns. Zwar haben viele Mitgefühl für die schreckliche Überfahrt und die Flucht aus Syrien oder anderen Ländern. Aber damit hört es nicht auf. Wenn wir unser Mitleid weiterdenken, kommt es dann ziemlich schnell auf uns an: Wir müssen ihnen Sympathien entgegenbringen, sie brauchen Helfer und Freunde. Das ist eine Verpflichtung auf Dauer. Und davor scheuen wir uns sehr.
WELT: Das heißt, wir haushalten mit unserem Mitgefühl – und setzen es lieber dort ein, wo wir uns einen schnellen Erfolg versprechen?
Breithaupt: Ganz genau. Mitgefühl ist etwas ganz Großartiges, Empathie macht uns zum Menschen. Aber wir können uns darin verlieren, es ist ein Risiko für uns. Deswegen schätzen wir Mitgefühl dann am meisten, wenn es zeitlich begrenzt ist. Da ist die Geschichte in Thailand großartig, weil man hoffen kann, dass die Jungen bald gerettet werden – und dass es dann zu Ende ist, auch für uns.
WELT: Welche Rolle spielt unsere eigene Passivität an dieser Stelle? Das Besondere der Situation in Thailand ist ja, dass wir von hier aus nicht helfen können – nicht einmal Spenden würden etwas bringen.
Breithaupt: Die Situation ist für uns komplett risikofrei. Und risikofreies Mitgefühl ist das Attraktivste für die Menschen. Das klingt zwar zynisch, aber so funktionieren wir nun mal.
WELT: Wie entsteht eigentlich Mitgefühl? Wovon hängt ab, ob wir es empfinden oder nicht?
Breithaupt: Mitgefühl entsteht, wenn wir die Situation eines anderen klar vor uns sehen, wenn wir sie verstehen und uns hineinversetzen können. Im Falle der thailändischen Jungs trifft dieser Faktor voll zu: Wir können uns alle vorstellen, wie es ist, in einer solchen dunklen Höhle eingesperrt zu sein. Da passiert bei uns aber auch noch etwas anderes: Wir sagen ja meistens, wir haben Empathie mit den Leidenden. Dabei steht oft etwas viel Egoistischeres im Vordergrund.
WELT: Was denn?
Breithaupt: Wir versetzen uns in die Helfertypen hinein. Es findet eine Helden-Identifikation statt. Wir stellen uns vor: Was würden wir machen? Würden wir auch in die Höhle tauchen, wie würden wir sie rausholen? Wir können uns dann selber dafür loben, dass wir Gutes tun oder Gutes wollen. Auch wenn wir eigentlich nur zu Hause auf dem Sofa sitzen. Im Übrigen war eine ähnliche Reaktion auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise spürbar, als eine Welle der Solidarität durch das Land ging.
WELT: Wer war in diesem Fall der Held, mit dem sich die Deutschen identifiziert haben?
Breithaupt: Angela Merkel war gewissermaßen das Medium der Empathie. Wir kennen alle ihre Reden zu der Zeit und den berühmten Satz „Wir schaffen das“. Das war eine Einladung zur Identifikation mit ihr. Das Kollektiv konnte sich in ihr verkörpert sehen und durch sie einen warmen, willkommenden Blick auf die Flüchtlinge werfen. Das war eine Helden-Identifikation – eine, die zum Scheitern verurteilt war.
WELT: Warum?
Breithaupt: Es ließ sich eben keine kurzfristige Heldengeschichte daraus machen. Im Prinzip wollte man sehen: Die Flüchtlinge integrieren sich schnell, bedanken sich bei uns, lernen Deutsch und benehmen sich gut. Das war so nicht einlösbar. In Thailand haben wir nun eine zeitlich begrenzte Situation, die schnell vorbei sein wird und noch dazu nichts mit uns zu tun hat.
WELT: Kann eine politische Haltung Mitgefühl verhindern? Wenn also jemand Migration grundsätzlich ablehnend gegenüber eingestellt ist, kann er dann überhaupt noch Mitleid für die Schicksale von Flüchtlingen empfinden?
Breithaupt: Es gehört zum Mitgefühl dazu, dass wir es kanalisieren und nur gewählt zulassen. Was gerade im rechten Spektrum passiert, dass eine Null-Mitleid-Haltung gegenüber Flüchtlingen demonstriert wird, heißt nicht unbedingt, dass diese Menschen gefühlskalt sind. Das heißt, dass sie ihre Gefühle auf andere Bereiche umlenken. Sie reden dann zum Beispiel davon, dass es auch in Deutschland viele arme Menschen gibt. Und damit haben sie natürlich nicht unrecht. Gefährlich wird es, wenn für ganze Bevölkerungsgruppen kategorisch Empathie ausgeschlossen wird. Die Nazis haben das geschafft.
WELT: Lässt sich Mitgefühl also leicht instrumentalisieren?
Breithaupt: Ja. Unser Empathie-Empfinden ist kulturell geprägt. Das bedeutet, dass es auch potenziell manipulierbar ist. Unser Zugang zu Mitgefühl ist erlernt – auch zum Beispiel über das Theater, über die Bühne. Das kollektive Betrachten des Schicksals anderer hat uns empathische Reaktionen eingeschrieben.
WELT: Auch die Geschichte der Jungen in Thailand ist fast wie ein Theaterstück aus dem wahren Leben: Das Gefangensein in der Dunkelheit, die schwierige Rettung, der Weg zurück ans Licht.
Breithaupt: Die Höhlenrettung in Thailand folgt einer klaren Dramaturgie. Am Anfang gab es einen Fehler: Der Coach hätte die Jungs gar nicht erst da runterbringen sollen. Aber er ist auch kein schlechter Mensch, ist sich seines Fehlers bewusst. Der Weg, den die Jungs zurücklegen sollen, führt aus der Unterwelt zurück ans Tageslicht – und ist voller Hindernisse.
WELT: Diese fast theatralische Lust am Schicksal der Jungen wirft aber kein besonders gutes Licht auf uns, die Betrachter.
Breithaupt: Einerseits ja. Aber die Anteilnahme an der Höhlenrettung in Thailand zeigt auch etwas sehr Positives: Wir sind nicht nur an den Menschen aus unserer direkten Nähe interessiert. Wir fühlen auch mit denen, die Tausende Kilometer entfernt von uns einen Schicksalsschlag erleiden.
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das ist schon harter tobak: wenn mir moralisch vorgeworfen wird, mit wem ich leiden muss, darf, kann, soll: das lässt sich ja kaum steuern, bei mir wenigstens nicht - und ist dem augenblick unterworfen ...
mitgefühl kommt auch flüchtig auf, wenn etwa beim film die tränen in die augen schießen. das sind dann ja zum teil reflexe, dessen was mich im moment berührt - was mir nahe ist - und was mir ferner ist ... und das ist auch "tagesform": wenn ein naher verwandter erkrankt und elend daliegt, greifen mich ähnliche situationen von denen ich lese oder höre oder eben im film sehe, sicherlich anders an, als wenn alles happy ist.
und dann kenne ich auch das phänomen der gefühlabspaltung: mit meiner geschiedenen frau oder mit verflossenen freundinnen habe ich "gebrochen" - schlussgemacht -
wenn ich weiterhin in alter empathie ihnen nachjagen würde, wäre ich sicherlich bald ein "stalker" ... - ich muss da ja "gelassen" werden - ich muss da "lassen" können, trotz aller versteckter neugier, die sich da meldet: ja da "dampft" eben die empathie und das "kümmern" ab: mit der - mit dem - bin ich ein für alle mal "fertig" und "durch" ... - und da gibt es auch kein zurück mehr ...
also - ursprüngliche gefühlsreaktion und -reflexe werden dann rational steuerbar - und kommen und gehen und werden begraben und beigesetzt ...
all diese "verluste" lernen wir bewusst oder unbewusst auch zu "betrauern" - wir pusten da nicht plötzlich ein licht aus, oder werfen ein stück papier mit einem namen drauf ins klo - un gutt is - nee, so eine "scheidung" dauert dann schon manchmal seine zeit ..., wenn sie "gelingen" soll ...
und nach einer zeit der verlusttrauer kommt dann ja wieder: neues spiel - neues glück ...
und so ähnlich scheint mir das alles mit meiner empathie und meinem mitleid für diese und jene gruppe oder person auch zu gehen: sie unterliegen einer gewissen aktualität und einer gewissen dynamik des augenblicks und des lebens ...
in meiner ausbildung in "gestalt" (fritze perls) war ja eine übung, sich einem partner/einer partnerin so weit zu nähern, auf einander zuzugehen, wie man es i m m o m e n t wollte, wie es "stimmig" war im augenblick. und unsere trainer sagten auch immer wieder: das ergebnis der gewählten distanz sei ein "blitzlicht", eine momentaufnahme - die im nächsten augenblick schon wieder anders aussehen könnte ...
und man musste es verknusern, wenn dieser partner, auf den man da mehr oder weniger schnurstracks zugeht, vielleicht zurückweicht oder stehenbleibt in einer distanz, die einen beim genauen hinsehen enttäuscht - wovon man sich vielleicht mehr "enge" erwartet hätte ...
in all diesem menscheln wirken also auch zumindest latent immer mindestens zwei: die/der, denen ich empathie entgegenbringe - und die/der, die meine "zuneigung" erwidern oder ablehnen ...
bei den jungs aus thailand ist das weit weg, ich werde ihnen persönlich wohl kaum jemals begegnen - bei den flüchtlingen aus syrien sieht das schon anders aus: vielleicht sind sie bald meine nachbarn und backen nachts bei laut-quälender musik fladenbrot auf offener flamme auf dem balkon ... - S!