Merkel | Friedrich | Nichts sagen | Nichts sehen | Nie was gehört ... (S!NEDi|bild|bearbeitung) |
NSA-Ausspähskandal:
Fünf Argumente gegen die Verharmloser
Von Judith Horchert, Ole Reißmann und Christian Stöcker | SPIEGEL-ONLINE
Alles nicht so schlimm. Meine Daten interessieren niemanden. Es hilft doch gegen Terrorismus. Behauptungen wie diese sollen der NSA-Überwachung den Schrecken nehmen. Es wäre aber fatal, auf diese Verharmlosung hereinzufallen.
Die Bundesregierung übt sich in Sachen Prism, Tempora und NSA in Schildkrötentaktik. Innenminister Friedrich hat bei seiner USA-Reise zwar nichts Neues in Erfahrung bringen können, findet den Besuch aber "erfolgreich". Man könne zwar nicht so genau sagen, wie viele Terroranschläge durch die flächendeckende Internetüberwachung verhindert worden seien, aber wenn die Amerikaner sagten, es seien in Deutschland fünf gewesen, dann müsse "man das mal so hinnehmen". Die Opposition wittert ihre Chance, doch in der Öffentlichkeit ist es bemerkenswert ruhig.
Es geht um die flächendeckende Abschöpfung des Internetgebrauchs, nicht nur um sogenannte Metadaten, sondern um E-Mails, Chat-Protokolle, Suchanfragen, Videotelefonate. Maßnahmen, die sich am ehesten mit einer Video-Totalüberwachung des gesamten öffentlichen Raums und auch aller privaten Räumlichkeiten vergleichen lassen. Mittlerweile scheint sich fast so etwas wie Resignation breitzumachen - dabei glauben laut ZDF-Politbarometer 79 Prozent der Deutschen, dass die deutsche Regierung von der Überwachung wusste.
Es sind sogar Argumente zu hören, warum man sich über die Überwachung nicht aufzuregen bräuchte - 'wer Facebook nutzt, hat ohnehin keine Privatsphäre', 'ich habe nichts zu verbergen', 'wir können sowieso nichts dagegen tun'.
Hier einige Antworten auf Behauptungen der Abwiegler.
1. Verharmlosung: Viele Menschen finden Datenschutz und Privatsphäre nicht mehr so wichtig. Schließlich teilen sie auch Privates auf Facebook - selber schuld.
Falsch. Nur jeder zehnte Jugendliche fühlt sich bei Facebook völlig sicher, 87 Prozent haben Datenschutz-Einstellungen vorgenommen - und zum Beispiel ihr Profil gegen Fremde abgeschottet. Das ist das Ergebnis der aktuellen Jim-Studie. Kinder und Jugendliche sind nicht so naiv, wie es oftmals dargestellt wird: Sie nutzen zwar soziale Medien, teilen dort aber nur bestimmte Informationen mit bestimmten Leuten. Und zwar, das zeigen andere Untersuchungen, überwiegend mit Menschen, die sie aus ihrem realweltlichen Sozialleben kennen.
Selbstverständlich hat sich herumgesprochen, dass allzu exzessive Partyfotos in sozialen Netzwerken sich bei einer Bewerbung nicht gut machen. Fälle von Cybermobbing oder aus dem Ruder gelaufenen Privatpartys sind allgemein bekannt. Auch wissen viele, dass Polizei und Ordnungsamt öffentliche Profile durchsuchen.
Nur weil jemand Dinge aus seinem Privatleben öffentlich macht, trifft er damit keine allgemeine Aussage über den Wert der Privatsphäre. Er verwirkt durch Mitteilungsfreude auch nicht seine Grundrechte. Dass jemand bei Facebook mit seinen Freunden über sein Privatleben spricht, heißt nicht, dass man erfassen darf, was er oder sie privat in einer E-Mail, am Telefon, im Chat oder per Skype übermittelt.
2. Verharmlosung: Wer nichts zu verbergen hat, muss nichts fürchten. Der staatliche Überwachungsapparat interessiert sich nicht für Durchschnittsbürger.
Kann schon sein, dass manche Menschen mit sich selbst absolut im Reinen sind. Trotzdem gilt:
Sie haben etwas zu verbergen: Ihr Privatleben. Deshalb haben Sie zu Hause Vorhänge an den Fenstern, deshalb verschicken Sie vieles lieber als Brief, nicht als Postkarte.
Was heute als bedeutungslose Information erscheinen mag, könnte eines Tages verhängnisvoll sein. Niemand weiß, welche Regierungsformen in der Zukunft herrschen, welche gesellschaftlichen Werte gelten werden.
Die meisten Menschen wissen nicht, für wen oder was sich Geheimdienste interessieren. Wenn es tatsächlich - wie behauptet - vornehmlich um die Suche nach Terroristen geht, dürften besonders unauffällige Menschen ins Visier geraten. Vielleicht auch nur, weil Sie mit jemandem in Kontakt stehen, der noch unauffälliger ist als Sie selbst - und damit verdächtig. In kurzer Zeit lässt sich aus den Daten, die die Geheimdienste erfassen, ein umfassendes Profil und eine Karte des sozialen Umfelds erstellen.
Einem Algorithmus nutzen auch vermeintlich unwichtige Informationen. Sie können mindestens zur Vergleichsstichprobe werden - bis irgendwann ein Computer unterscheiden kann, was harmloses Geschwätz ist und was nicht. So gesehen helfen Ihre nichtssagenden E-Mails an Tante Frieda womöglich der NSA.
Es geht nicht nur um Sie. Wer trotz allem glaubt, dass weder er selbst noch eines seiner Familienmitglieder, noch ein Bekannter eines Familienmitglieds je in das Suchraster eines Geheimdiensts fallen könnte, sollte einmal einen Schritt zurücktreten. Eine automatisierte Überwachung kann in anderen Ländern helfen, blitzschnell Regierungsgegner ausfindig zu machen. Hierzulande bedroht sie Firmeninhaber oder Forscher, Ärzte oder Aktivisten. Und sie kann Journalisten und deren Informanten in Gefahr bringen.
Organisationen, auch die NSA, bestehen aus Menschen, und Menschen sind fehlbar. Allzu mächtige, allzu gut informierte Geheimdienstmitarbeiter könnten durch Unachtsamkeit Daten in die Öffentlichkeit bringen - oder sie für eigene Zwecke missbrauchen.
3. Verharmlosung: Wir speichern nur, wer mit wem von wo aus kommuniziert hat, um Straftaten wie Terrorismus und Kinderpornografie zu bekämpfen.
Zeitweise gab es in Deutschland eine Vorratsdatenspeicherung. In einer Studie für das Justizministerium fanden Forscher vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht keine Hinweise darauf, dass die Speicherung einen Terroranschlag verhindert hätte - oder dass sich damit Kinderpornografie wirksamer bekämpfen ließe. Forscher der Technischen Universität Darmstadt kommen zu dem Ergebnis, dass die Vorratsdatenspeicherung wohl nicht zur Prävention geeignet ist.
Gerade erst musste Innenminister Friedrich seine Aussagen relativieren: Prism habe doch keine fünf konkreten Terroranschläge in Deutschland verhindert, wie es zunächst hieß. "Vielleicht mehr, vielleicht weniger", sagte Friedrich jetzt. Dafür musste also unsere gesamte Kommunikation überwacht werden? Ohne, dass wir um Erlaubnis gefragt wurden?
Wohl lassen sich Straftaten wie Computerbetrug mit Hilfe von Vorratsdaten besser aufklären. Aber rechtfertigt das einen derart tiefen Eingriff in die Grundrechte aller Bürger, der geeignet ist, "ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen"? So nannte das Bundesverfassungsgericht die anlasslose Speicherung in einem Urteil. Politiker und Ermittler sprechen vor allem aus einem Grund immer wieder von Terrorismus und Kinderpornografie: Das sind Straftaten, auf die Menschen besonders empfindlich und emotional reagieren.
4. Verharmlosung: Gegen Überwachung und Datensammeln von Geheimdiensten sind wir letztlich machtlos.
Sie sind der Souverän. Zu glauben, dass man als Bürger keinen Einfluss hat, spricht für Politikverdrossenheit und ein tiefes Misstrauen gegenüber der Demokratie. Wer wirklich etwas ändern möchte, hat viele Möglichkeiten der Partizipation, zum Beispiel: Protestieren, Demonstrieren, Initiativen gründen, Petitionen starten, und vor allem: Wählen. Welche Partei setzt sich für eine wirksame Kontrolle der Geheimdienste ein? Welche Politiker stehen für mehr, welche für weniger Überwachung?
Wer nicht auf den Staat vertrauen mag, hat außerdem die Möglichkeit, seine Kommunikation zu verschlüsseln. Das ist nicht einfach, aber die Programme dafür sind kostenlos verfügbar. Nach allem, was bekannt ist, brauchen auch die Mathematiker der NSA mit ihren Großrechnern für das Knacken asymmetrischer Verschlüsselung viele Jahre. Das ist auch der Grund dafür, dass Geheimdienste Firmen zur Zusammenarbeit zwingen: Sie wollen Nachrichten abfangen können, bevor sie unlesbar verschlüsselt werden. Übernimmt man das selbst, haben Firmen und Geheimdienste keinen Zugriff.
5. Verharmlosung: Das haben wir doch alles längst gewusst.
So wie bei Fußball-Weltmeisterschaften plötzlich viele heimliche Bundestrainer vor den Fernsehgeräten sitzen, so tauchen nach dem Prism-Spähskandal auf einmal viele Geheimdienstkenner auf. An realen und digitalen Stammtischen tun sie kund, dass sie doch all das längst gewusst haben.
Wäre das aber alles längst bekannt gewesen, hätte Edward Snowden nicht sein Leben aufgeben müssen, nur um diese Information an die Öffentlichkeit zu bringen. Die USA müssten nicht mit Nachdruck nach ihm suchen. Und Politiker hierzulande und in den USA nicht seit Wochen leugnen, abwiegeln, rechtfertigen.
Eine Überwachung dieser Größenordnung war bislang nicht bekannt. Vermutet haben es viele, das stimmt. Hacker zum Beispiel, die sich schon immer entsprechend geschützt haben. Doch wer bisher davor warnte, wurde mangels Beweisen nicht gehört, sondern als Verschwörungstheoretiker belächelt.
Jetzt zu sagen: "Das war doch ohnehin klar", und es dabei zu belassen, hieße, seine Bürgerrechte aufzugeben. Mit dieser Haltung ist kein (Rechts-)Staat zu machen.
Quelle: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/fuenf-schlechte-argumente-fuer-mehr-ueberwachung-a-911202.html - Übrige Fotos: CORBIS, DPA, AP, REUTERS, SPIEGEL-ONLINE|Bildstrecke,