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Deuter der Zweiten Moderne: Ulrich Beck ist tot
Das Schlagwort der "Risikogesellschaft" machte ihn berühmt, nun ist der Soziologe Ulrich Beck gestorben. Er wurde 70 Jahre alt.
Einer der bekanntesten Soziologen unserer Zeit, Ulrich Beck, ist im Alter von 70 Jahren gestorben. Das bestätigte der Suhrkamp-Verlag auf Nachfrage. Laut einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" erlag Beck an Neujahr einem Herzinfarkt. Einem breiten Publikum wurde er durch seinen Bestseller "Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne" von 1986 bekannt.
Beck wurde 1944 im damaligen Stolp in Pommern (heute Slupsk/Polen)geboren. Seine akademische Laufbahn begann er als Soziologie-Student an der Universität München, wo er nebenbei als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war und 1979 habilitierte. Anschließend lehrte er Soziologie an der Universität Münster und später in Bamberg, bis er 1992 nach München zurückkehrte. 2011 wurde er Professor an der Pariser Wissenschaftsstiftung Fondation Maison de sciences de l'homme (FMSH). Zahlreiche Universitäten im Ausland verliehen ihm die Ehrendoktorwürde.
In seinem Buch "Risikogesellschaft", welches in 35 Sprachen übersetzt wurde, thematisierte Beck die selbst produzierten Gefahren für die moderne Gesellschaft, die sich den bestehenden Sicherungsmechanismen des Staates entziehen. In seinem Werk "Weltrisikogesellschaft" von 2007 beschrieb er sie als globale Risiken mit den vier Merkmalen Entgrenzung, Unkontrollierbarkeit, Nicht-Kompensierbarkeit und Nichtwissen.
2012 erschien von ihm "Das neue Europa: Neue Machtlandschaften im Zeichen der Krise". Mit dem Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit zusammen schrieb er das Manifest "Wir sind Europa!", das ein Freiwilliges Europäisches Jahr für alle Altersgruppen propagierte. In einem SPIEGEL-Essay, ebenfalls von 2012, beschrieb Beck die dominante Rolle von Kanzlerin Angela Merkel und charakterisierte ihre Euro-Rettungspolitik mit dem Wort "Merkiavelli".
Beck war mit der Familien- und Migrationssoziologin Elisabeth Beck-Gernsheim verheiratet, mit der er einige Werke veröffentlichte, unter anderem erschien von ihnen 1990 "Das ganz normale Chaos der Liebe".
SPIEGEL-ONLINE
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"Wenn dein Gott tot ist - nimm doch meinen" ... - (Flyer Schulpastoral - ksbhh.de) |
GLAUBE
Gott ist gefährlich
So human Religion auch scheinen mag: Sie birgt stets einen totalitären Kern. Fünf Thesen des Soziologen und Buchautors Ulrich Beck
VON ULRICH BECK - 20. Dezember 2007
Weihnachten täuscht. Die ansonsten gespenstisch entleerten christlichen Kirchen in Westeuropa füllen sich mit Drei-Tage-Christen. Das sind solche Gelegenheitsgläubige, die an den hohen Feiertagen Weihnachten, Ostern und möglicherweise sogar noch Pfingsten die religiöse Wiederverzauberung des Alltags als Kirchentheaterdienstleistung konsumieren. Aber ist Weihnachten nicht das Fest der Liebe? Auch das täuscht. Religion könnte eine Erfindung des Teufels sein: Man predigt mit der einen Zunge Nächstenliebe und mit der anderen Zunge Hass und Todfeindschaft. Aller Humanität der Religion wohnt eine totalitäre Versuchung inne. Dazu fünf Thesen.
Erste These: Religion setzt ein Merkmal absolut – glauben. Alle anderen sozialen Unterschiede und Gegensätze sind daran gemessen unerheblich. Das Neue Testament sagt: »Vor Gott sind alle gleich.« Diese Gleichheit, diese Aufhebung der Grenzen, die Menschen, Gruppen, Gesellschaften, Kulturen trennen, ist die Gesellschaftsgrundlage der (christlichen) Religionen. Die Folge allerdings ist: Mit derselben Absolutheit, mit der Unterscheidungen des Sozialen und Politischen aufgehoben werden, wird eine neue Fundamentalunterscheidung und Hierarchie in die Welt gesetzt – die zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Wobei den Ungläubigen (ebenfalls gemäß der Logik dieses Duals) der Status des Menschen überhaupt abgesprochen wird. Religionen können Brücken zwischen den Menschen bauen, wo Hierarchien und Grenzen existieren; zugleich reißen sie neue, religionsbestimmte Abgründe zwischen den Menschen auf, wo keine waren. Der humanitäre Universalismus der Glaubenden beruht auf der Identifikation mit Gott und auf der Dämonisierung der Opponenten Gottes, die, wie Paulus und Luther es ausdrückten, »Diener des Satans« sind. Das Samenkorn religiös motivierter Gewalt liegt im Universalismus der Gleichheit der Glaubenden begründet, die den Anders- oder Ungläubigen entzieht, was sie dem Glaubenden verheißt: Mitmenschenwürde, Gleichheit in einer Welt von Fremden. Das ist die Sorge, die um sich greift: dass als Kehrseite des Versagens der Säkularisierung ein neues Zeitalter der Verfinsterung droht. Die Gesundheitsminister warnen: Religion tötet. Religion darf an Jugendliche unter 18 Jahren nicht weitergegeben werden.
Die Dämonisierung des religiösen Anderen lässt sich auch an dem sogenannten Mischehenkrieg, der zwischen katholischen und evangelischen Christen im langen 19. und auch noch im 20. Jahrhundert tobte und tobt, eindrücklich veranschaulichen. Dieser Konfessionsfundamentalismus, der in den »Ungläubigen« gerade nicht den anderen Christen sehen und anerkennen will, stößt mehr und mehr, gerade bei den aktiven Gläubigen, auf entschiedene Ablehnung. Hier hat sich, wie der Soziologe Hans Joas berichtet, eine Umkehrung der Beweislast hinsichtlich der ökumenischen Zusammenarbeit vollzogen: »Begründungspflichtig wird immer mehr, wenn diese unterbleibt, nicht, wenn sie stattfindet.«
Zweite These: Allein die Frage: »Was ist Religion?« weist eine eurozentristische Schlagseite auf. Denn Religion wird als Substantiv gefasst, wodurch ein klar abgrenzbarer sozialer Satz von Symbolen und Praktiken unterstellt wird, die ein Entweder-oder konstituieren, man kann sie nur entweder glauben oder nicht glauben, und man kann, wenn man Mitglied einer Glaubensgemeinschaft ist, nicht zugleich einer anderen zugehören. Es ist in diesem Sinne sinnvoll und nötig, eine Unterscheidung zwischen »Religion« und »religiös«, zwischen Religion als Substantiv und als Adjektiv einzuführen. Das Substantiv »Religion« ordnet das religiöse Feld nach der Logik des Entweder-oder. Das Adjektiv »religiös« dagegen ordnet es nach der Logik des Sowohl- als-auch. Religiös sein beruht nicht auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Organisation; es definiert vielmehr eine bestimmte Einstellung zu den existenziellen Fragen, die die Stellung und das Selbstverständnis des Menschen in der Welt betreffen. Damit stellt sich die Frage: Gilt die Janusköpfigkeit zwischen Nächstenliebe und Todfeindschaft primär für »Religion«, aber vielleicht nicht für »religiös«? Kann das gewaltträchtige, monotheistische Entweder-oder relativiert, unterlaufen, entschärft werden durch eine synkretistische Toleranz des Sowohl-als-auch?
In den westlichen Gesellschaften, die die Autonomie des Individuums als Prinzip verinnerlicht haben, schafft sich der einzelne Mensch in immer größerer Unabhängigkeit diejenigen kleinen Glaubenserzählungen, den »eigenen Gott« –, die zu dem »eigenen« Leben und »eigenen« Erfahrungshorizont passen. Dieser »eigene Gott« ist aber nicht mehr der Eine Gott, der das Heil diktiert, indem er die Geschichte an sich reißt und zu Intoleranz und Gewalt ermächtigt. Erleben wir eine Rückverwandlung des Monotheismus der Religion in einen Polytheismus des Religiösen unter dem Vorzeichen des »eigenen Gottes«?
Dass diese synkretistische Toleranz nicht nur verdeckt im Raum der frei schwebenden Religiosität sich ausbreitet, sondern auch in institutionellen Formen mit großer Selbstverständlichkeit praktiziert wird, kann man beispielsweise in Japan beobachten. Die Menschen sehen dort kein Problem darin, zu bestimmten Jahreszeiten einen Schinto-Schrein zu besuchen, die Heirat nach einer christlichen Zeremonie auszurichten und von einem buddhistischen Mönch beerdigt zu werden. Der Religionssoziologe Peter L. Berger berichtet von dem japanischen Philosophen Nakamura, der dies auf den Punkt bringt: »Der Westen ist für zwei fundamentale Fehler verantwortlich. Der eine ist Monotheismus – es gibt nur einen Gott –, und der andere ist das aristotelische Prinzip des Widerspruchs – etwas ist entweder A oder Nicht-A. Jeder intelligente Mensch in Asien weiß, dass es viele Götter gibt und dass Dinge sowohl A als auch Nicht-A sein können.«
Dritte These: Wenn Religionen immer schon scheinbar eherne territoriale und nationale Grenzen überwunden und neue Abgründe zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden aufgerissen haben, was ist dann das Neue? Die kommunikationstechnologische Dichte und daraus resultierende universelle Nachbarschaft der Welt führt zur Berührung und Durchdringung der Weltreligionen und diese wiederum zu einem clash of universalisms, zu allgegenwärtigen Zusammenstößen der Offenbarungswahrheiten sowie Tendenzen der wechselseitigen Verteufelung der Fremdgläubigen, deren menschliche Würde zur Disposition steht. Jeder gläubige und nichtgläubige Mensch, welcher Glaubens- und Nichtglaubensrichtung auch immer, sieht sich zugleich in die Heimat der Gläubigen (oder Atheisten) und in den Zustand der potenziellen Vogelfreiheit der Ungläubigen (in den Augen der religiös Anderen) versetzt. Diese Zwangsversetzung weckt und nährt diffuse Ängste, die politische Gegensätze und Konflikte religiös aufladen und in Gewaltexplosionen zum Ausbruch kommen können.
Hier taucht eine neue, vielleicht in Zukunft außerordentlich wichtige Konfliktlinie auf, und zwar zwischen solchen Glaubensströmungen, die dem Zweifeln Raum geben, ja, darin ein Moment der Rettung der Religion sehen, und denjenigen, die, um den Zweifel abzuwehren, sich in der konstruierten »Reinheit« ihres Glaubens verbarrikadieren. »Harte Religionen bieten den Konsumenten sehr viel«, konstatiert der Theologe Friedrich Wilhelm Graf, »eine starke, stabile Identität, krisenresistente Welt- und Zeitdeutung, geordnete Familienstrukturen und dichte Netzwerke der Solidarität.«
Gegen die »Diktatur des Relativismus« kämpfend, verteidigt Papst Benedikt XVI. die katholische Hierarchie der Wahrheit, die einer Skatlogik folgt: Glaube sticht Verstand. Christlicher Glaube sticht alle anderen Glaubensarten (insbesondere den Islam). Römisch-katholischer Glaube ist der Kreuzbube, der alle anderen christlichen Skatbrüder des Glaubens sticht. Und der Papst ist der allerhöchste Trumpf im Wahrheitsskatblatt der katholischen Rechtgläubigkeit.
Vierte These: Die Nationalisierung Gottes führt zur Naturalisierung von Intoleranz und Gewalt. Die verbreitete Rede von der »Ersatzreligion« des Nationalismus verharmlost letztlich, was im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland geschah, nämlich die »Germanisierung des Christentums«. Wo nationale Feindbilder regieren, stirbt als Erstes die Toleranz zwischen den Religionen. So wird die Judenverfolgung bis hin zur Deportation für die protestantische Kirche zu einer »neuen Bestätigung eines bereits biblisch fixierten jüdischen Schicksals«, wie der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt zusammenfassend berichtet. Der aggressive, antreibende Antisemitismus protestantischer Gemeinden gehorchte dem staatlich verordneten Antisemitismus. Entsprechend kam es sogar »in etlichen Gemeinden seit 1941 zu einem Verbot für christliche Judensternträger zu Gottesdiensten«. Was dabei bislang unterbelichtet blieb, ist der »methodologische Nationalismus« der historischen Wissenschaften und Theologien. Das heißt hier: Man akzeptiert die einheitliche Freund-Feind-Abgrenzungslogik für Nation wie für Religion und schließt infolgedessen die Alternativen transnationaler und interreligiöser Toleranz aus dem Horizont des Möglichen aus. In diesem Sinne hat der protestantische Theologennationalismus das Verständnis von Religion entstellt. Bis heute hat dies dazu geführt, dass die für das 21. Jahrhundert so entscheidende Frage nach den Toleranzpotenzialen von Religion oft negativ beantwortet wird, ohne dass sie überhaupt ernsthaft aufgeworfen wurde.
Fünfte These: Vorausgesetzt, die Hoffnung des Säkularismus, mehr Moderne bedeute weniger Religion, ist falsch, dann stellt sich die Frage nach einer zivilisierten Koexistenz der feindseligen Weltreligionen mit erneuter Dringlichkeit. Wie wird ein Typus von interreligiöser Toleranz möglich, wo Nächstenliebe nicht Todfeindschaft bedeutet? Also ein Typus von Toleranz, dessen Ziel nicht Wahrheit, aber Frieden ist?
In Nathan der Weise entwirft Lessing hierfür ein Modell. Der Aufklärer misstraute zutiefst dem Traum von der Einen Wahrheit, den die Philosophen durch die Geschichte hindurch träumen. Denn bei der Wahrheit geht es nie nur um Wahrheit, sondern nach Lessing um viel mehr, nämlich um Menschlichkeit, oder wie wir heute sagen müssen: um Frieden. Lessing sah zwar bereits den Widerspruch zwischen der Einen Wahrheit und der kosmopolitischen Anerkennung der vielen Religionswahrheiten. Aber die »Weisheit« Nathans liegt in der List begründet, beide Prioritäten, nämlich die der absolutistischen Religionswahrheit und die des Friedens, gleichberechtigt nebeneinander zu verfolgen.
Die Idee wurde im 20. Jahrhundert von Mahatma Gandhi aufgegriffen und in weltverändernde Politik verwandelt: Es geht darum, fähig zu werden, die Welt, auch die Welt der eigenen Religion, durch die Augen der anderen zu sehen.
Als junger Mann ging Gandhi nach England, um Jura zu studieren. Dieser »Umweg« in ein Herzland des christlichen Westens entfremdete ihn nicht vom Hinduismus, sondern vertiefte sein Verständnis und sein Bekenntnis zu demselben. Denn es war in England, anlässlich einer Einladung eines Freundes, wo Gandhi die für ihn augenöffnende Lektüre der Bhagawadgita begann, und zwar in einer englischen Übersetzung. Erst danach begann er mit dem intensiven Studium des Hindu-Textes in Sanskrit. Also: Durch die Augen seiner westlichen Freunde wurde er dazu bewegt, den spirituellen Reichtum seiner eigenen Hindu-Tradition zu entdecken.
Die Saat seiner weltöffentlichen Rolle in der Befreiungsbewegung Indiens vom kolonialen Joch der Engländer wurde in England gesät, blühte auf während seiner vertieften Studien in seinen Jahren in Südafrika und trug Früchte nach seiner Rückkehr nach Indien im Jahre 1915.
Überall wird aufgeregt über das »Problem« des Islams im »säkularen« Europa debattiert und gestritten. Unterhalb der weltöffentlichen Abgrenzungsschlachten der Religionskrieger gewinnt verdeckt die List des kooperativen Mehrwerts an Realität und Bedeutung: Gruppen können intolerant in Hinblick auf die Theologie des Anderen sein, aber gleichwohl kreativ zusammenarbeiten, um geteilte, öffentliche Anliegen durchzusetzen. Die theologischen Dogmenhüter und Endlosstreiter könnten von dieser »Vernunft doppelter Religion« lernen. Heute entscheidet die Frage, inwieweit Wahrheit durch Frieden ersetzt werden kann, über die Fortexistenz der Menschheit. Aber ist die Hoffnung auf eine Nächstenliebe ohne Todfeindschaft nicht das Unwahrscheinlichste, Naivste, Törichtste, Absurdeste, das man erhoffen kann?
Ulrich Beck lehrte Soziologie an der Universität München und an der London School of Economics. Im März 2008 erschien sein Buch »Der eigene Gott« im Verlag der Weltreligionen.
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