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Freimut | Sebastian Schrader

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Kreuzabnahme ohne Kreuz - aber mit Plastikbeutel








Bilder des Freimuts

Bislang kennen den Maler Sebastian Schrader nur wenige. Das sollte sich dringend ändern


Nein, er war nicht auf Krawall aus. Wollte nicht pinselspitz das nächstbeste Tabu aufspießen oder irgendwelche Dogmen niederreißen. So aber wurde er gleich gesehen: als Störenfried, ordnungszersetzend und vermutlich unbelehrbar. Denn was wollte Sebastian Schrader? Er wollte malen.

Wollte malen, wie ein Adolph Menzel, der eine Eisenbahn durchs Bild stieben lässt und die Farben seiner Landschaft aufwühlt, als wären die Wiesen schäumende Meereswogen. Solche Bilder, mit Lust nach der Welt ausgreifend, schwebten Schrader vor. Was für ein Affront!

Als er 2000 sein Studium in Berlin begann, galt die Malerei vielen im Kunstbetrieb als furchtbar démodé, ja kleinbürgerlich. Er wurde damals, sagt Schrader, seltsam angeschaut. Viele rieten ihm, wenn er denn unbedingt figürlich malen wolle, dann doch die Menschen auf seinen Bildern irgendwie zu verwischen. So viel Abstraktion müsse sein.

Heute hat sich die Sittenstrenge im Kunstbetrieb etwas verloren, allerdings, auf den Großschauen der Gegenwartskunst kommt die Malerei weiterhin kaum vor. Es sei halt schwierig, gab der neue Documenta-Leiter Adam Szymczyk zu Protokoll, »mit Gemälden etwas Bedeutungsvolles auszudrücken, ohne dass es gleich reaktionär oder marktgerecht erscheint«.

Ist Schrader reaktionär? Malt er marktgerecht? 

Natürlich, er kennt die Zweifel, kennt die Angst, nur Abziehbilder von Abziehbildern zu produzieren, weil doch alles schon gemalt zu sein scheint. Aber eigentlich, sagt er, hat mich das nie gekümmert. Ob ein Werk nun besonders klug ist oder irgendwie innovativ, wen interessiert das?

Schraders Bilder leben von seinem Freimut. Und dieser vor allem ist es, der seine Kunst weit hinaushebt über das, was in den deutschen Ateliers sonst üblich ist. Kaum ein anderer Maler seiner Generation geht so umsichtig und gewitzt ans Werk wie er. Der Markt allerdings wartet ab. Schrader hat seine Sammler, er hat die Galerie Reiter in Berlin, die gerade seine jüngsten Gemälde zeigt (bis zum 8. April; reitergalleries.com). Doch die Museen zögern, und so ist dieser erstaunliche Maler längst nicht so bekannt, wie er es mit 38 Jahren sein sollte.

Sebastian Schrader | Bildquelle
Andere rutschen ab in die Beliebigkeit des Ungefähren (wie Daniel Richter) oder ersticken am eigenen Perfektionismus (wie Michael Triegel). Schrader aber hält die Balance, greift arglos nach der Geschichte, borgt sich bei Caravaggio die grellen Bühnenstrahler, von Ribera die gewittrigen Effekte. Nie aber blickt er verklärend auf die Tradition. Weder nostalgische Ehrfurcht noch billige Ironie treiben ihn an, eher zeigen seine Bilder eine Begeisterung fürs Malen selbst: für das Schimmern, Funkeln, Glitzern, das starke Spiel mit dem Licht. Auch für das Hingetropfte, Abgewischte oder eine technisch virtuose Mimesis, für all die Möglichkeiten von Pinsel und Spachtel. Und natürlich für die Stimmungen, die ein guter Maler heraufbeschwören kann, von Melancholie bis bierseligem Überschwang.

Ein ernster Unernst durchzieht viele seiner Gemälde, so auch die Probe, auf dem einige Freunde das klassische Motiv der Kreuzabnahme nachstellen, sie üben sich in Nachempfindung, nur dass sie die Uniform der Gegenwart tragen, Sneakers und Kapuzenhemd. Eine Probe ist dieses Bild aber auch, weil Schrader hier viele Maltechniken durchspielt und es so offenporig hält, dass man das Gefühl hat, der Künstler werde vor unseren Augen gleich daran weiterarbeiten.

Schrader öffnet seine Gemälde dem Möglichen, er lässt Raum für das, was im Betrachter aufsteigen könnte, herbeifantasiert, bunt zusammenreimt. Nicht selten sind es halbe Traumbilder, und da sitzt dann ein Mann mit rotem Überwurf, hält in der rechten eine Flasche Bier, in der Linken einen Colt, und gerade hat er wohl abgedrückt, denn dort, wo er hinzielte, bricht ein schweres Farbenchaos aus – die schöne Ordnung, zerschossen.

Schrader mag es gerne ein wenig unsortiert. Wer ihn in seinem Atelier besucht, mitten im Wedding, auf dem Gelände eines alten Busbahnhofs, gerät in ein Reich eigenen Rechts, und ganz wie das Klischee es will, ist es angefüllt mit Pinseln, Tuben, zwei Gitarren, Modellautos und Bildbänden von Hammershøi, La Tour und anderen stillen Spannungsmalern. Hier ist er für sich, die Welt bleibt draußen, weggesperrt hinter Rollos und schwarzen Müllsäcken. So braucht er es, nur Neonlicht.

Viele seiner Bilder leben aus ewiger Nacht, sind aus einem Schwarz herausgemalt, das an nackte, dunkle Bühnen erinnert, auf denen Regisseur Schrader seine Szenen inszeniert, schön absurd, aber sattes Pathos nicht scheuend. In jüngster Zeit allerdings haben sich seine Bilder entvölkert, sind stiller, auch grauer geworden. Manchmal verschwinden seine Figuren unter knittrigen Jacken und zerknüllten Papieren, so als ginge Schrader selbst im Krimskrams verloren (schließlich ist er selbst sein bevorzugtes Modell). Nun durchflattert ein herrenloser Friesennerz die Finsternis, oder es scheint ein Schutzanzug mit sich selbst zu ringen, hoffnungslos im eigenen Ärmelgewirr verknotet. Zuletzt hat Schrader seine Kapuzenmänner immer wieder auf die kleine Kiefernbank gesetzt, die ganz real in seinem Atelier steht, halb verborgen unter geknautschten Tüchern.

Je beschränkter aber sein Personal wird, je stillgestellter die Erzählung, desto entfesselter scheint die Malerei zu werden. Wie Konfetti fliegen die Farbtupfen über den dunklen Grund, dazu gibt es neongrüne Spritzer oder auch tollkühn verschlungene Faltenspiele, die zuletzt allerdings unter geometrischen Formen fast verschwinden. Manchmal sieht es aus, als suchten die Figuren nach Schutz und Halt unter Kreisen und Rechtecken.

Schrader liebt die Tagträumer, ohne dass er selbst der Oblomow wäre, den er immer wieder gemalt hat. Jeden Morgen fährt er ins Atelier, und weil er lange braucht für jedes Bild, für sein Empfinden oft viel zu lange, geht er meist erst nach Hause, wenn er sich leer gemalt hat. Doch unverkennbar hat sich seine Malerei gewandelt, und war es zunächst ein seliges Herumtrödeln, ein Ich-werde-nicht-erwachsen-Gefühl mit Modellautos und Hubschraubern, das aus seinen Bildern sprach, so tritt nun eine Verlorenheit hervor, ein In-sich-selbst-Verknäultsein, das zu Schrader, der gern und aufgeräumt erzählt, nicht recht zu passen scheint. Seine frühen, üppigen Bilderbühnen hätten sich, sagt er, bestens verkauft, oft an irgendwelche reichen Sammler. Mit den Werken jetzt, in kontrollierter Wirrnis erschöpft, sei es schwieriger.

Wegdämmern und Dösen, Ausharren und Zurücklehnen – es ist auf jeden Fall die richtige Kunst für eine Gegenwart in Auflösung, die an den Menschen zupft und zerrt und ihnen nicht gestatten will, was nur Schrader ihnen gönnt: inmitten des großen Geflackers versunken zu sein, bewegungslos und bei sich selbst. Es sind Gegenbilder, aufregend ungeschönt, zweifelnd und weiter auf der Suche. Ein Vergnügen, sich von ihnen mitnehmen zu lassen, von Schraders Freimut angesteckt.

DIE ZEIT, Nr. 7 - S. 41

Link: ART
Link: HP des Künstlers

Auswahl Schraders Werke im Miniformat



bazett: bundesausreisezentren

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bundesausreisezentren - mein gott - so ein wortungetüm, was damit - für mich jedenfalls - an längst vergangene zeiten erinnert ... denn die abkürzung für "bundesausreisezentrum" ist sicherlich "bazett" - und das ist ja so weit nicht entfernt von "kazett" ...

und - können sich alle "willkommenheißer" noch erinnern ... ???: 

kennen sie noch das wort: "willkommenskultur" ??? - doch nun: auf die willkommenskultur folgt die abschiebekultur - willkommenszentren machen platz für abschiebezentren - binnen eines jahres ...

und wer ist hier populistisch - herr schäuble ... ??? - wer reagiert hier über, um sich rechtes gesocks vom leibe zu halten ??? - das ist reiner wahlkampf unter panikattacken - und der bundesrat macht unisono mit - und da radebrecht der dunkelgrüne mp kretschmann was vom "durchschlagen des gordischen knotens", mit dem er sich trotzdem nicht von seinen tief einschneidenden fesseln im kopf befreien kann... 

nur weil ein paar krakeler von afd und pegida hier herumtönen und 10 prozent der stimmen erzielen, vergisst man, dass 90 prozent anderer meinung sind ... - und diese 90 % schlafen  - "is mir doch egal" ...

"bundesausreisezentren" - wissen sie - das klingt von der "wortgestelztheit" schwer nach "erbgesundheitsgericht" - und eben schlichtweg nach "kz" ...
kein kommentar

warum ist vor einem jahr oder früher niemand darauf gekommen, an flughäfen: "bundeseinreisezentren" zu schaffen, um flüchtlinge legal aus ihren herkunftsländern oder aus der region ringsum auszufliegen - ohne schlepper - sondern unter offizieller aufsicht und mit visum - und hier per visum und fingerabdruck in empfang zu nehmen und tatsächlich "willkommen" zu heißen - und gerecht auf wohnungen und übergangsunterkünften ganz rasch zu verteilen - dann könnten wir uns diese "bazetts" sparen - und hätten weniger probleme - 

"hätte - hätte - fahrradkette" ...S!

Schönheit

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Die Schönheit | >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> S!NED!|art


Unsichere Weltlage
Schöner leben, Leute!

Die Kulturen der Welt treiben auseinander. Doch in der Wertschätzung des Schönen scheinen sie sich gar nicht so fremd zu sein. Über die verbindende Kraft der Schönheit.

Von Björn Hayer - click here

Merkel tritt virtuell bereits zurück ...

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Fake-News-Forschung

Wie sich Lüge vor die Wahrheit legt

Selbst Facebook setzt im Kampf gegen Fake News vorerst auf das menschliche Urteil. Anders das von der EU geförderte Projekt „Pheme“. Dort wird an maschineller Auslese gearbeitet.
14.02.2017, von FRIDTJOF KÜCHEMANN | F.A.Z.

Das Pro-Sieben-Magazin „Galileo“ machte kürzlich ein Experiment: Mit einer speziellen Bildbearbeitungstechnik und einer Stimmenimitatorin ließ man es so aussehen, als träte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor die Presse und gäbe ihren Rücktritt bekannt. Die Fälschung war täuschend echt und zeigte, wie Fake News aussehen können. Lesen Sie hier mehr ...


Merkel und die Biometrie-Maske: Galileo - prosieben



herzblutend | meine hommage an diesen blöden valentinstag

CHARLIE HEBDO: MÄNNERMORDENDE MERKEL

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Nach Trump-Cover des "Spiegels"

"Charlie Hebdo" lässt Merkel ihren Rivalen köpfen

Das Cover des "Spiegel", auf dem Trump die Freiheitsstatue geköpft hat, sorgte für große Diskussionen. Nun zieht "Charlie Hebdo" nach und drückt Angela Merkel ein Messer in die Hand.

In der neuen deutschsprachigen Ausgabe nimmt sich die Satire-Zeitschrift "Charlie Hebdo" der deutschen Kanzlerin an. Das Titelblatt präsentiert Angela Merkel mit bluttriefendem Messer in der linken Hand, in der rechten Hand hält sie den Kopf von Martin Schulz. Ihren Gegenkandidaten bei der Bundestagswahl 2017 hat sie also offenbar gerade geköpft. 



Am Rande der Karikatur ist das "Spiegel"-Cover zu sehen. US-Präsident Donald Trump hält dort den abgetrennten Kopf der Freiheitsstatue in der Hand. "Spiegel-Leser ausser Rand und Band", ist zudem auf dem Titelblatt von "Charlie Hebdo" zu lesen.

Damit geht die französische Zeitschrift gleichzeitig auf zwei Aufreger-Themen der vergangenen Woche ein: Neben dem "Spiegel"-Cover sorgte auch der Hype um Martin Schulz für Schlagzeilen. Seit bekannt ist, dass er für die SPD kandidiert, verzeichnet seine Partei einen kräftigen Aufschwung. Laut einer Umfrage lagen die Sozialdemokraten in dieser Woche zum ersten Mal seit 2006 vor der CDU.
"Charlie Hebdo" solidarisiert sich mit dem "Spiegel"

Doch mit der Karikatur wollte "Charlie Hebdo" gar nicht Merkel angreifen, sondern dem "Spiegel" beistehen, wie die Chefredakteurin der deutschen Ausgabe, die unter dem Pseudonym Minka Schneider tätig ist, klarstellte.
Der "Spiegel" musste für sein Trump-Cover heftige Kritik einstecken. So sehe ein geschmackloser, hyperventilierender Journalismus aus, lautete der Vorwurf. Das negative Echo sei schockierend, so Schneider der Deutschen Presse-Agentur.

Presserat beschäftigt sich mit "Spiegel"-Cover

"Den Vorwurf, gegen gute journalistische Sitten zu verstoßen, kennen wir in- und auswendig", schrieb die "Charlie Hebdo"-Redaktion in einer Kolumne. "So sitzen wir im gleichen Boot, denn im Zentrum der Polemik, bei Euch wie bei uns, steht die Debatte um Meinungsfreiheit und die Art und Weise, wie man sie nutzt. Oder nicht nutzt." Sich an den "Spiegel"-Titel anzulehnen, sei eine Geste des Respekts gegenüber den Kollegen in Hamburg, sagte Schneider.
Das Motiv, das jetzt sowohl der "Spiegel" und "Charlie Hebdo" benutzt haben, erinnert stark an die Propaganda-Videos des IS.  Die Terroristen verbreiten gerne Aufnahmen von demonstrativen Enthauptungen. Mit dem "Spiegel"-Cover muss sich jetzt der Deutsche Presserat beschäftigen. 16 Beschwerden gingen bislang bei den Medienwächtern ein. Während die einen die Opfer von Terroranschlägen verhöhnt glauben, sehen andere die Menschenwürde verletzt.

stern.de

der theodor der hält ...

"Beuys" - der Film

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"Beuys" bei der Berlinale

Der Großkünstler als Selbstdarsteller

Andres Veiels Dokumentarfilm „Beuys“ präsentiert im Wettbewerb eine Hommage – und entdeckt den Humor der 


Anstoß-Erreger. Joseph Beuys nach der Räumung der Kunstakademie in Düsseldorf, 1972.FOTO: ERICH PULS/KLAUS LAMBERTY © ZEROONEFILM/ STIFTUNG MUSEM SCHLOSS MOYLAND - hier vom blogger S! schnöde coloriert wiedergegeben: Kunst lebt ... ...








Ein Schamane und eine Ikone, auch als Person. Joseph Beuys, der Mann mit dem Hut, lange vor Udo Lindenberg, er war und bleibt der neben Günter Grass berühmteste deutsche Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und zu den für manche überraschenden Momenten in Andres Veiels großem Dokumentarfilm „Beuys“ mag nebenbei die Bemerkung eines amerikanischen Journalisten gehören: dass Beuys Anfang der Achtziger vor Andy Warhol und Robert Rauschenberg der teuerste Artist in der Manege des internationalen Kunstmarkts war.

Da hätte als Pointe ganz gut gepasst, wie bei einer Feier des SPD-Ortsvereins Leverkusen-Alkenrath im Museum zwei Parteigenossinnen die Gläser spülen wollten und in einer Abstellkammer eine mit Heftpflastern und Mullbinden verschmuddelte alte Badewanne fanden, die sie vorm Abspülen erstmal reinigten. Freilich war’s: eine zwischengelagerte Beuys-Installation. Wobei es sich laut Künstler um die Wanne gehandelt habe, in der er geboren wurde. Später putzte ein Hausmeister der Düsseldorfer Kunstakademie versehentlich auch mal Fettreste weg, die gleichfalls originaler Beuys-Talg waren. So etwas kommt in „Beuys“ leider nicht vor.

Dennoch gehört es zu den Vorzügen der (heute genretypisch) ohne eigene Kommentarstimme und fast nur aus authentischem historischen Foto- und Filmmaterial montierten Doku, dass Andres Veiel in seinem politisch wie ökologisch engagierten, zudem die eigene Geschichte mystifizierenden Titelhelden auch den Mann des (rheinischen) Humors entdeckt. Den Schlagfertigen.

Der menschenfreundliche Beuys war auch ein Menschenfänger

So gibt es den Verweis auf eine – ursprünglich aus Berlin stammende – Arbeit von Beuys, bei der er 24 aus der DDR importierte, mit Filzrollen und Fett bepackte Holzschlitten an einen alten VW-Bus gebunden hatte. Die im In- und Ausland gezeigte Installation nannte er „Das Rudel“.

Veiel hat dazu in den Archiven Ausschnitte einer Podiumsdiskussion gefunden, bei welcher der (hier ungenannte) rechtskonservative Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen, der bereits zu NS-Zeiten eine Rolle gespielt und nach 1945 seine Karriere fortgesetzt hatte, den Schöpfer des „Rudels“ der Scharlatanerie bezichtigt. Warum er statt der Schlitten nicht genauso gut „Kinderwagen“ genommenen habe! Worauf Beuys dem aggressiven Ressentiment mit einem charmanten Lächeln entgegnet: „Die Kinderwagen überlasse ich gerne Ihnen. Mal sehen, ob Sie daraus etwas Interessantes machen können.“ Der Saal lacht, und man sieht, der menschenfreundliche Beuys („Jeder Mensch ist ein Künstler“) war auch ein fabelhafter Menschenfänger.

Das Material ist spröde, die Montage sprüht vor Intelligenz

Andres Veiel, spätestens seit „Black Box BRD“ (2001) einer der wichtigsten deutschen Dokumentarfilmer, hat seinen „Beuys“ mit radikaler Entschiedenheit komponiert. Er verzichtet darauf, berühmte Werke wie „zeige deine wunde“ oder den zuerst in Venedig präsentierten „Tram Stop“ im heutigen digitalen Hochglanz neu abzulichten. Das bedeutet wegen der optischen Sprödigkeit des meist schwarzweißen Altmaterials auch einen Verzicht auf äußere Brillanz. Man muss sich die Suggestivität der Beuys’schen Arbeiten und seinen Begriff der „sozialen Plastik“ im Zusammenhang mit den öffentlichen Auftritten der Person so eher selber im Kopf zusammenreimen.

Das Arrangement der Ausschnitte und ihre formale Montage aber sprühen vor Intelligenz. Kritik am Künstler-Guru gibt es in dieser Hommage freilich kaum, Veiel vertraut einfach auf die durch seine Bilder vorgegebene historische Distanz und die mit ihnen ausgelöste Reflexivität. Das Problem der 107 Filmminuten ist nur: Beuys bleibt sich, von Hut bis Fuß, meist gleich. Er ist ein Selbstdarsteller, kein als Verwandler je überraschender Schauspieler.

tagesspiegel.de 14.02.2017 -

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Veiels Film „Beuys“ im Wettbewerb

Hemmungslose Hagiografie

Wir lernen nur, dass der Mann wahnsinnig charismatisch war. Und gewinnend. Und auf die Menschen zuging: Andreas Veiels Film „Beuys“.

So cool wurde er selten in Szene gesetzt wie in der ersten Sequenz von Andreas Veiels „Beuys“: sitzt auf einem Hocker und blättert in der Filmkritik, während im Hintergrund „Clergy“ von den Fugs läuft. Leider erfahren wir nicht, wer dem rastlosen Erweiterer des Kunstbegriffs diesen Kontext gespendet hat, so wenig wie wir etwas über die Herkunft der zahllosen folgenden Bilddokumente erfahren, auch wenn mancher Zusammenhang sich aus bekannten Moderatorenstimmen erschließt; jedenfalls der Generation 50+.

Kontext hat einen schweren Stand in dieser hemmungslosen Hagiografie. Wir lernen vor allem, dass der Mann wahnsinnig charismatisch war. Und gewinnend. Und auf die Menschen zuging. Er konnte toll lächeln, was man mindestens 20-mal sieht. Wer es nicht sieht, kann es sich hier von Ulrich van der Grinten oder Klaus Staeck sagen lassen, die das gerne bestätigen: Der Mann hatte Charisma.

Es gibt keinen Off-Kommentar. Fünf dem Meister extrem wohlgesinnte Weggefährten kommen sparsam zu Wort. Den Rest besorgt das zur Verfügung stehende Material von Performances, öffentlichen Diskussionen, Fernsehauftritten, Interviews aus der BRD und den USA. Beuys als lachender Provokateur, als Virtuose der inkonsistenten Rede, des mal sympathischen und dann wieder unerträglichen Begriffs-Hopping.
Nur in Amerika fühlt mal jemand dem Schamanen kritisch auf den Zahn – und erntet als Antwort ein charismatisches Lächeln und ein „Doch!“ oder „Ja, das sehen Sie so!“. Nur in Deutschland, wo sich junge Künstler_innen noch an Arnold Gehlen abarbeiten müssen, löst solch fröhliche Argumentverweigerung so gewaltige und zustimmende Heiterkeit aus.

Alternative zur Humorlosigkeit der Linken

Natürlich hat Beuys andere Verdienste, als „über Marx hinausgegangen zu sein“ (ein Zeitzeuge), und warum sollte jeder Mensch ein Intellektueller sein? Aber der Film tut so, als wäre der alles anfassende und infizierende Beuys-Geist nicht in erster Linie eine künstlerische Lockerungsübung, sondern, wie der Regisseur denn auch in der Presse zu Protokoll gibt, die Alternative zur vermeintlichen Humorlosigkeit der Linken.
Aber wie hat sich Beuys denn zu den echten Linken verhalten, wie kam überhaupt die Welt um ihn herum bei ihm vor: Was konnte man denn in den 1960er und 70er Jahren wissen, vor allem in der Kunst? Wie verhielt er sich zu den kritischen Intellektuellen, die in den USA um ihn herum konzeptuelle Kunst entwickelten, wie zu den Kolleg_innen des Fluxus? Hat er verstanden, was er in der Filmkritik las?

Beuys wird hier eher nostalgisch von der provinziellen Öffentlichkeit der alten BRD her konstruiert, nicht von einer globalen Kunst. Die Patina sich auflösender MAZ-Bilder und die Papageifarben der ersten Nordmende-Color-Generation rahmen ihn ein, während lustige Vögel von früher durch die Bilder schlüpfen: Ein noch ganz zugewachsener Henryk M. Broder bemerkt (einmal im Leben zu Recht), dass „politisch arbeitende Menschen“ mit Beuys’ Programm nichts anfangen können, oder der vor Ewigkeiten verstorbene, apfelförmige FAZ-Magazin-Kolumnist Johannes Gross ist als Eröffnungsredner bei einer Warhol-Ausstellung zu sehen.

Es fehlt: der „hässliche Beuys“

Was ganz fehlt, ist der „hässliche Beuys“: der Anthroposoph, Esoteriker, Spitzenkandidat der AUD und Erfinder seiner biografischen Legenden. Dabei wäre eine kritische Würdigung genau das, was einer zwischen religiöser Verehrung, Dämonisierung und komplettem Desinteresse in falschen Alternativen festgefahrenen Beuys-Rezeption gut täte: eine kritische Würdigung, die die Politik dieses Künstlers vor dem Hintergrund dessen entfaltet, was es um ihn herum gab und was nur durch ihn. taz

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"Beuys" im Berlinale-Wettbewerb

Die Kunst des Hakenschlagens

Der zweite Deutsche im Berlinale-Wettbewerb, ein Dokumentarfilm über Joseph Beuys: Regisseur Andres Veiel über „Beuys“ und die Frage, in welcher Welt wir leben wollen. VON CHRISTIANE PEITZ

Herr Veiel, Sie sagen, Joseph Beuys war ein Held Ihrer Jugend. Wann haben Sie zum ersten Mal von ihm gehört?

Ich war in Stuttgart-Degerloch auf einem leistungsorientierten Gymnasium. Wir malten Aquarelle, durften die Farbe Grün nicht benutzen, weil die Kunstlehrerin eine Grün-Allergie hatte, und sollten die Bilder möglichst noch durchs Waschbecken ziehen, damit die Farben nicht zu kräftig werden. Mit 17 trampte ich zur Documenta, da war dieser Fettberg, und nebendran ließ Beuys Honig durch ein Leitungssystem pulsieren. In unserem Vorort wäre eine Fettecke sofort der schwäbischen Kehrwoche zum Opfer gefallen. Schon deshalb haben meine Freunde und ich Beuys dann zitiert. Im Supermarkt besorgte ich Margarine mit abgelaufenem Verfallsdatum, wir nahmen Bügeleisen und hängten fetttriefende Bilder vor die Heizung. Dann fuhren wir sie auf einem Schlitten zum Württembergischen Kunstverein. Dort hieß es: Sauerei! Beuys war unser Einsager, ein Pate, der die Provokation nutzte, um Kommunikation zu ermöglichen.

Und wie kamen Sie darauf, sich Beuys noch mal genauer anzuschauen? Seine Kunst ist ja nicht vergessen.

Eine Initialzündung war die Ausstellung im Hamburger Bahnhof 2008. Es war kurz nach der Finanzkrise, und da sagt dieser Künstler, dass Geldströme um den Planeten pulsieren, die sich aus sich heraus vermehren, die Blasen bilden und großen Schaden anrichten. Er forderte eine Demokratisierung dieser Geldkreisläufe, damit das Geld da ankommt, wo es gebraucht wird, und nicht da, wo es den meisten Ertrag bringt. Die Grünen verweigerten ihm einen sicheren Listenplatz für die Bundestagswahl, das kam einem Rauswurf gleich. Da wagte sich einer vor, wurde ausgelacht, dabei stellte er eine fundamentale Frage: Wollen wir diese Welt so, wie sie von anderen gestaltet wird? Welche Welt wollen wir?

Macht ihn das wieder aktuell?

Ja, denn im Moment überlassen wir die Zukunft den anderen, den Populisten, die sich nach einem neuen Nationalstaat sehnen, nach Abgrenzung. Das bedient den Groll derer, die alle vier Jahre ihr Kreuzchen in der Wahlkabine machen, sich nur noch regiert fühlen und auf eine vermeintlich bessere Zeit zurückschauen, die es nie gegeben hat. Beuys ging ja noch weiter. Er sagte, das Denken ist eine kreative Kraft, jeder Mensch hat das Potenzial, Gesellschaft zu gestalten und deshalb hat jeder das Anrecht auf Kredit. Niemand verstand, dass er keinen Bankenkredit meinte, sondern ein bedingungsloses Grundeinkommen. Er drückte sich oft rätselhaft aus, war geprägt vom Vokabular des Anthroposophen Rudolf Steiner. Ich wollte das gerne enträtseln. 2013 hatte ich endlich Zeit und bat Eugen Blume, damals Leiter des Hamburger Bahnhofs, mich ins Medien-Archiv mit 200 Stunden Film und 150 Stunden Audio-Material zu Beuys zu lassen. Viele Wochen lang bin ich jeden Morgen dorthin und blieb, bis der Schließer mich am Abend hinausbat.

Was war denn beim Sichten die größte Überraschung?

Der Humor. Beuys hat viel von einem Hasen. Auf Podien und in der Politik begegnete man ihm oft mit Häme, aber er löst es im Witz auf, schlägt Haken, ist gleich wieder woanders und unterläuft das Ideologisch-Missionarische, das man ihm sonst leicht unterstellen könnte. Eine Revolution, bei der gelacht werden darf, das ist sehr undeutsch. Sogar die Linke witterte Verrat.

Und was wurde Ihr roter Faden bei der Auswahl aus den Unmengen Materials?

Dass es gerade die Verletzungen waren, die Krisen, die Traumata wie der Absturz als Flieger im Zweiten Weltkrieg, aus denen er Kraft schöpfte. Und der Gedanke, wenn ich es schaffe, dann kann ich das vielleicht auch auf den kranken gesellschaftlichen Körper übertragen. Beuys hat nie von Utopien gesprochen. In seinen Augen war alles da, es musste nur gedacht werden. In diesem Sinne war er ein Romantiker, der Marx von den Füßen auf den Kopf stellte: Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Für die Linken klang das verdächtignach Novalis, nach Goethe. Die Grünen fanden auch, dass einer, der in den Künstler-Charts der Zeitschrift „Capital“ ganz oben neben Warhol rangiert, nicht zu ihnen passt.

Sie haben mit vielen Zeitzeugen gesprochen. Warum haben Sie sich trotzdem dafür entschieden, über 90 Prozent des Films nur aus Original-Material zu gestalten?

Ich dachte zuerst, es geht nicht ohne Zeitzeugen. Wir drehten 20 Interviews, hatten 60 Stunden Material und ließen schließlich fast alles weg. Das Anekdotische hätte sonst überhand genommen. Man sieht auch keins seiner Kunstwerke heute, viele sind in den Museen geradezu hingerichtet worden. Es fehlt die Patina der verfallenden Materialien, die Aura, Beuys selbst. Ich wollte kein totes Material in sterilen weißen Räumen mit Luftbefeuchtern im Film haben. Auf den Originalfotos von Ute Klophaus, die etwas Überstrahltes haben und den Raum öffnen, wird dagegen die Aufladung deutlich. Beuys’ Kunst transformiert Traumata, ohne dass sie sich in biografischer Logik erschöpft.

Ihre Cutter, die Editoren Stephan Krumbiegel und Olaf Voigtländer saßen über ein Jahr im Schneideraum, oft ohne Sie. Konnten Sie als Kontrollfreak das aushalten?

Manchmal wurde ich ganz schön nervös. Ich bin ein Kommandant der Poesie, habe ein erzählerisches Ziel vor Augen. Zum Beispiel wusste ich, in den Kontext Kriegstrauma passen 20 der 20 000 Fotos, dazu die Aussagen der Zeitzeugen. Der eine sagt, es war so, wie Beuys es erzählt, er stürzte auf der Krim ab, die Tartaren rieben ihn mit Fett ein und wickelten ihn in Filz, so hat er überlebt. Der andere sagt, das ist eine Legende, eine Mythisierung. Und ein Dritter steuert die Vorgeschichte bei, das Faszinosum Luftwaffe, Göring, von Richthofen. Aber dann entwickelte einer der Editoren die Flieger-Geschichte ausschließlich aus Archivmaterial. Jugendliche mit Modellflugzeugen, die Hitlerjugend, die Bomben lädt und bei der Vernichtung assistiert, schließlich Beuys in der Kanzel. Der ewige Stuka-Kämpfer, der den Erdboden touchiert und in letzter Sekunde die Maschine hochreißt, ein Lebensbild.

Der Film verzichtet auf Erläuterungen und setzt auf die Montage voller Splitscreens und Kontaktbögen mit Lochstreifen. Warum die rasanten Kompositionen?

Wir wollten das Haptische der analogen Zeit zeigen, als die Bilder noch eingekringelt oder markiert wurden. Man hört auch die elektrischen Kippschalter, die Tonbandgeräusche. Wir wollten die Technik von damals aufleben lassen, mit allen Möglichkeiten der digitalen Animation von heute. Dieser spielerische Umgang passt gut zu Beuys.

Und wie kompliziert war es, all die Rechte für die Fotos und Filme zu bekommen?

Mit der Witwe Eva Beuys haben wir einen 60-seitigen Vertrag abgeschlossen, mit einer Liste von Werken, die wir zeigen können. Schwieriger war es teils mit den Öffentlich-Rechtlichen Sendern und mit dem Bundesarchiv, die pro Minute zunächst 9000 oder 10 000 Euro verlangten. Ein ärgerliches Politikum, denn so wird kulturelles Erbe im digitalen Zeitalter unzugänglich. Es war bitter, denn manchmal fiel mit einem fehlenden Bild eine ganze Sequenz in sich zusammen.

Noch einmal, ausgerechnet Sie, der Meister der Talking Heads, bauen eine Erzählung auf Dokumenten auf?

Es ist besser so. Jetzt weht es aus der Ferne heran und geht weit über das Biografische hinaus. Ich musste mich mit meinen Erzählgewohnheiten aushebeln, denn das lineare Denken hilft bei Beuys nicht weiter.

Aber es fiel Ihnen schwer?

Am schwersten war es beim Schluss. Die erste Fassung endete klassisch mit dem größtem Feind des Menschen, mit dem Tod, dem eigenen Verschleiß, dem Scheitern an der Welt. Beuys flog nach Japan, um Geld aufzutreiben, das erste Schlussbild zeigte ihn als einsamen, alten Mann in einer leeren Flughafenhalle. Danach noch, als Grabbeigabe, sein „Palazzo Regale“, den er kurz vor seinem Tod 1985 realisierte. Ich umarmte die Editoren, war sehr berührt. Dann zeigte ich den Film jemandem, der in Amerika gelebt hat, er meinte: typisch deutsch! Ihr müsst eure Helden immer scheitern und sterben lassen, in Amerika würde man so einen doch feiern! Das hat gesessen. Fünf Monate lang tasteten wir uns an einen neuen Schluss heran. Jetzt endet der Film mit der Energie der 7000 Eichen in Kassel und einem noch jungenhaften Beuys, der über die gemeinsame Arbeit spricht, Politik neu zu denken.

Haben Sie bei der langen Arbeit an diesem Film etwas von Beuys gelernt?

Humor, gerade in diesen finsteren Zeiten, Energie, Zähigkeit. Es lebe der Hase!

Christiane Peitz Redakteurin tagesspiegel.de 


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Zur Person
Andres Veiel (57) ist gebürtiger Stuttgarter und lebt in Berlin. 
Der Durchbruch als Filmregisseur gelang ihm 2001 mit der Dokumentation "Black Box BRD"über den Bankenmanager Alfred Herrhausen und den RAF-Terroristen Wolfgang Grams. 
2011 zeigte er seinen ersten Spielfilm "Wer wenn nicht wir" im Wettbewerb der Berlinale. Veiel arbeitet auch für das Theater, wo sein Stück "Der Kick" aufgeführt wurde. Bei der Uraufführung seines Werks "Das Himbeerreich" 2013 führte er selbst Regie.


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Original-Photographie von Walter Vogel: Joseph Beuys (aus der Aktion Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt in der Galerie Schmela) - hier vom blogger S! schnöde coloriert wiedergegeben: Kunst lebt ... ...





Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt (WIKIPEDIA)

Ablauf

Zu Beginn der Aktion in der Galerie Schmela in Düsseldorf versperrte Beuys die Tür von innen und ließ die Besucher draußen. Sie konnten den Vorgang nur durch Fenster beobachten. Seinen Kopf vollständig mit Blattgold, Goldstaub und Honig bedeckt, begann er, dem toten Hasen die Bilder zu erklären: Mit dem Tier auf dem Arm, und offenbar im Zwiegespräch mit ihm, ging er durch die Ausstellung, von Objekt zu Objekt. Erst nach drei Stunden wurde das Publikum in die Räume gelassen. Beuys saß dabei, den Hasen auf dem Arm, mit dem Rücken zum Publikum auf einem Hocker im Eingangsbereich.

Interpretation und Kontext

Die Aktion gilt als Höhepunkt von Joseph Beuys’ Entwicklung eines erweiterten Kunstbegriffs, die ihren Ausgang bereits in seinen Zeichnungen der 1950er Jahre nahm. Distanziert und ironisch zelebriert er das Ritual des „Kunst-Erklärens“ durch seine de facto (für das Publikum) schweigende Aktion.

Charakteristisch für Beuys war in dieser Aktion auch die Beziehung zwischen Denken, Sprechen und Gestalten: In seiner letzten Rede Sprechen über Deutschland (1985) betonte er, eigentlich ein Mensch des Wortes zu sein. An anderer Stelle sagt er: „Wenn ich spreche (…), versuche ich die Impulse dieser Kraft einzuführen, die aus einem volleren Sprachbegriff fließen, welcher der geistige Begriff der Entwicklung ist.“ (zitiert aus dem Buch von Martin Müller, s.u.). Diese Einbeziehung von Sprache und Reden in die bildnerischen Werke kommt in Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt deutlich zum Ausdruck.

Der Hase ist ein Tier mit jahrhundertealter, umfassender Symbolbedeutung in allen Religionen: In der griechischen Mythologie der Liebesgöttin Aphrodite zugehörig, bei den Römern und Germanen Symbol der Fruchtbarkeit, christliches Symbol für Auferstehung (siehe auch den Artikel Hase in der Kunst). Er wird bei Beuys zu einem vielschichtigen und Interpretationsspielräume öffnenden Bestandteil der Performance. Indem Beuys mit dem toten Hasen die eigentliche lebendige Symbolbedeutung konterkariert, kann dieser beispielsweise als Symbol für Wiedergeburt aufgefasst werden. Diese Interpretation wird auch unterstützt durch die „Maske“, die Beuys während seiner Performance trägt: Gold als altes Symbol für Reinheit, Weisheit und die Kraft der Sonne, Honig als germanisches oder indisches Mittel für Regeneration und Wiederbelebung.


colorierter Film-Still - TV-Porträt 2001 - beuys tv

„Für mich ist der Hase das Symbol für die Inkarnation, Denn der Hase macht das ganz real, was der Mensch nur in Gedanken kann. Er gräbt sich ein, er gräbt sich einen Bau. Er inkarniert sich in die Erde, und das allein ist wichtig. So kommt er bei mir vor. Mit Honig auf dem Kopf tue ich natürlich etwas, was mit denken zu tun hat. Die menschliche Fähigkeit ist, nicht Honig abzugeben, sondern zu denken, Ideen abzugeben. Dadurch wird der Todescharakter des Gedankens wieder lebendig gemacht. Denn Honig ist zweifellos eine lebendige Substanz. Der menschliche Gedanke kann auch lebendig sein. Er kann aber auch intellektualisierend tödlich sein, auch tot bleiben, sich todbringend äußern etwa im politischen Bereich oder der Pädagogik.“
– Beuys

Ebenso kann die Beziehung Mensch – Hase betrachtet werden: „So vermute ich, dass eher der tote Hase die Bedeutung der Kunst begreift, als der sogenannte gesunde Menschenverstand. Der menschliche Betrachter zeigt sich ohne jedes Verständnis, da er schon immer alles verstanden hat, noch bevor er überhaupt richtig hingeschaut hat, d.h. im Wettlauf mit dem Hasen gefällt er sich in der Rolle des Igels.“ (Marcel Chromik).

Mit dem Dadaismus hatten die Aktionen der Fluxusbewegung die Vergänglichkeit und Zufälligkeit gemein, neu war die Einbeziehung von alltäglichen Handlungen, der Person des Künstlers oder des Künstlerkollektivs in das Kunstwerk als solches.

Die Performance gilt als ein Schlüsselwerk von Beuys. Sie wurde 2005 von Marina Abramović im Solomon R. Guggenheim Museum, New York, noch einmal nachgestellt, um auf ihre Aktualität auch für die zeitgenössische Kunst aufmerksam zu machen. Christoph Schlingensief, der sich über viele Jahre intensiv mit dem Werk von Beuys auseinandersetzte, integrierte die Performance in stark abgewandelter Form in seine Theaterstücke Atta Atta (2003) und Attabambi-Pornoland (2004).


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wenn der begriff "legendär" auf irgend jemanden zutrifft, dann auf joseph beuys, dem anthroposophen und schamenen, dem mystiker und raffinierten selbstvermarkter, dem gründungsmitglied der "grünen" - und dem erweiterer des kunstbegriffes... 

mit seinem universalen kunstbegriff hat er diese ehrfuchtsvolle göttin "kunst" aus dem vermeintlichen himmel gezogen - und sie hier auf die erde gesetzt: auf alte ddr-holzschlitten hinter einem alten vw-bulli - mitten - platsch - hinein in das spritzende fett, den ranzigen talg - in den herzpumpernden honig - eingerollt in wärmenden filz - und jedes ungelenke zeichen, jeder hingehauene stempel an den rechten platz: alles wird im augenblick zur kunst ...

und - als anthroposoph wusste er auch, dass jede künstlerische schöpfung immer im einklang mit der natur und mit gott geschieht: die schöpfung nachschöpfen - im guten sinne "aus-schöpfen" ohne raubbau zu betreiben - und dabei bediente er sich durchaus ur-christlicher metaphern und motive - wie man das ja am 3-hasen-fenster am paderborbner dom gut sehen kann ...

ob nun seine rettung durch krim-tataren nach dem bomber-absturz als bordfunker - und deren fürsorgliche pflege mit talg und filz eine gut erfundene legende ist, oder ob sie tatsächlich so stattgefunden hat, oder ob sie joseph beuys nur im trauma-wahn und im dahindämmern "gesehen" hat - im inneren "er-leben" und "er-fühlen" - als "gesichte" und als "geschichte" - das sei mal dahingestellt ...

feststeht, dass jedes eigene fantasie-"erleben" immer auch eine "schöpfung" ist - "kunscht" ist - und die subjektive "wahrheit" ist ... - denn eine objektive "wahrheit" kann es ja gar nicht geben - weil jeder mensch seine von ihm gefilterten aufnahme- und ausdruckskanäle hat, durch die er wahrnimmt und durch die er sich reproduzieren kann. 
"warum nehmen sie schlitten - und keine kinderwagen für ihre rauminstallation ?" - "die kinderwagen lass ich ihnen - schaffen sie damit etwas, was anderen gefällt" -
so ungefähr war der dialog zwischen einem ziemlich rechtslastigen kritiker und joseph beuys - angesichts seiner "rudel"-installation mit den filzberollten schlitten hinter dem alten vw-bulli ... besser kann man "kunscht" nicht beschreiben: kunst "ist" nicht - sondern kunst ist ein schöpfungsprozess, der niemals endet - und auf dem sich sogar staub-patina ablegen darf ... S!

bleib bei deinem leisten

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S!NED!|photography: bleib deinem leisten ...

beuys und franz von assisi - gunnar decker über "beuys"

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man kann ja zur zeit auf allen kanälen und in allen medien betrachtungen zu dem "berlinale"-beitragsfilm "beuys" von andres veiel lesen, sehen und hören ... und mal sind sie so sacht, so beflissen, so stromlinienförmig - und spiegeln sie als auftragsarbeit wider - und mal wissen die jungen damen und herren redakteure sooo viel auch nicht mit dem künstler anzufangen - und meinen: ach - das war dieser 68-er, der hatte doch ne silberplatte im kopf - sagt man - und seitdem einen an der mütze - bzw. nen pony unter seinem hut ... -  
oder man kann - wie hier der autor gunnar decker sich richtig reinknien - in den film und die biografie - und kann parallelen finden - sogar zu franz von assisi, über den decker geschrieben hat - und der erstaunlicher weise ein großteil seiner erkenntnisse  und überlegungen vor 800 jahren ebenfalls in zum teil wortlosen oft paradoxen "aktionen" bzw. "performances" zum ausdruck gebracht hat ... 
und weil dem so ist - muss ich einfach diese hervorragende besprechung aus dem "neuen deutschland"(!) zum film und zum leben von "beuys" hier zum besten geben ... S!

beuys tv - coloriert

Leben? Verschleißen!

Im Wettbewerb: »Beuys« von Andres Veiel

Von Gunnar Decker | neues deutschland | 16.02.2017

Es gibt Szenen von und mit Joseph Beuys, die haben etwas Irritierendes. Etwa jene, wie er sich auf einer documenta in Kassel in den 70er Jahren einen Behälter mit weißen Flocken über den Kopf kippt. Ein anderes Mal gießt jemand eine Kanne mit Wasser über ihm aus. Danach gab’s Beifall für die Aktion, die das, was man gemeinhin für Kunst hält (ein Werk!), gründlich verabschiedet.

Reden wir gar nicht über seine berühmt-berüchtigte »Fettecke« oder die »Honigpumpe« - letztere hat Andres Veiel, den Regisseur dieses Dokumentarfilms über Joseph Beuys, als Jugendlichen stark beeindruckt. Auf sehr spezielle Weise. Er kam aus der tiefsten westdeutschen Provinz nach Kassel, diese, nun ja, halbprovinzielle Kunstmetropole der alten Bundesrepublik, und war erstaunt. Wer bei ihm zu Hause mit Fett und Honig herumschmieren und das Ganze noch dazu Kunst nennen würde, der bekäme schnell einen feuchten Scheuerlappen um die Ohren gehauen. Ein antiautoritärer Akt der Befreiung war es also schon mal. Andere schüttelten damals den Kopf und tun es heute vermutlich immer noch: So wenig meisterlich, so unfeierlich sah man die Kunst selten.

Beuys: ein Verfallssymptom? So meinten die Hüter akademischer Normen. Aber andere Sichten liegen näher. Ich denke an einen anderen Störer des falschen Friedens, der fast achthundert Jahre früher als Beuys lebte, aber seltsamerweise etwas ganz Ähnliches tat: Franz von Assisi. Er entschied sich für einfache, aber provozierende Handlungen, wo man von ihm viele wohlgesetzte Worte erwartete. Ein Symbol aber bedarf keiner handwerklichen Meisterschaft der Ausführung, es muss nur eines: den Nerv der Zeit treffen. Die Performance erfand bereits der Mann aus Assisi. Als man von ihm eine Predigt über die Demut hören wollte, stellte er sich vor seine Zuhörer, nahm einen Krug mit Asche und schüttete ihn über sich aus. Kein Wort sagte er und ging nach dieser »Aktion« von der »Bühne« ab, die Zuschauer verblüfft zurücklassend. Nicht sehr originell, aber wirkungsvoll. Mehrmals in seinem Leben zog er sich aus Protest nackt aus - das Beispiel machte Schule, bis heute.

Womit gesagt ist, so ganz neu sind die Protestaktionen nicht, derer sich die Achtundsechziger im westdeutschen Wohlstandsbiedermeier bedienten. Joseph Beuys als ihre Ikone beteten sie geradezu an.

Veiel macht nun etwas wenig Spektakuläres, aber für jeden Biographen durchaus Richtiges. Er zeigt uns die Lebensstationen von Beuys und lässt ihn dabei so viel wie möglich selber sprechen. Fast handelt es sich hier um eine Collage aus Originalfilmmaterial verschiedenster Zeiten, nur ab und zu (wohltuend selten) wird dieser große Bilderteppich aufgebrochen mit Kommentaren über ihn.

Und da zeigt sich aus dem historisch gewordenen Abstand (Beuys starb 1986), was jenseits der grellen Aktionen von ihm und der Schlagzeilen über ihn dennoch geblieben ist: ein widerständiges Prinzip, das sich dem Zwang zum Konsens entzieht, jedes falsche Ganze sabotiert. Beuys Haltung zu sich und der Welt ist eine antiideologische, er schärft die Sinne und weckt die Skepsis. Die Dinge, die uns so selbstverständlich sind, könnten auch etwas ganz anderes, sogar das Gegenteil von dem sein, was sie vorgeben zu sein. Ein sich als Demokrat feiern lassender Politiker kann in Wahrheit ein totalitärer Geist sein, ein Nazi, der dem Machtwahn verfallen ist und machtlose Menschen bloß als Material benutzt. Alles ist möglich, finde es heraus, bilde dir selbst ein Urteil von der Welt und den Menschen. Der Einzelne, wenn er frei sein will, ist ein Anarchist, nie ein Gefolgsmann von was auch immer. 1982 gipfelt diese Haltung von Beuys in dem sehr agitatorisch-kämpferischen Slogan: »Lieber Sonne statt Reagan.« Das ist gut, das hat etwas von John Heartfield.

Das war die Zeit, da sich Beuys direkt in die Gründung der Grünen einmischte - bis man ihn auch dort (das scheint das Gesetz von Parteien zu sein) ausbootete. In den Bundestag wollten Schily und Vollmer den schrillen Aktionskunststar nicht mitnehmen. Er hatte seine Schuldigkeit getan.

Außergewöhnlich ist die Entscheidung, Veiels »Beuys«-Dokumentarfilm im Berlinale-Wettbewerb laufen zu lassen auf jeden Fall. Aber es ist eine gute Entscheidung, weil sie sich den Grundfragen des Schöpferischen zuwendet. Wie wird man zu dem, der man schließlich ist? Ein nachdenkliches Porträt über einen ebenso nachdenklichen Menschen. Dass er sich auch kämpferisch oder auf lustvolle Weise unterhaltsam geben konnte, häufiger als vermutet lachte (auch über sich selbst), nimmt von dieser Nachdenklichkeit nichts fort. An Beuys, das war eine mich unerwartet treffende Beobachtung, ist nichts bloßer Augenblickseinfall, nichts effektvolles Spiel mit Oberflächen. Dieser Mensch arbeitete sich mit bitterem Ernst an dem falschen Schein von Wirklichkeit ab. Auch deshalb sprach er wohl so häufig von der Macht der Ökonomie, die man überwinden müsse, dem Fetisch der Ware und dem Geld, das die falsche Ordnung der Dinge zementiere. Was er wollte: auch diese Verhältnisse zum Tanzen bringen.

Die frühen Freunde sagen es Veiel in die Kamera: Beuys lebte aus einer Wunde heraus. Er wusste sich als Außenseiter jeder Gesellschaft, er war wie gestorben und auferstanden. Wer seine Kriegserfahrungen und die Wüste der Nachkriegszeit nicht ernst nimmt, wird das nicht verstehen. Als Flieger stürzt er 1944 während eines Blindflugs über der Krim ab, überlebt schwer verletzt und ist zwei Wochen bewusstlos. Später wird er behaupten, Tataren hätten ihn gefunden und in Fett eingerieben gerettet. Pure Legende, so sagen seine Kritiker. Beuys habe sich viel ausgedacht, besonders Übelmeinende nennen das sogar »Lügen«. Seine manifest-ähnlichen Positionierungen sind für sie inhaltsleere Rhetorik. Aber das ist falsch.

Beuys hat selbst von seinen Fieberträumen gesprochen, die in der Zeit der Kriegsverletzungen eingesetzt hätten und wohl nie mehr aufhörten. Man habe ihn damals nicht nur vom Himmel geschossen, sondern ihn auch »zerschossen«. Was seine Rettung war, die Chance, ein Anderer zu werden. Unmittelbar nach dem Krieg beginnt er sein Kunststudium, aber dann passiert viele Jahre lang nichts. Er hat keinerlei Erfolg, fühlt sich bereits ganz und gar am Ende, wird schwer depressiv. Einige eindrucksvolle Blätter aus dieser Zeit bezeugen das.

Und dann rettet ihn Ende der 50er doch wieder etwas: das Fett, das ihn - sei es real oder geträumt - bereits einmal als abgeschossenen Piloten rettete. Seine Provokationen des Kunstbetriebs waren ganz in Fett, ein unangenehm flüssiges Medium, getaucht. Das war zum schnellen Verbrauch bestimmt. Kunst ist Lebensmittel - und jeder ist Künstler, so Beuys. Ein wichtiger Anspruch, damals Ende der 50er Jahre im Wirtschaftswunderland BRD, auch ein Tabubruch.

Was wurde dann daraus? Was offenbar mit jeder Revolution passiert, sie mündet in die Restauration. Provokation wurde zur Ware und auf die pointierten Slogans stürzte sich sofort die Werbung. Ein neuer Markt entstand, der mit Aufmerksamkeit handelte. In dieser unserer Zeit der Selbstdarsteller, die niemals auf den Gedanken kommen würden, nicht jeder sei zum Künstler berufen, muss man sich das kriegsbeschädigte Gesicht von Joseph Beuys wieder vor Augen führen: seine Wut auf die bloß simulierte Provokation und alles bloß Beliebige.

Wenn sich die Lebenswunde nicht schließt, dann hilft nur eins: sich verschleißen im Kampf um die eigene Form gegen eine feindliche Außenwelt.

Joseph Beuys war Hauptperson des Fluxus-Festivals in der Technischen Hochschule Aachen: Er trat am 20. Juli 1964 mit blutender Nase, Kruzifix und erhobenem Arm vor das akademisch geprägte Publikum. (HAZ - coloriert)



Rudi Dutschke & Joseph Beuys - beide standen am anfang der "grünen"

schwarzbraun ist die haselnuss ...

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um der wahrhaftigkeit willen muss ich nun auch noch eine beuys-biografie-besprechung aus dem "spiegel" von 2013 bringen, in der die jugend von joseph beuys und das umfeld und die legenden und diese nähe insgesamt zur ns-zeit und ns-vergangenheit aufgezeigt und beleuchtet wird ...

ich war hier in ostwestfalen-lippe am rande der gründungsversammlungen der grünen damals anwesend - und habe mich eine kurze zeit mit blenden lassen von der "aud" und dem in der biografie eine rolle spielenden august haußleiter. und hier in detmold gab es auch "grüne" anfangsgruppierungen aus dem rechten weltbild - z.b. einen verlag, der über das "germanische heiligtum" der externsteine bei horn berichtete - und über andere "germanische" mythen und seelen der bäume und wälder und tiere - und über berechnungen des standortes der externsteine zu einer meridianberechnung der erde usw. - vieles davon sicherlich braunverbrämte spinnerei - vieles aber auch von den anthroposophen geschürtes gedankengut und von der damals schwer in mode kommenden "esoterik" mit "tarot-karten" und erdmagnetismus, mit "geomantie" und kraftzentren und der heilkraft der edelsteine ...

ich will damit nichts beschönigen, aber ich glaube, dass im menschen eine solche affinität zu derlei gedankengut angelegt ist - die bei einer "sensiblen gesinnungsphase" ringsum auch ohne skrupel abgerufen werden kann ... - wir sehen das ja just in den aufmärschen von afd und pegida und dem phänomen "trump" oder dem phänomen "hoecke" und dem phänomen "nsu" - und sehen das in vielen kleinen verschlafenen orten in der ex-ddr oder sogar hier und da mitten in der westdeutschen großstadt dortmund und oft ziemlich krass auf den rängen der bundesliga-stadien - natürlich anders ablaufend mit den sozialen medien im internet im rücken - als etwa in den 20er-/30er jahren - mit dem weltweiten (!) slogan "back to the roots" damals mit seiner erb- und rassenlehre, die ja immer noch in der flüchtlingsfrage eine wichtige rolle spielt (z.b. die bezeichnung "nafri")- damals mit den beginnenden massenmedien von film, radio und später dann dem tv - und einem "propagandaministerium"...

aber schon zur reformation bediente sich bewusst oder unbewusst luther ebenfalls eines massenmediums zur verbreitung seiner ideen mit hilfe des buchdrucks in deutscher sprache für jedermann, die des lesens nach und nach mächtig waren ...

immer war es der dünkel des besserwissens gegenüber anderen - gegenüber der "dummheit": und davon muss bei joseph beuys natürlich auch ausgegangen werden: am verschlafenen niederrhein geboren, mit einem so zwielichtigen guru wie anarchasis cloots im kopf und den ideen des rudolf steiner.

jedenfalls: zur "machtergreifung" adolf hitlers war beuys (geboren 1921) gerade mal 12-/ 13 jahre alt ... - und auf alle fälle ein fantasiebegabtes kind mit eigener schmetterlingssammlung, einem herbarium und sicherlich auch kosmos-experimentierkästen ... - 18-/19 jahre alt war er zu kriegsbeginn - und 23-/24 jahre alt beim abschuss über der krim und der kopfverletzung ... - also - soooooo tiefbraun kann es mit ihm ja nicht gewesen sein - wenigstens nicht brauner als bei allen deutschen zeitgenossen, die in ihrer schulzeit mit diesem denken aufwuchsen und infiltriert waren ... -

"beuys war ein großer Künstler", sagt der regisseur oskar roehler, "der wichtigste, den wir hatten." - vielleicht ein großer narr, der die leute zum narren hielt. - "ihn politisch zu beurteilen hieße, ihn kleinzumachen."S!

beuys in schwarz-weiß-malerei - S!|art



13.05.2013

ZEITGESCHICHTE

Kunstborn

Der Autor Hans Peter Riegel hat eine Biografie über Joseph Beuys verfasst, in der er die Ikone der Nachkriegs-Avantgarde als Ewiggestrigen enttarnt - mit auffallend vielen engen Kontakten zu Alt-Nazis.

Beuys sei sein Leben lang gestorben, hat seine Witwe einmal gesagt. Im Januar 1986 gab sein Herz tatsächlich auf. Urnen mit seiner Asche wurden in der Nordsee versenkt. Seitdem wird er regelmäßig wiederbelebt. Als Mythos, als Heldenfigur, als Heiliger der jüngeren Kunstgeschichte, als Erneuerer auch der politischen Szene. Er ist in diesen fast 30 Jahren größer geworden, schließlich unantastbar. Ein deutsches Denkmal.

Joseph Beuys, geboren 1921 am Niederrhein, ist für viele der einzige echte Avantgardist der Nachkriegszeit, weil er ein Provokateur war, jemand, der die Grenzen des Gewohnten unumkehrbar aufgebrochen hat. Er schuf eine Kunst der Honigpumpen und Fettkeile, er baute Werke aus Rost, Baumrinde und Erdklumpen, er erfand eine Bildwelt in Braun und Grau. Und er inszenierte Performances, in denen er mit Hasen sprach oder ihre Kadaver mit dem Messer zerlegte, Happenings, in denen er Klaviere kaputtschlug oder in Filz eingerollt zur lebenden Mumie wurde. Joseph Beuys war der Düsseldorfer Kunstprofessor, der nach seinen Protestaktionen, nach der daraus folgenden fristlosen Kündigung von der Polizei aus der Akademie geführt werden musste.

Jeder hatte eine Haltung zu Beuys, seinetwegen begannen in den siebziger Jahren die Leute über Kunst zu sprechen, auch wenn sie sich meistens nur empörten. Er pflanzte in Kassel 7000 Eichen und spaltete auch damit das Land, und er verstärkte, wann immer es möglich war, die Ablehnung noch. Die Mauer beispielsweise, die Berlin teilte, hielt er für zu niedrig. Für die bessere Proportion fehlten fünf Zentimeter, schrieb er. Heute klingt das lustig.

Damals aber lachte man ihn und sein Werk aus, und was da immer mitklang, war auch die Angst der Leute vor dem Unangepassten. Die, die ihn mochten, bewunderten ihn genau deswegen.

Der Autor einer neuen Beuys-Biografie, Hans Peter Riegel, will nun zeigen, wer dieser Mann wirklich war. Weder Kunstspinner noch unschuldiges Genie, sondern: eine ziemlich gestrige und gefährliche Figur(*).

Joseph Beuys war, was sowieso nicht umstritten ist, ein Anhänger der Lehren Rudolf Steiners, des 1925 verstorbenen Gründers der Anthroposophie (und der
darauf basierenden Waldorfpädagogik). Er hat sich Riegel zufolge sogar für den neuen Steiner gehalten, für einen Auserwählten, war besessen von Steiners Okkultismus, von dessen Rassentheorien, den abstrusen Ideen einer germanischen Seele, eines deutschen Geistes, einer besonderen Mission dieses Volkes. Beuys habe Steiners Weltbild einsickern lassen in seine symbolschwere Kunst, und zwar in jedes einzelne Werk.

Zugleich habe sich Beuys mit lauter Ex- und Alt-Nazis umgeben, sie seien seine Mäzene gewesen und seine politischen Mitstreiter. Beuys war einer der ersten Grünen, er sprach viel von Demokratie. In letzter Konsequenz, so sagt Riegel, habe der Künstler - und da sei er wieder Steiner und dessen verqueren Idealen gefolgt - eine totalitäre Gesellschaft angestrebt.

Riegel empfängt in einem mit dunklem Holz vertäfelten Raum in einer Zürcher Villa, dem Besprechungszimmer seiner PR-Agentin. Er trägt Anzug, hat Aktenordner und Laptop dabei. Er spricht viel, vielleicht, weil es eine Angewohnheit ist, vielleicht weil er angespannt ist. Sein Buch wird als eine Provokation ganz eigener Art aufgefasst werden.

Er ist inzwischen Schweizer Staatsbürger, stammt aus Deutschland. Während seines Studiums in Düsseldorf hat er als Assistent für den Maler Jörg Immendorff gearbeitet. Später war er Berater, auch Organisator verschiedener Ausstellungstourneen des Malers. Riegel war da bereits in die Werbebranche gewechselt, wurde dann Unternehmensberater.

Vor drei Jahren brachte er, ebenfalls im Berliner Aufbau Verlag, ein Buch über den verstorbenen Immendorff heraus, er ging nicht zimperlich um mit dem alten Freund. Für die großen Skandale, in denen Kokain und Prostitution eine Rolle spielten, hatte Immendorff in seinen letzten, von schwerer Krankheit geprägten Lebensjahren selbst gesorgt; Riegel aber beschrieb den Maler als Mann ohne Talent, und das war wohl die größere Schande.
Jetzt also Beuys, der Lehrer Immendorffs. Riegel, Jahrgang 1959, kannte ihn früh persönlich, er hat die Hassliebe zwischen Beuys und Immendorff miterlebt und war lange eine Art Kurier zwischen den beiden. Riegel hat unter anderem Kunstwissenschaft studiert. Sein Buch aber beschreibt weniger den Künstler als den Menschen Joseph Beuys, dem die Experten Riegels Meinung nach zu wohlmeinend, zu gutgläubig begegnet sind.

Manches, was nun aufgedeckt werden soll, ist einigermaßen bekannt. Anderes erscheint verzeihlich. So soll Beuys nach Recherchen Riegels nie das Abitur abgelegt haben, obwohl er das nach dem Krieg offenbar behauptet hat. Sonst wäre es ungleich schwieriger geworden, den Studienplatz an der Düsseldorfer Akademie zu erhalten.
Riegel will zeigen, dass der Künstler ein geübter Lügner war. Es gibt die sogenannte Tatarenlegende von Beuys, die davon handelt, wie der damalige Funker einer Stuka 1944 über der Krim abstürzte und von Tataren gerettet wurde, die seine Wunden mit tierischem Fett pflegten und ihn in Filz einwickelten, um ihn zu wärmen. Die Schilderung, von ihm oft wiederholt, wurde zu seinen Lebzeiten kaum angezweifelt und erst Jahre nach seinem Tod als Erfindung entlarvt. So manches Detail wurde weiter überliefert: Bis vor kurzem glaubten selbst viele Kunsthistoriker, Beuys habe wegen seiner Verletzungen eine Metallplatte im Kopf tragen müssen.

Ein Lebenslauf war für ihn etwas, was man nachträglich gestalten kann, eine Art formbare soziale Plastik. Wahrscheinlich war es selbst für ihn verblüffend, wie leicht er durchkam mit seinen Umdeutungen und Uneindeutigkeiten.

Wenn Beuys vom Krieg und vom "Dritten Reich" erzählte, klang das immer so, als hätte er eine andere Diktatur und einen anderen Krieg erlebt. So, als wäre alles nicht so schlimm gewesen. So, als wäre dieses Kleve, eine Provinzstadt am Niederrhein, in der er aufwuchs, nicht ganz so durchdrungen vom NS-Wahn gewesen wie der Rest Deutschlands. So, als hätte es im Krieg unter Soldaten eher philosophische Gespräche gegeben als grausame Verbrechen. Tatsächlich war Beuys eine Zeitlang in der Nähe eines KZ stationiert und erlebte gerade in den letzten Kriegswochen heftigste Gefechte, ein regelrechtes Gemetzel von Mann zu Mann.

Zugleich betonte er seine Tapferkeit im Krieg. Er sei, erzählte er später, mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausgezeichnet worden. Was, wie Riegel schreibt, kaum stimmen könne. Gern erweckte Beuys den Anschein, Pilot und nicht nur Funker gewesen zu sein.

Ganz sicher gehörte Beuys einer Generation an, die selbst freudig Helden verehrte, die verblendet und begeistert in den Krieg zog und dann traumatisiert wurde. Viele waren Schuldige geworden, aber wollten sich und anderen das nicht eingestehen. Eine zerrissene Generation.

Riegel sagt, man habe all das Widersprüchliche an der Person lange übersehen. Vielleicht war das so, weil Beuys anders als viele seiner Altersgenossen nicht alles verschwieg: weder, dass er freiwillig in den Krieg gegangen war, noch, dass Pazifismus seiner Meinung nach Feigheit sei. Er schien zu seinen Abgründen zu stehen, und das ließ ihn ehrlicher erscheinen.

Beuys redete viel, war aber kein begnadeter Rhetoriker. Die Kunst war seine Ersatzrhetorik. Beides lebte davon, ein wenig unklar zu sein. Man konnte sie so deuten, wie es gerade zu passen schien. So wurde Beuys stilistiert als eine Instanz zur Aufarbeitung der Vergangenheit. "Auschwitz Demonstration" heißt eine Arbeit aus dem Jahr 1968. Eine Vitrine mit Objekten, die das Schreckliche des Holocaust andeuten soll. Gezeigt wird ein Lageplan der Baracken in Auschwitz, dazu die Heizplatten eines Elektroherds und große Quader aus Fett. Wieder alles grau, braun, düster.
Diese Vitrine gehört zu einer großen Gruppe von Arbeiten, die von dem Unternehmer Karl Ströher erworben wurden. Ströher, Jahrgang 1890, wurde Ende der sechziger Jahre einer der wichtigsten Mäzene und Sammler von Beuys. Ströhers Familie gehörte das Darmstädter Haarkosmetik-Unternehmen Wella.

Unbekannt ist Ströhers Rolle während der Hitler-Jahre. Beuys-Biograf Riegel zieht aus einer Hülle die Kopie eines Urteils, das 1949 verhängt wurde, Ströher zu einem "Belasteten" erklärt und eine zehnmonatige Gefängnisstrafe vorsieht. Der Unternehmer hatte der NSDAP hohe Summen gespendet und in seinen Firmen von Rüstungsaufträgen profitiert.

Ströher hatte einst an Hitler geschrieben, weil ihm als Freimaurer "die schönste Ehre des Deutschen, im neuen Heere dienen zu können", nicht zuteilwerde. Doch wolle er "am Aufbau des neuen Reiches" mitarbeiten. Nach 1945 schwieg Karl Ströher, noch heute gilt der 1977 Verstorbene als großzügiger Unterstützer der Kunst-Avantgarde.
In Beuys' Umfeld tauchen etliche solcher Figuren auf. Er hat, absichtlich oder nicht, für viele die Türen hinein in die Gesellschaft geöffnet. Dank Beuys wurde man wahrgenommen, dank ihm stand man mit auf der richtigen Seite. Riegel zeigt Kopien weiterer Dokumente, auf denen beispielsweise die NSDAP-Mitgliedschaft von Erich Marx vermerkt ist. Marx gilt heute als einer der wichtigsten Mäzene in Berlin, er war Bau- und Klinikunternehmer, sein Name als Kunstförderer ist vor allem mit dem Namen Beuys verknüpft. Seine Sammlung ist im Museum Hamburger Bahnhof in Berlin untergebracht.

Oder Karl Fastabend. Ab 1932 Mitglied der NSDAP, von 1933 an bei der SS, später Hauptscharführer. Jahrzehnte später verfasste er für Beuys Schriften, war eine Art Medienreferent für ihn. Fastabend schrieb und sprach über die "Schicksalsfragen des Volkes" oder den "Volkswillen". 1971 gründete Beuys mit Fastabends Hilfe die Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung.

Oder August Haußleiter, ein früh von der NS-Ideologie überzeugter Journalist. In den sechziger Jahren dann gründete er die Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher. Für diese rechtsgerichtete Gruppierung trat Beuys 1976 als Kandidat bei der Bundestagswahl an. Beuys und Haußleiter gehörten dann zu den Mitbegründern der Grünen.

Haußleiter hatte mit seiner Frau, einst eine BDM-Gauführerin, auch die Demokratische Lebensschutzbewegung gegründet. Einer der Repräsentanten war ab 1974 Werner Georg Haverbeck - noch eine zwielichtige Gestalt mit NS-Karriere, die schon Jahre vor der Machtergreifung beim Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund begann. Dann kam der Eintritt in die SS, das Amt als HJ-Reichsschulungsleiter. Nach dem Krieg wurde er Priester, gründete 1963 das Collegium Humanum, das - sehr viel später - unter anderem wegen Leugnung des Holocaust verboten wurde. Er entdeckte wie viele Alt-Rechte das Thema Ökologie, wurde sogar Berater in Umweltschutzfragen von SPD-Minister Egon Bahr. Auch mit Beuys saß Haverbeck in Gruppen und Gremien.

Es waren verworrene Zeiten. Braun und grün schlossen sich so wenig aus wie anthroposophisch und ewig rechts. Im schwäbischen Ort Achberg entstand eine eigene anthroposophische, ziemlich deutsch gesinnte Bewegung, getragen auch von Leuten wie Haußleiter. Dann gab es da Wilhelm Schmundt, Anthroposoph und Ex-Nazi, dessen Bruder Chefadjutant von Hitler war, der selbst dem Stab der Raketenforscher in Peenemünde angehörte. Jahrzehnte später gedachte er der großen Aufgabe, die Deutschland "im Chor der Völker" habe, er forderte neue Geld- und Gesellschaftssysteme. Beuys nannte ihn "unseren großen Lehrer".

Im November 1985, wenige Wochen vor seinem Tod, hielt Beuys eine Rede in den Münchner Kammerspielen zum Thema Deutschland. Er sprach dabei über die Möglichkeit einer Auferstehung Deutschlands auch durch die deutsche Sprache, die der Born, die Quelle, sein könne für ein neues Land. Eine Sprache, die letztlich zur leiblichen Gesundung führen könne und ein tiefes Fühlen ermöglichen werde "für das, was auf dem Boden geschieht, auf dem wir leben". Ein "Heilungsprozess an diesem Boden", auf dem wir alle geboren seien, sei denkbar, sagte Beuys. Es sei "ein hohes Ziel anzustreben, das man nennen könnte: die Frage nach der Aufgabe der Deutschen in der Welt" - und dann nennt er noch den "deutschen Genius".

Ähnlichen Irrsinn hatten die Sprachwissenschaftler des "Dritten Reichs" formuliert. Beuys traf solche früheren Blut-und-Boden-Philologen bei den Anthroposophen in Achberg, dieser Heimstätte für offenbar viele Leute mit Vergangenheit. Diese gehörten wie er dem "Ständigen Jahreskongress Dritter Weg" an, der im Sinne Rudolf Steiners neue Wege beschreiten wollte.

Auch Beuys' Schwiegervater Hermann Wurmbach, ein bekannter Professor für Zoologie, hatte während des "Dritten Reichs" Karriere gemacht. Nach dem Krieg aus Universitätsdiensten entlassen, konnte er bald wieder einsteigen in den Wissenschaftsbetrieb. Riegel hat einen Vortrag gefunden, den Wurmbach 1942 an der Universität Bonn auf einer Veranstaltung des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbunds hielt und der die Schaffung einer gemeinsamen Sprache als "volksbildende Kraft" thematisierte. Das Volk stehe über allem und müsse sich zugleich einordnen "in die große biologische Aufgabe". "Fremde Rassen würden ... stören", sie seien "Fremdkörper".

Vieles hätte man längst genauer wissen können, offener thematisieren sollen. Beuys, darauf läuft es in Riegels Buch hinaus, hat sich nie ganz emanzipiert von der völkischen Grundstimmung seiner Jugend, noch weniger vom älteren Kult Steiners ums Nordische, Germanische, Völkische. Er war demnach kein ausgewiesener Antisemit, glaubte aber an die besondere Bedeutung der Deutschen.

Dafür, dass er sich nie distanziert haben soll, könnten auch Besuche von Treffen ehemaliger Kriegskameraden noch in den Siebzigern zeugen. Riegel besitzt Kopien entsprechender Fotos. Beuys mit einem Glas Bier zwischen Männern, die so alt sind wie er, aber gesetzter erscheinen und ihn vorsichtig anhimmeln.

Beuys war ein gefragter Professor. Nicht wenige selbstbewusste Künstler gingen aus seiner Klasse hervor. Hätten sie, die das Progressive suchten, sich wirklich auf einen Gestrigen eingelassen?

Er feierte doch das Unschöne, Unharmonische. Seine Installationen waren Gegenstücke zur Ästhetik der Nazis. Seine Kunst war der Inbegriff von Documenta-Kunst, irgendwie kritisch, scheinbar links. Aber selbst die Documenta 1972 absolvierte er, der Teilnehmer, mit seinem Freund Fastabend, dem Ex-Nazi.

Kokettierte er mit der Vergangenheit der Deutschen, um sie zu provozieren? Es wäre die Antwort, mit der die Bewunderer seiner Kunst am besten leben könnten.

Der Regisseur Oskar Roehler sei, so ist von Riegel zu erfahren, an der Biografie interessiert. Roehler ist erst noch dabei, das Buch zu lesen. "Beuys war ein großer Künstler", sagt er aber, "der wichtigste, den wir hatten."Ein großer Narr, der die Leute zum Narren hielt."Ihn politisch zu beurteilen hieße, ihn kleinzumachen."

Riegel hat versucht, mit Eva Beuys in Kontakt zu treten, der Witwe. Eine Absage kam schriftlich, nicht von ihr, sondern von der VG Bild-Kunst, einer Gesellschaft zur Verwertung von Bildrechten. Frau Beuys habe, teilte die Gesellschaft dem Biografen mit, keine Gelegenheit, über das Buchprojekt zu sprechen.

(*) Hans Peter Riegel: "Beuys. Die Biographie". Aufbau Verlag, Berlin; 596 Seiten; 28 Euro.
Von Ulrike Knöfel

aus: DER SPIEGEL 20/2013

ArtVideo & Cantata

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Cantata 

Singet, Lobsinget mit Hertzen und Zungen

Sinfonia
Tutti 
Aria Soprano e Alto. Ritorrnelo. Tenore e Basso
Tutti

Goldberg Baroque Ensemble
Marie Smolka - soprano
Franziska Gottwald - alto
Hermann Oswald - tenore
Markus Flaig - basso

Andrzej Szadejko - conductor

Beten im Motorentakt ...

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THOMAS BAYRLE
Gebete und Motoren

Von PETER IDEN | FR


Im Kunstbau des Lenbachhauses in München setzt Thomas Bayrle Maschinen in Bezug zu Formen des frommen Gebets. Wie geht das?

Man geht nicht fehl, Thomas Bayrle, dessen Anfänge als Maler und beachtlicher Zeichner zurückreichen in die Zeit um 1960, den erfolgreichsten Frankfurter Künstler seiner Generation zu nennen. Über die Jahre sind ihm, der seiner Bodenhaftung wegen auch ein hochgeschätzter Lehrer der Städel-Akademie war, viele Ehrungen zuerkannt worden. Seine in der Frankfurter Rundschau zwischen 1980 und 1982 veröffentlichten „Lebenszeichen“, verfasst während eines längeren Aufenthalts in Kalifornien, lesen sich heute als Beiträge zur Dokumentation einer Epoche.

Bildwerke von Thomas Bayrle finden sich momentan an mehreren Orten, als Ankunftsüberraschung in der Eingangshalle des Flughafens von Turin ebenso wie im Institute of Contemporary Art in Miami, es ist seine erste Einzelausstellung in den USA, und auf näherliegendem Terrain auch im sogenannten Kunstbau in München, einem langgestreckten, ursprünglich als U-Bahn-Station geplanten Trakt, der von der Städtischen Galerie im Lenbachhaus zu einer Halle für Wechselausstellungen umfunktioniert wurde und bespielt wird. Hier sind in einer aufgelockerten Präsentation Arbeiten des Künstlers zu sehen, von denen einige bereits im unübersichtlichen Kontext der Kasseler documenta von 2012 gezeigt wurden.

In München wird nun klarer als damals in Kassel, welch enormen Spannungsbogen Bayrle riskiert, indem er nämlich Maschinen in Bezug setzt zu Formen des frommen Gebets. Wie geht das? Die Ausstellung ist bestückt mit Automotoren, die aufgeschnittenen sind, so dass die in ständiger Bewegung gehaltenen Kolben und Zahnräder in ihrem Zusammenspiel sichtbar werden, eine Erfahrung, die für manchen lehrreich sein mag, der über die Funktion des Antriebs in seinem Wagen Genaueres nicht weiß oder womöglich auch lieber nicht wissen will. Die Motoren verschiedener Hersteller, für die Demonstration ihrer (ähnlichen) Arbeitsweisen geöffnet, werden gleichsam ummantelt von Ton-Collagen, die ihre Herkunft in Gesängen der kirchlichen Liturgie haben.

„Rosenkranz“, 2009.  Foto: Thomas Bayrle, VG Bild-Kunst, Bonn 201

Auf diese zweifellos seltsam eigenwillige Verbindung ist Bayrle nach eigener Darstellung durch Kirchgänge gebracht worden, bei denen er Gelegenheit fand, den Rosenkranz betende Katholiken zu beobachten. Die monotone Repetition der immergleichen Gebetstexte und Fürbitten, gerichtet an und unterwegs in die Ewigkeit, versteht der so gelenkig wie waghalsig sich zwischen den Welten spiritueller und technischer Bemühungen tummelnde Artist, als Parallelfall zu der allerdings leider, da Motoren bekanntlich endlich sind, nicht auf Ewigkeit hin ausgelegten Wiederholung maschineller Abläufe.

Wobei hinsichtlich mindestens der Funktionen von Gebet und Motor einige Differenzen zu bedenken sind: Von dem einen werden Leistungen als Gnade des unbekannten Adressaten mit ungewissem Ausgang erhofft, während die von der Maschine erwartete Leistung von dieser im Regelfall relativ zuverlässig auch erbracht wird. So zuverlässig, dass sie – was einst Jean Tinguely im Garten des New Yorker MoMA vorgeführt hat – sogar dazu veranlasst werden kann, sich selbst zu zerstören.

Noch ein anderer Unterschied von Gebet und Maschine liegt darin, dass das Beten schon selber, als Akt des Gläubigen, auf Rettung zielt – während Maschinen zwar notwendige Produktionsprozesse und damit das praktische Leben erleichtern können, ihr Einsatz aber zugleich Gefahren impliziert, die den Benutzer sich als Täter und Opfer erleben lässt. Was das Beispiel gerade des Automotors belegt.

Das ironisch Kritische hat sich gehalten

Diese kritische Dimension von Phänomenen, die für die Massen- und Konsumgesellschaft prägend sind, hat Bayrle schon früh beschäftigt. Gegen Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts realisierte er Objekte, manchmal in sich beweglich, in denen aus Hunderten von seriell gereihten Gesichtern ein großes gebildet wurde, das „Great Face“, etwa die Physiognomie Marilyn Monroes, zusammengesetzt aus den entindividualisierten Gesichter ihrer Bewunderer. Nach Art verstellbarer Jalousien konnten die Oberflächen dieser Bildkästen, mit Hilfe von dahinter montierten Elektromotoren, so verändert werden, dass dann die Züge der Monroe sich fließend in die Maos verwandelten. Aus gleichartigen Einzelteilen entstand, durch deren serielle Wiederholung, eine übergreifende Form, zu der die Reihung der Einzelelemente sich kommentierend verhält: Die Masse schafft die Idole, die Monroe wie Mao.

Das Spielerische, ironisch Kritische an Bayrles Kunst hat sich bis heute gehalten. In München sind unter den ausgestellten Motoren auch solche, die wie in Autos jeweils zwei Scheibenwischer antreiben: Für einen heiteren Augenblick mag man in den gleichmäßig ins Leere sich wiederholenden Bewegungen der Wischer etwas von dem bedeutet sehen, was am Kulturbetrieb dessen routinierter Selbstbezug ist.

Lenbachhaus München, Kunstbau: bis 5. März. Zu der Ausstellung liegt ein Künstlerbuch vor, hrsg. von Matthias Mühling und Eva Huttenlauch. www.lenbachhaus.de

Fußball-Weisheiten

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Fußball-Weisheiten

Der Ball ist rund. 
Das Spiel dauert 90 Minuten. 
Das nächste Spiel ist immer das schwerste. 
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.

Das Spiel ist erst dann aus - wenn der Schiedsrichter abpfeift - und wenn Bayern mindestens den Ausgleich geschossen hat ...

eingehüllter sündenfall ...

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eingehüllter sündenfall | S!NED!|art

frosch in der ktu

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S!|art: frosch in der ktu ...

von solchen dingen singen ... raoul schrott und die geschichte der welt

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Vincent van Gogh: Sternennacht, 1889, 74 cm x 92 cm, Museum of Modern Art (MoMA), Öl auf Leinwand

Vor etwa 13,82 Jahrmilliarden entstand aus reiner Energie das Universum. In einem unfassbaren Moment stellten sich die Bedingungen für Materie ein. Nach 380.000 Jahren bildeten sich stabile Atome. Dann vergingen noch einmal einige Millionen Jahre, bis Sterne erstrahlten. Irgendwann war pflanzliches, tierisches und sehr viel später auch menschliches Leben da, das, gemessen an kosmischen Dimensionen, nicht einmal einen Wimpernschlag lang dauert. Raoul Schrott hat das unmögliche Unterfangen gewagt, in seinem Epos "Erste Erde" diese Geschichte der Welt "vom Urknall bis zum Menschen" ohne Metaphysik und Religion poetisch zu entfalten. Seine Erde wird von chemischen Elementen und Prozessen regiert, von physikalischen Gesetzen und biologischen Bedingungen, nicht von unserem eingebildeten Willen oder unserer beschränkten Vorstellungskraft. Wie aber soll man "von solchen dingen singen"? - 

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tja - bei der lektüre dieser buchbesprechung werde ich den verdacht nicht los, als sei das reine verlags-pr: um auf ein ziemlich aufwendig gestaltetes epos aufmerksam machen, das mit 848 seiten und dem verkaufspreis von 68,00 uro
vielleicht etwas zu üppig gestaltet wurde, um das "nichts" oder zumindest die bedeutungslosigkeit unseres soseins zu beschreiben - und wie es dazu gekommen ist ...: alles schön sogar in verse geschmiedet und mit großartiger graphic und typography versehen ...

aber um der aussage einigermaßen gerecht zu werden, hätte es einer auch preislich barrierefreieren und einfacheren aufarbeitung bedurft, um "diese geschichte der welt "vom urknall bis zum menschen" ohne metaphysik und religion poetisch zu entfalten". 

bibeln sind ja gemeinhin mit goldschnitt und ledereinband und gemälde-reproduktionen ausgestattet - die erde des raoul schrott aber "wird von chemischen elementen und prozessen regiert, von physikalischen gesetzen und biologischen bedingungen, nicht von unserem eingebildeten willen oder unserer beschränkten vorstellungskraft". 

aber wenn dem so ist - wie kommen dann von einem autor 848 seiten zustande, aus seinen recherchierten einbildungen und seiner poetischen vorstellungskraft ???

und natürlich ist in dem epos gott tot - sogar mausetot - ... - und selbst unser ehrfürchtiges staunen vor all der sternenpracht und unsere lust am leben - und unsere dankbarkeit dafür, dass es uns und den herrn autor raoul schrott gedanklich erfassbar überhaupt gibt ...

denn "sonnenstaub also sind wir – aus stoff der in sternen entstand" - das wird ja inzwischen schon in schlagern besungen und ist unstrittig - das dergestalt pulverisierte "ich" mag sich als seele auffassen, mag mit stolz auf seine zivilisatorischen leistungen oder seine arbeit blicken, eigentlich aber lässt es sich auf einen rohstoffwert von etwa 40 cent reduzieren: "mein körper die zwei kilo asche die von mir übrigbleiben: vom kohlenstoff über spuren von blei und gold bis zum radium".

wer - um gottes willen - zahlt dafür diese von schrott errechneten 40 cent schrottwert ... eines tages ...???

ach ja: gott ist ja mausetot - und alle theologie sowieso - und alle fragen: woher kommen wir? wer sind wir? wohin gehen wir? usw. sind mit raoul schrott bucgh nun endlich beantwortet: 68 uro für 848 seiten - immerhin ... - und wir erfahren unsere randständigkeit, unser nichts, unsere zufallsentstehung - einmal und nie wieder ... is klar ...

aber der mensch fragt ja immer weiter, lieber herr schrott: wer hat diesen urknall provoziert, woher kommt diese ursprungsenergie - und warum schöpfte es mich aus all dem chaos nach abermilliarden jahren so heraus, dass ich in der lage bin, über das buch von einem gewissen raoul schrott nachzudenken ... ???
schwimmen zwei junge fische des weges und treffen zufällig einen älteren fisch, der in die gegenrichtung unterwegs ist. er nickt ihnen zu und sagt: »morgen jungs. wie ist das wasser?« die zwei jungen fische schwimmen eine weile weiter und schließlich wirft der eine dem anderen einen blick zu und sagt: »was zum teufel ist wasser?« (parabel von david foster wallace)
wer mitten im paradies ist, wird es nicht vermissen - und wer sich im reich gottes längst seit milliarden jahren befindet, wird es auch nach langem suchen kaum finden: "das reich gottes kommt nicht so, dass man es an äußeren zeichen erkennen könnte. man kann auch nicht sagen: seht, hier ist es!, oder: dort ist es! denn: das reich gottes ist schon mitten unter euch ... (lukas 17, 20-21): mit urknall und sternenstaub und allem drum und dran ... S!

"Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?", Paul Gauguin, 1897–98, Museum of Fine Arts, Boston, 139,1 × 374,6 cm, Öl auf Leinwand


ns.:"woher kommen wir? wer sind wir? wohin gehen wir?", zählt heute zu den bekanntesten gemälden paul gauguins und ist eines der wichtigsten werke des symbolismus

Panikattacken in dieser Zeit

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Angst

Mitteilungen einer unheimlichen Gefährtin

Angst ist mächtig und unberechenbar, sie kann plötzlich auftauchen und Leben zerstören. Niemand mag sie. Dabei will sie uns manchmal helfen. Und immer will sie uns etwas sagen.

Von Stephan Lebert

21. Februar 2017, 14:45 Uhr ZEIT Wissen Nr. 2/2017, 21. Februar 2017

Draußen tobt die Welt, und hier drinnen? Ein Zimmer in einer therapeutischen Praxis in Berlin, zwei Stühle stehen sich gegenüber. Blumensträuße und eine große Pflanze sollen dem Raum die Schwere nehmen. Hier drinnen soll es um den Menschen gehen, nur um den Menschen und seine Sorgen, nicht um das lärmende Getöse draußen, nicht um die Ängste der Zeit. Geht das? Der Ort, an dem ein Terrorist vor wenigen Wochen mit seinem Lkw elf Menschen in den Tod gerissen hat, der Breitscheidplatz, liegt keine zwei Kilometer entfernt von der Berliner Praxis.

Nein, das geht nicht. "In den letzten Wochen und Monaten hat sich meine Arbeit mit den Patienten stark verändert", sagt die Therapeutin. Aber anders, als man zunächst meinen könnte. Es geht nicht darum, dass sich ihre Patienten Sorgen machen würden wegen der Flüchtlingssituation (alles dazu lesen Sie auf diesen Seiten) oder dass sie Ängste hätten vor einem terroristischen Angriff. Diese konkrete Welt bleibt scheinbar draußen. Aber da sind die Ängste, die auf diesem Stuhl Platz nehmen, ihr gegenüber, viel mehr als sonst. "Bei vielen Leuten kommen jetzt Dinge hoch, die lange geschlummert haben. Richtige Traumata, die plötzlich ausbrechen. Manche fragen mich: Warum geht das denn jetzt los?" Es sind Ängste aus der Kindheit, ewig verdrängte Ereignisse von früher, die präsent werden. "Es scheint so zu sein", sagt die Berliner Therapeutin, "dass das allgemeine Klima der Unsicherheit, das unsere Gesellschaft gerade beschäftigt, bei Menschen sehr persönliche, eigene Ängste hervorholt, die immer da waren, aber jetzt Alarm schlagen."

Ängste tauchen gerne da auf, wo man sie nicht erwartet. Sie sind nur schwer zu berechnen und zu kategorisieren. Angst ist etwas anderes als Furcht. Furcht ist konkret, man fürchtet sich vor einem wilden Tier, vor dem Scheitern in einer Prüfung, vor einer Operation. Angst ist allgemein – und wirkt oft irrational. Eine Einteilung in große und kleine Ängste bringt nichts, auch nicht in sinnlose Ängste und sinnvolle. Was soll es schon für einen Sinn machen, wenn jemand beispielsweise nicht in der Lage ist, über eine Brücke zu gehen, weil er wahnsinnig Angst davor hat, obwohl es eine ganz normale, sichere Brücke ist?

Manchmal sind Ängste nicht einmal leicht zu erkennen. Matthias war 41, als er eines Nachts aufwachte und nicht wusste, was los war. Er spürte einen Druck in der Brust; als er aufstand, spürte er Schwindelgefühle. Er dachte: Ein Herzinfarkt? Ein Schlaganfall? Er rief den Notarzt. Kam ins Krankenhaus, aus dem er zwei Tage später entlassen wurde. Als körperlich gesund. Die Ärzte zuckten mit den Schultern: Ihnen fehlt nichts, auf Wiedersehen. Es war eine Krankenschwester, die ihn zur Seite nahm: Sie hatten eine Panikattacke, das kann wiederkommen, wahrscheinlich sogar. Suchen Sie sich mal einen guten Psychologen.

Wie bitte, dachte Matthias: Panikattacke, ich? Matthias arbeitet bei einer großen Münchner Versicherung, ist dort so etwas wie ein Star, der Fachmann für Risikoanalysen jeder Art, er verdient knapp 200.000 Euro im Jahr und hatte ein Angebot auf dem Tisch von der Konkurrenz in den USA, der Job würde noch mehr Geld und Denver bedeuten. Privat war er auch nicht unglücklich, im Gegenteil, dachte er: Er hatte noch keine Familie, auch keine feste Beziehung, aber ausreichend Liebschaften, neulich war sogar mal ein Mann darunter gewesen, warum nicht? Im Großen und Ganzen ist doch alles in Ordnung, dachte Matthias. Also beschloss der Meister der Risikoanalyse, den einen Vorfall in der Nacht zu ignorieren.

Das nächste Mal erwischte es ihn nur einige Tage später beim Einparken seines Wagens. Er hatte gerade noch mit seinem Chef telefoniert, das Gespräch war ein wenig kompliziert gewesen, aber macht nichts, kommt eben vor. In zwei Stunden sollte er nach Hause fahren zu seinen Eltern, sie lebten in derselben Stadt, und er hatte noch kein Geschenk für seinen Vater, der Geburtstag hatte. Und im Radio, das brannte sich bei ihm ein, lief gerade ein alter Beatles-Song. Yesterday. All my troubles seemed so far away. Plötzlich bekam er Probleme mit dem Atmen. Er dachte, er wird ohnmächtig, er dachte, er wird verrückt. Er stieg aus dem Wagen. Ein paar Minuten. Dann ging es wieder, er dachte, es ging wieder. Doch dann musste er anfangen zu weinen. Die Passanten schauten ihn an. Es war ihm peinlich. Er setzte sich wieder ins Auto. Und weinte weiter. Eine Stunde lang.

Etwa zehn Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Angststörungen: unter Panikattacken, generalisierten Ängsten oder diversen Phobien, die sie dazu bringen, bestimmte Situationen zu meiden oder sich schlimmstenfalls von der Umgebung völlig zurückzuziehen. Experten sind sich einig, dass es jeden treffen kann, jeder vierte Deutsche muss in seinem Leben damit rechnen. Bei dem einen kommt die Angst früher, bei dem anderen später.

Edvard Munch: Der Schrei, 1893 - Pastell

Angst lähmt, bringt das Leben zum Stillstand

Bei mir, dem Autor dieser Zeilen, war es früher so weit, das muss man wohl so sagen. Meine Familie machte sich schon reichlich Sorgen, weil ich fast drei Jahre alt war und immer noch nicht sprach, jedenfalls nichts, was man hätte verstehen können. Dann kam diese Nacht, ich war längst ins Bett gebracht worden, und draußen gewitterte es, wohl ziemlich stark. Meine Mutter schaute noch einmal nach mir, und da saß ich aufrecht im Bett, ganz weiß im Gesicht, zitternd. Und, so wird es überliefert, ich sagte ganz klar und deutlich: "Angst." Es war das erste Wort, das ich in meinem Leben gesprochen habe. Ein ängstlicher, sensibler Junge, für dieses Etikett hatte ich damit selbst gesorgt. Es sollte mich begleiten.

Der Begriff Angst stammt aus dem Indogermanischen, anghu, und ist verwandt mit dem lateinischen angustus, was so viel heißt wie Enge, Bedrängnis, Beengung. Die Sprache ist weise, denn wenn die Angst regiert, wird die Welt eng und immer noch enger. Wenn sie regiert, ist nichts mehr von Freiheit und Weite da. Angst lähmt, bringt das Leben zum Stillstand.

Es ist nicht leicht, über die wirklichen Ängste zu sprechen, vor allem in der Öffentlichkeit. Ich interviewte einmal einen Berliner Spitzenpolitiker, es war wenige Tage nach dem 11. September 2001, als die Terroristen die Flugzeuge in die Twin Towers in New York steuerten und Tausende Menschen in den Tod rissen. Das Thema des Gesprächs sollte Angst sein, und es war im Vorfeld klar vereinbart worden, dass das Interview nur Sinn macht, wenn der Politiker persönlich wird und über die eigenen Ängste spricht. Okay, abgemacht. Das Interview wurde eine Katastrophe, so sehr, dass es nie gedruckt werden konnte. Auf die Frage, wovor er sich als Kind gefürchtet hatte, antwortete er: Ja, da gab es bestimmt etwas. Und auf Nachfrage ergänzte er: Leider könne er sich konkret an die Ängste nicht erinnern. Albträume? Panikzustände? Ja, ja, durchaus, aber welche genau, das sei ihm leider entfallen. Und so weiter und so fort. Der Mann hatte vielleicht gemerkt, wer wirklich über Ängste spricht, verrät eine Menge von sich. Ein bisschen sensibel wäre er gerne rübergekommen, für das äußere Bild. Aber das? Nein, auf keinen Fall.

Der Erfinder der Psychoanalyse, Sigmund Freud, nannte die Angst den "Knotenpunkt der Seele". Wer sie zu lesen verstehe, schrieb er einmal, könne alles begreifen, was das Seelenleben eines Menschen ausmache. In einer Vorlesung vor Studenten stellte Freud eine Art Formel auf: Es gibt etwas, was Angst auslöst, mehr als alles andere, und das ist die Vermeidung. Wer in seinem Leben zentrale, wichtige Dinge vermeidet, wichtigen Erfahrungen, wichtigen Entscheidungen aus dem Weg geht, zahlt dafür einen Preis. Und dieser Preis heißt Angst.

Man könnte es auch so formulieren: 
Die Angst erinnert Menschen auf ihre eigene Weise daran, was zu tun ist.

Matthias suchte nach der zweiten Panikattacke einen Psychotherapeuten auf. Und es war keine kurze Therapie, die folgen sollte. Matthias musste begreifen, dass sein Leben ein wenig komplizierter war, als er es sich eingestehen wollte. Stück für Stück wurden in der Therapie die ungeklärten Felder seines Lebens freigelegt. Seine mögliche Homosexualität, die er nicht akzeptieren und ganz zulassen wollte, weil er sich fürchtete, das zu Hause zu erzählen. Er war immer der perfekte Sohn gewesen, nie hatte er sich aufgelehnt, seine Eltern waren so stolz auf ihn und seinen beruflichen Erfolg. Matthias war spät, erst mit Anfang zwanzig, ausgezogen. Seine Eltern führten keine glückliche Ehe, er war das einzige Kind. Der Therapeut versuchte ihn aus der Familienstruktur zu lösen, damit er begriff, dass er jetzt sein eigenes Leben führen musste, ohne Rücksicht auf den strengen Vater, dass es egal sein musste, was der von einem schwulen Sohn hält. Freiheit wurde das zentrale Wort der Therapie. Matthias sollte auch verstehen, dass er seine beruflichen Entscheidungen ebenfalls nur einem Menschen gegenüber rechtfertigen muss: sich selbst.

Und seine Panikattacken? Er hatte noch einige zu überstehen. So schnell geht das nicht. Matthias erlernte Techniken, damit umzugehen, dazu gehörte eine bestimmte Methode zu atmen, wenn es losging. Das half. Und Matthias hat heute das Gefühl, er befindet sich auf einem guten Weg. Hält er seine Angstattacken für eine Art Schicksalsschlag? Nein, sagt er, so gerne er darauf verzichten würde, müsse er sich eingestehen: Die letzten Monate seien nicht die schlechtesten in seinem Leben gewesen, "ich spüre eine neue Lebendigkeit in mir".

Angst: das stärkste Gefühl der Welt. Philosophen wie Søren Kierkegaard und Martin Heidegger stellten Angst ins Zentrum ihrer Denksysteme: Niemand könne sich von der Erkenntnis befreien, dass das eigene Leben endlich sei, dass jeder sterben müsse. Kierkegaard war es auch, der bereits Mitte des 19. Jahrhunderts feststellte, dass die Selbstbestimmung des Menschen eine weitere Angstquelle ist, die Möglichkeit der freien Entscheidung produziere oft Unsicherheit. Der französische Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre sah nur eine Chance, aus dem Angstkosmos des Lebens auszubrechen: Der Mensch müsse sich dem anderen zuwenden, nur der andere Mensch, das Gegenüber, könne Halt versprechen.

"Beobachten, was das Angstmonster dann tut"

Der Therapeut Georg Eifert arbeitete lange als Professor an der Chapman University in Kalifornien und ist einer der Mitbegründer der akzeptanzorientierten Verhaltenstherapie. Er verwendet gerne das Bild des Seilziehens: Auf der eine Seite zieht der Mensch, auf der anderen Seite die Angst. Je mehr der eine zieht, desto mehr hält der andere entgegen. "Angstpatienten reagieren in der Regel anfangs immer so: Sie wollen die Angst besiegen. Und früher wurden sie darin von vielen Therapeuten unterstützt." Doch er selbst hält davon wenig, er möchte seine Patienten dazu bewegen, aus dem Seilkampf auszusteigen, einfach das Seil auf den Boden zu legen und zu beobachten, was das Angstmonster dann tut. Eifert hält nichts davon, die Angst als Feind oder Gegner zu beschreiben, "das bringt nichts. Viel hilfreicher ist es, die eigene Ängste zu akzeptieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen." Dazu gehöre natürlich auch, zu lernen, wie man die Ängste aushält.

Die Ängste zu bekämpfen hat nach Ansicht von Eifert noch einen anderen Nachteil: Man nimmt sie zu wichtig. Am Ende besteht das ganze Leben nur noch aus diesen Ängsten. Er versucht eine andere Richtung: Er bittet die Patienten, ihre Angstgeschichte auf zwei Weisen zu erzählen oder aufzuschreiben, zunächst als Tragödie und dann als Komödie. Als Nächstes sollen sie von ihrem Leben erzählen, von allem, nur nicht von ihren Ängsten. Um deutlich zu machen, dass jeder so viel mehr ist als seine Ängste. Dass diese Ängste aber oft eine Botschaft haben an das Leben. Therapeut Etifert fragt seine Patienten auch gerne, was irgendwann mal auf ihrem Grabstein stehen soll. Da habe noch keiner geantwortet: Hier ruht Frau Marianne Müller, die ihre Angstneurosen gut im Griff hatte.

STEPHAN LEBERT
hat einen ziemlich guten Satz in dem Text nicht untergebracht, er stammt vom Soziologen Heinz Bude: "Das Einzige, was wirklich hilft gegen die Angst, ist das Lachen."

Zu mir hat einmal eine Therapeutin gesagt, ich solle mir die Angst als ein Wesen vorstellen: Wie sieht dieses Wesen aus? Vor allem aber: Was will dieses Wesen von mir? Mir einfach nur Angst machen? Oder will es mir vielleicht etwas sagen? Will es eine Warnung loswerden? Oder einen Ratschlag? Ist es ganz ausgeschlossen, dass es mir helfen will? Warnsystem Angst. So muss dieses Gefühl verstanden werden. Das hat Sigmund Freud gemeint, als er vom Knotenpunkt der Seele sprach.

Wenn sich der Alltag in der Berliner Therapeutenpraxis verändert, wenn immer mehr Ängste bei den Menschen hochkommen, dann ist das auch ein gesellschaftlicher Warnruf. Die Angst als Knotenpunkt der Gesellschaft. Die Menschen werden verunsichert durch die politische Situation, etwa durch die Gefahren des Terrors – und reagieren darauf mit eigener Verunsicherung. Die Lösung kann nicht Verdrängen oder Vermeiden sein. Der Soziologe Heinz Bude spricht bereits von der Angstrepublik Deutschland und hat als Hauptursache die Angst vor dem sozialen Abstieg ausgemacht. Die Gesellschaft muss dringend Wege finden, die Menschen mit diesen Gefühlen nicht alleinzulassen.

Der Schweizer Schriftsteller Martin Suter hat einmal einen hübschen Wunsch formuliert. Er möchte sein ganzes Leben wiederholen, Liebesgeschichten, Reisen, Alltagsmomente, alles genau so, wie es gewesen ist, nur mit einem Unterschied: dieses Mal ohne Angst, ohne jede Angst. Wie herrlich wäre das denn. Vielleicht klingt dieser Wunsch auch deshalb so sympathisch, weil er leider gar nichts mit dem Leben zu tun hat.
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Kommentar der Leserin: "greta7"

Schade, dass die, bereits auch wissenschaftlich nachgewiesene, transgenerationale Weitergabe von Traumata in solchen Artikeln nur selten erwähnt wird.

Auch wenn die Zeit des großen Nachkriegs-Schweigens lange vorbei ist, gibt es in fast allen Familien emotional immer noch viel aufzuarbeiten. Die mentale Beschäftigung mit den Kriegsfolgen reicht nicht, um alte Gefühle aufzulösen und Familiensysteme zu heilen.

Und da in der konsumorientierten Ego-Gesellschaft nur Leistung und Ablenkung zählten, müssen Depression und Angst jetzt als Kanal herhalten.

In Zukunft wird das vermutlich noch heftiger werden. Wer verweigert, die alten Gefühle wie Wut und Angst einfach zuzulassen und zu empfinden, der wird von seinem Körper und Geschehnisse im Umfeld nachdrücklich darauf hingewiesen werden.

Das ist keine Panikmache sondern eine Entwicklung, die der Zeitqualität einfach entspricht.

Angst & Familiengeheimnisse: click here

Panikattacken, PEGIDA, AfD, Erna Kronshage - und die Spiegelneuronen - eine Rechtfertigung

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„Die Vergangenheit ist vorbei, 
und doch tragen wir im Jetzt unseres Seins 
vieles aus der Vergangenheit mit uns, 
doch nur soweit wir 
unerledigte Situationen haben. 
Was in der Vergangenheit geschah, 
wurde entweder assimiliert 
und zu einem Teil von uns, 
oder wir tragen es als unerledigte Situation, 
als unvollendete Gestalt 
mit uns herum.“
"Veränderungen finden von alleine statt. 
Wenn wir tiefer in das eindringen, 
was wir sind, 
wenn wir akzeptieren, was da ist, 
kommen die Veränderungen von alleine." 
Fritz Perls *1893-1971 Mitbegründer der  Gestalttherapie

Neulich war ich wieder einmal in einer Einrichtung in einer Nachbarstadt und habe dort einem interessierten Kreis von Mitarbeitern von der NS-Opferbiographie meiner Tante Erna Kronshage berichtet ... Mit Powerpoint-Präsentation saßen wir dazu fast 2 Stunden zusammen.

Infos zu Infos in Wort & Bild - hier clicken - Foto: Antje Strohdeicher 
Oft werde ich gefragt, warum ich die NS-Opferbiographie meiner Tante Erna Kronshage, die ich ja persönlich gar nicht kennenlernen konnte, so intensiv bemühe - und sie so intensiv beforsche ...

Ich habe natürlich versucht, mir das auch selbst zu beantworten - und da das Thema Erna Kronshage in der Familie fast vollständig tabuisiert war, hat es sicherlich etwas mit meiner persönlichen und beruflichen Sozialisation zu tun...               

Ich bin Jahrgang 1947 - verweigerte bei der Bundeswehr den Kriegsdienst mit der Waffe 1969 [!] - machte meinen Zivildienst in Bethel und war ab dann in meiner dem folgenden Berufstätigkeit 40 Jahre sozial- bzw. heilpädagogisch tätig - u.a. fast 20 Jahre in der Heimleitung bei geistig behinderten Menschen - und habe Fortbildungen u.a. in Kreativer Gestaltarbeit (Fritz Perls) abgeschlossen.

Hierbei sind latent auch immer Techniken von Biographiearbeit, Selbsterfahrung, Familientherapie und Familienaufstellung zugegen, von deren individuellen und allgemeinen Nutzen ich gelernt habe, fest überzeugt zu sein.

Insofern gibt es aus meiner Sicht individuell-familiäre und persönliche sowie allgemein-öffentliche - sicherlich letztlich auch prophylaktische - Aspekte, dem tragischen Lebensweg meiner Tante Erna nachzugehen. Ich habe dieses ungeheuerliche Opferschicksal weniger gezielt "gesucht" - als vielmehr allmählich Stück für Stück "gefunden" und so immer offensichtlicher freigelegt - und ich gehe ihm nun seit 1986 - also seit über 30 Jahren - in unterschiedlichen Intensitätsphasen nach ...

Dieses Ausgrenzen und Verschweigen ist nämlich nicht nur ein individuelles und familiäres Verweigerungsverhalten: es ist und bleibt auch ein gesellschaftlich-nationales Phänomen - das bis heute nachwirkt: Alexander und Margarete Mitscherlich haben das zu Genüge belegt in ihrem Werk "Die Unfähigkeit zu trauern" (1967) - nämlich am Beispiel der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands und der unzulänglichen Auseinandersetzung und Bewältigung dieser beschämenden und mörderischen Epoche sowie in der Abwehrhaltung des Einzelnen und der Masse gegenüber Schuld und Mitschuld an politisch bzw. weltanschaulich motivierten Verbrechen und Verstrickungen.

Sozusagen trifft eine "Posttraumatische Belastungsstörung" (Abkürzung: PTBS; englisch: posttraumatic stress disorder, Abkürzung: PTSD) nicht nur Einzelne - sondern kann ganze Gesellschaftsteile erfassen, wenn sie es versäumen, solche traumatischen Geschehnisse wie in der NS-Zeit genügend aufzuarbeiten und zu bewältigen ...

Für mich ist das aktuell auch an solch gesellschaftlichen Phänomenen wie AfD, PEGIDA und die NSU und alle weiteren Schattierungen rechtsradikaler Verirrungen festzumachen ...

Der Zweite Weltkrieg liegt über 70 Jahre zurück. Doch er ist nicht verschwunden. Wie die Forschung heute weiß, lebt er weiter. In den Seelen derer, die ihn miterlebt haben, aber auch noch in vielen Seelen der Nachgeborenen.

Bei Vielen zeigt sich das als 
  • fehlende Verankerung im Leben, 
  • mangelnde Geborgenheit,
  • Burn-out-Syndrom 
  • Gefühlsstörungen oder 
  • verdeckte Schuldgefühle oder
  • "unerklärlichen" Panikattacken 
Aber auch in unerklärlichen körperlichen Schmerzen oder ernsthaften psychischen Krankheiten. Sind wir für immer seelisch verflucht, obwohl die heutigen Generationen doch unschuldig sind?

Natürlich sagt der gesunde Menschenverstand klar: 

Kein Deutscher, der den Krieg als Kind erlebt hat oder erst nach dem Krieg geboren wurde, ist an den deutschen Verbrechen schuld. Und doch sind sie noch da, die subtilen Schuldgefühle. 

Es zeigt sich an vielen Stellen: Zum Beispiel -
  • Wenn auch bei harmlosen politischen Diskussionen verlässlich noch immer zumindest latent die rassistischen oder nationalsozialistischen Argumente aus der Tasche gezogen werden.
  • Wenn verächtlich über die vermeintlich charakteristischen deutschen Eigenschaften wie
  • Gefühlsarmut,
  • Kontrolliertheit,
  • einem Hang zum Negativen oder
  • übersteigerte Angst gespottet wird.
  • Wenn über Migrationsfragen noch immer kaum sachliche Diskussionen geführt werden können.
  • Und der NSU 10 Jahre mitten in Deutschland unerkannt mordet und morden kann ...
  • Und wenn plötzlich viele Tausende "Bürger" in den PEGIDA („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“)-Montagsspaziergängen und die Wahlbereitschaft für die populistisch-rechts daherkommende AfD ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen "Angst" Ausdruck verleihen ...
In Wahrheit sind das alles für mich typische Anzeichen von nicht bewältigten Traumata.

Denn: Nach dem Krieg bekamen die allerwenigsten eine Hilfe, das Grauen zu verarbeiten. Die Traumata unserer Eltern haben uns auf verschiedenen Wegen erreicht. Direkte rigide Erziehungsprinzipien etwa, wie übertriebene äußere Ordnung oder unbewusste Botschaften, zwischen den Zeilen: "Bloß nicht auffallen" oder "Ein zufriedenes erfülltes Leben steht uns (noch) nicht zu"...
Typische 68-er Bildikone - die mich zumindest prägte ...
Gesellschaftlich hat dann im Westen nach meinem Erleben die 68-er "Revolution" zu einer gewissen Entlastung geführt - mit dem teilweise kollektiven Aufstand und dem "Abrechnen" gegen die Eltern- und Tätergenerationen und gegen die alten NS-Seilschaften. Diese Entlastung in diesem Sinne blieb dem Osten Deutschlands verwehrt - ohne dass ich damit die Ex-DDR sozial diskreditieren will - aber vor lauter "Solidarität" wurden vielleicht die notwendigen psychohygienischen Grenzziehungen im zwischenmenschlichen Bereich vermieden. 
Fataler und"immer weitreichender" sind aber individuelle innerpsychische Abläufe: die Wirkung der Spiegelneuronen im Gehirn. Ob die Eltern traumatisiert wurden oder das Kind selbst – für dieses betreffende Kind ist es das gleiche Gefühl. Denn das kindliche Gehirn erlebt ja Bilder und Gefühle der Eltern und gerade auch verdrängte Erlebnisse wie seine eigene Erfahrung. Oder die Reinszierungstendenzen etwa einer Mutter, die als Säugling allein gelassen wurde: sie tut dies nicht selten unbewusst bei ihrem eigenen Kind genauso. Mittlerweile weiß man, dass sich bei traumatisierten Menschen häufig sogar die Schaltstellen der DNA verändern, Traumata können also tatsächlich buchstäblich vererbt werden.

Ein weiteres Phänomen greift deshalb immer mehr Platz: Ein Phänomen, das die Psychoanalyse "Transgenerationale Weitergabe" von unverarbeiteten oder ungenügend verarbeiteten Kriegserlebnissen nennt. Auch die Kinder und die Enkel und Urenkel - also ganz biblisch ausgedrückt: tatsächlich "bis ins 3. und 4. Glied" - "leiden" oft genug noch unbewusst an den oft furchtbaren Traumata-Gefühlen, die der Bombenkrieg, die Vertreibung, der Nazi-Holocaust oder eben auch die von Nazis und der NS-Psychiatrie zu verantwortende Vernichtung "unwerten Lebens" mit all ihren Gräueltaten mit sich bringen ...: 

Oft sind das Nuancen, 
  • ein unbewusstes Schaudern oder 
  • eine Unfähigkeit - 
  • Ängste, die bei besonderen Situationen plötzlich "wie aus dem Nichts" kommen, 
  • eigenartige Traumsequenzen usw. -

Das vererbte Leiden, die Traumata-Weitergabe zwischen den Generationen durch (üb)erlebte Kriege, Terroranschläge, Gewalterfahrungen, Flucht und Vertreibung, Katastrophen - sie lösen über Generationen hinweg oftmals traumatische Erfahrungen aus, die die Betroffenen ein Lebenlang belasten können.

Und deshalb ist für mich eine Auseinandersetzung mit dem Opferschicksal meiner Tante Erna Kronshage und ein Aufdecken all der Fakten, die von Familie und Elterngeneration in oft vergeblichen Abspaltungs-Versuchen unbearbeitet verschüttet werden soll(t)en, eine wichtige - und in gewisser Weise sicher auch "selbst-therapeutische", psychohygienische Aufgabe, die mich immer wieder umtreibt ...

Und insofern ist das "Verraten" und Aufarbeiten traumatischer Familiengeheimnisse eine der Möglichkeiten, sich vor dem biblisch-alttestamentlichen "Fluch" einer Schuld "bis in die dritte und vierte Generation" (Exodus - Kap. 20) vielleicht erfolgreich zu schützen ...


Und da Du - verehrte Leserin - verehrter Leser - ja sowieso das hier Gelesene mit Deinem persönlichen Kontext abgleichst - mögen Dich diese Zeilen anregen, Deinen Familien-Annalen nachzuspüren ... - vergelt's Gott - denn Du weißt ja: "Denn alle Gesetze werden in einem Wort erfüllt, in dem: "Liebe deinen Nächsten ... [und - jetzt kommt's:...] ... wie Dich selbst!" Galater 5.14 [also wie Du Dich selbst zu lieben vermagst ... - und das wiederum hat mit Deiner Familiengeschichte zu tun ... - ganz bestimmt ...]


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